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Gustave Flaubert und Henrik Ibsen »von Kairo den Nil hinauf«

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Victor Hugos Bonmot von 1829, nun seien alle Europäer Orientalisten, sollte nicht bloß als Ausdruck einer einheitlichen Denkweise aufgefasst werden, die darauf abzielte, die muslimischen Länder zu unterdrücken. Es war auch mehr als eine neue Form der Heuchelei, in der das Laster nun die Tugend lobt, vielmehr klingt in seinen Worten auch eine neue Art von Wissbegier durch. Dieses Interesse und diese Begeisterung für den Orient drückten sich unter anderem darin aus, dass Ägypten im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem immer wichtigeren Reiseziel für europäische Intellektuelle wurde. Zwei der vielen, die dieses Land bereisten, waren der Franzose Gustave Flaubert und sein norwegischer Kollege Henrik Ibsen.

Nach einer stürmischen Überfahrt von Marseille traf der damals 28-jährige Flaubert 1849 in Ägypten ein. Er besichtigte die Große Sphinx, die koptische Kathedrale in der Kairoer Altstadt, er sah Gaukler, Akrobaten und Schlangenbeschwörer; er begegnete Prostituierten, und er blickte auf den Nil, natürlich, den er als gelb und voller Erde beschrieb. Er reiste nach Luxor, Theben und Karnak, und seiner Mutter berichtete er, überall scheine es halb im Sand versunkene Tempel zu geben.

Flaubert war einerseits bewegt oder erregt vom Chaos, denn er war ja gerade auf der Flucht vor dem langweiligen, bürgerlichen, oberflächlichen, »allzu ordentlichen« Frankreich. Andererseits musste er in allem, was er nicht begriff, Ordnung schaffen, um überhaupt über das Gesehene reflektieren oder darüber schreiben zu können. Von einem rein philosophischen und existenziellen Standpunkt aus meinte er, »Ordnung« enthalte eine verdammende und prüde Einstellung der conditio humana gegenüber, sie wirke der Offenheit und der Abschaffung von Rigidität und Regeln entgegen, die der Mensch anstreben sollte. Aber indem er die Macht der Perspektive als einen Prozess beschrieb, der ihm aufgezwungen wurde, statt sich einfach ihren dominierenden Konventionen zu unterwerfen, konnte er die Distanz aufrechterhalten. In einem Brief aus Kairo schrieb er 1850:

Da wären wir nun in Ägypten. … Vorläufig habe ich die erste Verwirrung noch nicht überwunden … jede Einzelheit droht, die Hand auszustrecken und dich zu packen; und je mehr du dich darauf konzentrierst, um so weniger bekommst du die Ganzheit zu fassen. Dann wird nach und nach alles harmonischer, und die Teile fügen sich von selbst zusammen, entsprechend den Gesetzen der Perspektive. Aber die ersten Tage, großer Gott, da herrscht so ein verwirrendes Chaos von Farben.39

Flauberts Sicht auf Ägypten war beeinflusst von dem grundlegenden, unausweichlichen und allgegenwärtigen Dualismus in der ägyptischen Gesellschaft – Tod und Leben, Wüste und Fluss. Er war fasziniert von dem, was er für die ägyptische Fähigkeit hielt, die Dualitäten des Lebens zu akzeptieren, die er beschrieb als Schmutz-Geist, Sexualität-Reinheit, Wahnsinn-Gesundheit. Er fand es großartig, dass die Leute in den Restaurants ganz offen rülpsten, er umgeben war von »einem Esel, der kackte, und einem Herrn, der in eine Ecke pisste«. Und ein sechs oder sieben Jahre alter Knabe rief, als er in Kairo auf der Straße an Flaubert vorbeikam: »Ich wünsche Ihnen Glück und Zufriedenheit, vor allem aber einen großen Schwanz.«

