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Die Schlacht um den Rosettastein: Diebe gegen Diebe
ОглавлениеEs ist kein mächtiger Fluss mehr, der an dieser Stelle in das Meer mündet, sondern ein gezügelter, überbeanspruchter und bescheidener Kanal, aus dem das Wasser kraftlos ins Meer fließt. Der Rosettafluss, oder Rashidfluss, durchquert das Zentrum der gleichnamigen Stadt, und auf ihm schwimmen dabei Tausende und Abertausende Plastikflaschen, die im Schatten einer gemauerten Promenade mit einer von Palmen gesäumten Allee umherdümpeln. Einige grün gestrichene Fischerboote kreuzen hier und da auf dem Fluss auf der Jagd nach den wenigen Fischen, die in diesem schmutzigen und verunreinigten Wasser noch immer leben; die Fischer, die mich in ihrem Boot mitgenommen haben, klagen über den immer schlechter werdenden Fischfang. Der Himmel über der Mündung dieses Nilarms an diesem frühen Morgen ist wie fast immer so transparent, so klar, dass man glauben könnte, an diesem Ort tiefer als irgendwo sonst auf der Welt in den Himmel blicken zu können. Doch ich befinde mich hier wegen des Steins, der die Stadt berühmt gemacht hat.
Rosetta, oder Rashid, wie die Stadt unter der Herrschaft der Abbasiden-Kalifen bezeichnet wurde, galt lange als wichtigster Hafen Ägyptens, insbesondere in der Zeit, als Alexandria vernachlässigt wurde. Die heutige Stadt entstand aus einer Festung, die im 9. Jahrhundert n. Chr. an der Stelle des alten ptolemäischen Bolbitine errichtet wurde. Der Feldzug Napoleons sollte die Stadt weltberühmt machen – doch weder als Schlachtfeld noch als Handelszentrum, sondern als den Ort, wo die Franzosen einen Stein von enormer weltgeschichtlicher Bedeutung fanden, einen Stein, der über Generationen hinweg vom Schlamm des Nils überdeckt worden war.
Mitte Juli 1799, als Napoleons Soldaten das ein paar Kilometer nordöstlich der Hafenstadt liegende Fort Julien verstärkten, entdeckten sie diesen Stein, der mit zahlreichen, sich voneinander unterscheidenden Schriftzeichen bedeckt war. Die Soldaten begriffen, dass es sich um einen wertvollen Beitrag zu Napoleons kultureller Expedition handeln könnte, und verständigten General Menou. Parallel dazu wurde der Fund auch dem kurz zuvor gegründeten Institut d’Égypte gemeldet. Und abermals demonstrierte Napoleon sein Interesse an der Geschichte Ägyptens: Der Krieger unter den Kriegern untersuchte den Stein höchstpersönlich, ehe er im August 1799 nach Frankreich zurückfuhr.
Seine Soldaten hatten gefunden, was später als der Rosettastein bekannt werden sollte. Dieser Stein maß 114,4 cm an seiner höchsten, 72,3 cm an seiner längsten und 27,9 cm an seiner breitesten Stelle und wog 760 Kilogramm. Seine geradezu revolutionäre Bedeutung im ewigen Versuch des Menschen, seine Vergangenheit zu verstehen, erhielt der Stein durch die Texte, die mit drei verschiedenen Schriftzeichen in ihn gemeißelt worden waren: alte ägyptische Hieroglyphen, ägyptisch demotische Schrift sowie altgriechische Buchstaben. Der Stein machte es somit zum ersten Mal möglich, den Code für das Verständnis der Hieroglyphen zu knacken. Durch den Stein bekam der moderne Mensch Zugang zu Gedankenwelt, Kultur und ökonomischem System der alten Ägypter. Die Geschichte des Niltals war mit einem Mal mehrere Tausend Jahre in die Vergangenheit zurückreichend greifbar geworden.
