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Der norwegische Langläufer, der auf dem Weg zur Nilquelle umkam

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Im Januar 1843 haben die ägyptischen Bauern im südlichen Delta vielleicht, wenn sie kurz in der Arbeit auf ihrem kleinen Stück Land innehielten und den Blick hoben, einen Mann erblicken können, der in gleichmäßigem, schnellem Tempo entlang des lebensspendenden Korridors zwischen Europa und Afrika gen Süden lief, während die Sonne auf ihn niederschien.

Es war ein weißer Mann, Mensen Ernst, einer der berühmtesten Langstreckenläufer seiner Zeit. Geboren als Mons Monsen Øyri war er in dem kleinen Ort Fresvik im tiefsten Innern des Sognefjords an der norwegischen Westküste aufgewachsen. Inzwischen kannte man ihn auf der ganzen Welt, denn er war von Paris nach Moskau und von Istanbul nach Delhi gelaufen. Einem 1879 erschienenen Artikel der New York Times zufolge hatte er sich bei seinen Läufen ausschließlich von Gebäck und Marmelade ernährt, geschlafen oder pausiert habe er im Stehen an einen Baum gelehnt, mit einem über dem Gesicht ausgebreiteten Tuch.

Der deutsche Gartenschöpfer, Schriftsteller und Abenteurer Hermann von Pückler-Muskau hatte Mensen Ernst 1842 gefragt, ob er den Versuch unternehmen wolle, die Quellen des Nils zu finden. Pückler-Muskau erklärte sich bereit, alle Kosten der Expedition zu übernehmen und den Norweger bei Erfolg zusätzlich reich zu belohnen. Noch im selben Jahr startete Mensen Ernst den Lauf seines Lebens. In 30 Tagen legte er die Strecke von Schloss Muskau an der Neiße durch das Osmanische Reich nach Jerusalem zurück. Von dort rannte er weiter bis Kairo, um von dort dem Nil bis zu seiner Quelle zu folgen. Dieser arme Mann aus einem armen Winkel eines zu jener Zeit armen Randgebiets Europas war angetreten, das größte aller geografischen Rätsel zu lösen – jenes, das schon Alexander den Großen, Cäsar, Napoleon und Generationen von Ägyptern beschäftigt hatte. Sollte es Mensen Ernst nun gelingen herauszufinden, woran es lag, dass das Wasser jeden Herbst unter wolkenfreiem Himmel und bei allerwärmstem Klima unverständlicherweise die Äcker überschwemmte? Sollte diesem einsamen Läufer etwas gelingen, das den Legionen des Römischen Reichs nicht gelungen war? Sollte der arme Mann vom inneren Sognefjord das Rätsel lösen, auf dessen Untersuchung schon Herodot so viel Zeit verwendet hatte?

Der Januar war so weit nördlich ein recht kühler Monat, und so dürfte Mensen Ernst optimistisch gestimmt gewesen sein, als er Kairo im Laufschritt hinter sich ließ. Er passierte Luxor mit dem Karnak-Tempel am östlichen Ufer, kam dann jedoch nicht weiter als bis Assuan. Dort starb er. Als mögliche Todesursache wurden Hitze und Durst angeführt, aber das ist zu dieser Jahreszeit unwahrscheinlich. Höchstwahrscheinlich war es irgendeine Form von Ruhr, die ihn an jenem Januartag 1843 für immer aus dem Rennen warf. Mensen Ernst wurde einige Tage später von europäischen Touristen tot im Sand aufgefunden. Nun liegt sein Grab vermutlich irgendwo in den Fluten des Assuanstausees, für immer unter jenem Wasser verborgen, dessen Quelle zu finden er ausgezogen war.

Mensen Ernsts Lauf muss als sowohl grandioses als auch klägliches Beispiel für Hybris oder Fahrlässigkeit gelten. Er scheiterte, bevor die echten Schwierigkeiten überhaupt begannen. Man stelle sich vor: ein Mann, der allein durch die Nubische Wüste läuft, durch die Sümpfe im Südsudan voller Malaria und Krokodile, über die Savanne mit Löwen und Schlangen und Bewohnern, die Fremden inzwischen mit Skepsis begegneten. Mensen Ernsts Expedition war die vermutlich am schlechtesten geplante aller Zeiten. Ein Seemann vom Sognefjord auf dem Weg ins Innere Afrikas, mit etwas Gebäck und Marmelade als Proviant – und ohne Gewehr.


Mensen Ernst oder Mons Monsen Øyri vom Sognefjord – der große internationale Langstreckenläufer des 19. Jahrhunderts – wollte so lange den Fluss entlanglaufen, bis er auf die Quellen stieß. Lithografie von Wilhelm Sander, 1816/1836.

Seinem deutschen Biografen zufolge war Mensen Ernsts Motto: »Bewegung ist Leben, Stillstand der Tod.« Ein vielsagender Kommentar zu einem Leben, das während des Laufs an den Ufern des Nils auf dem Weg ins Unbekannte endete.

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