Flaubert fuhr 1850 mit einer Fellucke – dem traditionellen Segelboot, das in Oberägypten noch immer zu sehen ist – nilauf und beschrieb, wie das Leben auf dem Fluss die Entwicklung an demselben widerspiegelte. Er notierte, dass elf von den vierzehn Besatzungsmitgliedern der rechte Zeigefinger fehlte. Sie hatten sich, wie viele andere, den Abzugsfinger abgehackt, um nicht in Muhammad Alis Heer eingezogen zu werden. Flaubert erzählte ebenfalls von den alten Afrikanerinnen, die ihm auf dem Boot begegneten:

Auf allen diesen Booten gibt es unter den Frauen alte Negerinnen, die eine Fahrt nach der anderen unternehmen; sie sind hier, um die neuen Sklaven zu trösten und moralisch zu unterstützen; sie lehren dieselben, sich ihrem Schicksal zu ergeben, und sie fungieren als Dolmetscherinnen zwischen ihnen und dem Sklavenhändler, einem Araber.

So fasste er die Situation im Land zusammen: Ägypten sei ein Land, in dem die mit sauberen Kleidern die mit schmutzigen Kleidern prügelten.

Flauberts Schriften erinnern an klassische »orientalistische« Texte, insofern, als sie Dinge, die dem Autor als exotisch und fremd erschienen, auf eine oftmals exotisierende Weise schildern. Und es kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass Flauberts Beobachtungen ihre Kraft dadurch gewinnen, dass sie auf einem deutlich akzentuierten Unterschied zwischen Frankreich und Ägypten beruhen. Ägypten wird als Frankreichs Gegenpol interessant. Für Flaubert war Frankreich aber nicht einfach das Modell oder Ideal, an dem er Ägypten maß. In seiner Heimat war er ein ziemlich isolierter Intellektueller, der sich vielen der damaligen Trends und dem Lebensstil des Bürgertums widersetzte. Dieser Dualismus in seiner Beziehung zu Frankreich zeigt sich auch darin, wie er Ägypten beschrieb. Deshalb ist es schwierig und ungerecht, ihn als eine Art Werkzeug des europäischen Expansionismus zu betrachten oder als hervorstechenden Vertreter einer intellektuellen Tradition, die eine totale Kontrolle des Orients anstrebte, und sei sie nur latent. Gewiss, er nutzte seine Stellung gegenüber weiblichen und männlichen Prostituierten in Ägypten aus, und ihm war klar, dass Privilegien im Umgang mit Ägyptern auf Macht beruhten. Er verwendete Begriffe und Argumente, die im Rückblick als abwertend erscheinen. Aber Flauberts Begeisterung für das Land am Nil erscheint als ehrlich und sogar leidenschaftlich, obwohl sie auch eine Fantasie war, geschaffen eben als Alternative zu seiner Heimat, die er verabscheute. Nach einiger Zeit schrieb er: »Die ägyptischen Tempel langweilen mich fürchterlich. Wird das ebenso sein wie mit den Kirchen in der Bretagne, den Wasserfällen in den Pyrenäen? Immer dieser Zwang!«

Europa verfolgte ihn; er versuchte, der Torheit der französischen Bourgeoisie zu entgehen, was ihm jedoch nicht gelang. Er suchte in Ägypten das, was er in Frankreich nicht fand – aber haben wollte. Das Ägypten, von dem er besessen war, war deshalb weniger das reale Ägypten, sondern sein Bild davon und die Bedeutung, die es für sein Lebensprojekt hatte.

Etwa 20 Jahre später machte Henrik Ibsen eine ganz andere Art von Reise. Er, der messerscharfe Analytiker des bürgerlichen Lebens im neuen, nun heranwachsenden Europa, reiste zusammen mit Königen, Kaiserinnen und anderen Würdenträgern nach Ägypten, um an der offiziellen Eröffnung des Suezkanals am 17. November 1869 teilzunehmen. Im Sommer dieses Jahres hatte Ibsen Schweden besucht und sich als einer der größten Autoren Nordeuropas feiern lassen. Er wurde König Carl XV. vorgestellt, der ihn fragte, ob er als schwedisch-norwegischer Repräsentant der Eröffnung des Suezkanals beiwohnen wolle. Ibsen sagte zu.