Der Stein ist allerdings nicht mehr in Ägypten, sondern befindet sich seit 1802 in London. Diese Tatsache ist für sich bereits ein beredtes Beispiel für die Rivalität der Großmächte um Ägypten, wobei in diesem Fall die Deutungshoheit über die Geschichte des Niltals der Zankapfel war.
Nach Napoleons Rückkehr nach Paris führten die französischen Truppen ihren Verteidigungskampf gegen den britisch-osmanischen Angriff noch 18 Monate fort. Doch im März 1801 landeten neue britische Truppen in der Bucht von Abukir nahe Rashid. General Menou und seine Soldaten, einschließlich der wissenschaftlichen Kommission, marschierten an die Küste des Mittelmeers, um sich dem Feind zu stellen. Sie hatten Kriegsbeute bei sich, darunter den Stein und verschiedene Antiquitäten. Die Franzosen konnten sich gegen die Briten nicht behaupten und verloren die Schlacht. Menou und die Überreste seiner Armee zogen sich nach Alexandria zurück und kapitulierten am 30. August 1801.
Nun entstand ein Streit darüber, wem der Stein und die anderen Antiken gehörten; eine Uneinigkeit, die ungeheure Bedeutung erlangt, wenn man nach der Macht strebt, die mit der Herrschaft über die Interpretation der Vergangenheit verbunden ist.
Menou weigerte sich, die Antiken herauszugeben, und betonte, sie gehörten dem französischen Institut. Doch der britische General wollte die Stadt nicht verlassen, ehe der Franzose den Stein an die Briten aushändigte. Beide Nationen begriffen den Wert der Macht, die in der Kontrolle über die Symbole der Vergangenheit und in der Dominanz über die Interpretation der Geschichte lagen, weswegen auch die Briten Forscher in das Niltal schickten. Edward Daniel Clarke und William Richard Hamilton sollten die französischen Sammlungen dahin gehend untersuchen, ob die Franzosen etwas zurückhielten. Als militärischer Sieger bestand der britische General John Hely-Hutchinson darauf, dass alle Antiken Eigentum der Britischen Krone seien. Einer der französischen Forscher erwiderte, man werde eher alles verbrennen als es den Briten zu überlassen. In einem letzten verzweifelten Versuch insistierte Menou darauf, dass der Stein als sein privates Eigentum betrachtet werden müsse. Die Briten wiesen seine Forderung erwartungsgemäß zurück. Letztlich mussten die Franzosen auch in diesem Punkt nachgeben, die Herausgabe der Antiken wurde Bestandteil der »Kapitulation von Alexandria«.
Edward Daniel Clarke berichtete später, ein französischer Offizier habe ihn und zwei weitere Briten in aller Heimlichkeit in die Gassen hinter Menous Residenz geführt und enthüllt, wo der General den Stein versteckte. Nachdem der französische Offizier seinen Vorgesetzten verraten hatte, wurde der Stein zum Hafen geschleppt und an Bord eines Schiffs gebracht, das ihn nach Portsmouth transportierte, wo er im Februar 1802 ankam. Der Befehl lautete, ihn König Georg III. zu überreichen. Der König ordnete an, dass der Stein im Britischen Museum untergebracht werden solle, wo er sich noch heute befindet. Der Stein war also britisch geworden, die Hieroglyphen jedoch wurden zum großen Ärger der Briten zwei Jahrzehnte später von einem Franzosen entziffert. Ein junges Sprachgenie, Jean-François Champollion, hatte eine Papierkopie der Inschrift erhalten und knackte den Code. Anfangs allerdings stieß er bei seinen Landsleuten mit seinen Forschungsergebnissen auf große Skepsis, Mitglieder der Akademie zweifelten die Übersetzungen an.
»Die Schlacht um den Nil« besiegelte also neben vielen anderen Dingen auch das Schicksal eines Steines, der Hunderte von Jahren im Schlamm des Nils geschlummert hatte, nun aber dazu diente, einen großen und zentralen Teil der Frühgeschichte des Nils und der Menschheit zurückzuerobern.