Und hier war er nun! Die Einweihung des Kanals wurde einen Monat lang heftig gefeiert. Tausende von ausländischen Gästen nahmen an den Feierlichkeiten teil. Der ägyptische Khedive lud zu Reisen, Ausflügen und Festmählern ein. Die meisten Biografen Ibsens meinen, diese Reise habe einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen, und es ist eine interessante Facette der norwegischen Literaturgeschichte, dass Peer Gynt, vielleicht das bekannteste Nationalepos des Landes, etliche Passagen seiner Handlung von den Ufern des Nils bezog.

Ibsen war schon lange, ehe er einen Fuß auf ägyptischen Boden gesetzt hatte, von der Geschichte dieses Landes fasziniert gewesen. Aus Anlass des norwegischen Nationalfeiertags 1855, also sechs Jahre, nachdem Gustave Flaubert in Alexandria an Land gegangen und die englische Krankenpflegerin Florence Nightingale auf einem Schiff den Nil hinaufgefahren war und ihrer Mutter vielsagende und malerische Briefe geschrieben hatte, verfasste Ibsen ein Gedicht, in dem Freiheit das zentrale Thema bildete. Hier erschien Ägypten als Inbegriff einer Gesellschaft in Stillstand und Unfreiheit, Ägypten erschien geradezu als Norwegens Gegensatz. Die Memnon-Statue, die im heutigen Ägypten noch immer bei Luxor aufragt, »ein Bild aus Granit im Morgenland«, war für ihn die eigentliche Metapher oder das Bild dafür, dass Freiheit eher Taten als Worte erforderte. Die Statue starrte ihn an mit »seelenlosem Blick zum Himmelsrand des Morgenlands. So stand sie Jahr um Jahr in trägem Traume …«

Als Ibsen vier Jahre später ein Spottgedicht auf einen Autor schrieb, der Dänisch als Bühnensprache in Norwegen verteidigt hatte, führte er die ägyptische Geschichte gegen ihn ins Feld. Ibsen hielt die Vorstellung des Kollegen, die Sprache der ehemaligen Herren über Norwegen weiterhin zu nutzen, für tot wie Steine, längst verworfen von der Entwicklung. Zusätzliche Munition für seinen Angriff holte er, indem er seinen altmodischen Widersacher mit dem Verknöchertsten und Konservativsten verglich, das er sich nur denken konnte, nämlich Ägypten. Die einbalsamierte Leiche »lag so stolz in ihrem versteinerten Leichentuche«, ja, »sie hatte vergessen, wie schön die Sonne funkeln kann«, deshalb: »Ein bitter Lächeln wohl der Mumie Mund umspiele, mit Spott für die Zeit, denn die steht nicht stille.«

Ibsen war zu diesem Zeitpunkt noch nie am Nil gewesen. Es muss deshalb gestattet sein, seinen Gebrauch von Metaphern dahin gehend zu deuten, dass er von einer allgemeinen europäischen Denkweise jener Zeit beeinflusst war. Vielleicht hatte ihn hier auch Georg Friedrich Hegel inspiriert, denn dieser Philosoph griff in seiner Kunst- und Geschichtsphilosophie ausgiebig auf religiöse und künstlerische Symbolik aus der ägyptischen Antike zurück. Aber dieses Bild war komplexer, wie sich nun zeigen wird. In Peer Gynt beschreibt Ibsen beispielsweise Peers Verwirrung im Angesicht der Sphinx:

Doch dieser seltsame Kreuzungsversuch, / dieser Wechselbalg, beides, so Löwe wie Weib, – / Hab’ ich den auch aus einem Märchenbuch? / Oder sah ich schon einmal solch einen Leib? / Ein Märchenspuk? Ha, jetzt beginnts mir’s zu tagen! / Das ist ja der Krumme, den ich einstens erschlagen.

Die Sphinx steht also nicht für das versteinerte Ägypten, sondern für norwegische Märchen; der Krumme und die Sphinx sprechen Deutsch mit Berliner Akzent. Statt das »Fremde« oder das »Andere« oder das »Versteinerte« zu repräsentieren, sind sie ein Bild von etwas Europäischem und Norwegischem.

Im Rahmen seines Auftrags für den schwedischen König und vor dem Eröffnungsfest nahm Ibsen teil an einer Reise den Nil entlang zur Nubischen Wüste an der Grenze zum heutigen Sudan. Er fuhr zusammen mit 85 weiteren Gästen des ägyptischen Khediven; 24 Tage dauerte die Expedition. Ibsen wollte eigentlich einen Reisebericht darüber veröffentlichen, doch daraus wurde niemals etwas. 1870 schrieb er indessen unter dem geheimnisvollen Titel »Ballonbrief an eine schwedische Dame« ein längeres geschichtsphilosophisches Gedicht, in dem er auf eine Reise eingeht: »Von Kairo nilauf flogen wir auf einer Fellucke wie ein Pfeil.« Hier sah er die Memnonstatue, »den Steinkoloss, der, wie Sie wissen, ein Stück gesungen«. Und er sah Luxor, Dendera, Sakkara, Edfu, Assuan und Phile, wie viele andere Reisende bis heute.

In seinem Gedicht geht Ibsen auf die großen Linien in der Kulturentwicklung der Welt ein, gedeutet innerhalb einer idealistischen Auffassung, in der Leben dem Tod gegenübergestellt wird, Stillstand der Entwicklung. Der Kampf wird dargestellt durch Bilder aus der ägyptischen, griechischen und altnordischen Mythologie, und Ägypten steht für Tod und Stillstand.

Siehe, es kam ein Windhauch von Norden her / … Der Pharao samt seinem Hause / Vergraben im Sand des Vergessens. / Dort, wo das Heer ihn hingetragen / Fiel er leblos, stumm und leer, / tausend Jahr in Sarkophagen / fern vom Licht an allen Tagen. …

Doch was war’n Ägyptens Götter? / Zählt sie nur, ihr heut’gen Spötter, / Doch was war ihr Lebenszweck? / Einfach nur Vorhandensein, / gemalt, erstarrt in ihrem Eck, / auf ihrem Stuhl im Feuerschein. …

Keiner hört’ den Ruf zum Leben, / Keiner durfte suchen, sünden, / aus der Sünd’ sich dann erheben, / und muss deshalb heute künden / wie Ägypten vor viertausend Jahren / namenlos ins Grab musst’ fahren.

Dieses Gedicht erklärte Ägyptens Entwicklung durch dessen Kultur beziehungsweise die Werte der Pharaonen. Sie hatten den »Ruf« nicht vernommen, also den Drang zur Erneuerung; deshalb war das Land erstarrt. Ibsens Vorstellungen stimmten überein mit dem modernisierenden europäischen Blick des 19. Jahrhunderts auf den Orient.

Eine solche Perspektive, welche die zeitgenössische kulturelle Selbstsicherheit in einem industrialisierten und triumphierenden Europa widerspiegelte, übersah Ägyptens spezifische Entwicklungshindernisse und konnte sich mit ihnen deshalb auch nicht beschäftigen. Dieselben natürlichen Merkmale des Nils, die zu einem Zeitpunkt, als die Europäer vielfach noch in Höhlen und in primitiven Jäger- und Sammlergesellschaften lebten, eine blühende pharaonische Zivilisation ermöglicht hatten, erschwerten es dem modernen Ägypten nun im 19. Jahrhundert, sich technologisch zu entwickeln – oder machten es sogar unmöglich. Während das moderne Wasserrad in mehreren europäischen Ländern zuerst Ernährung und Landwirtschaft und danach die Produktionstechnologie in Eisen- und Textilindustrie revolutionierte, war dies in Ägypten aufgrund des schwankenden Wasserpegels des Nils unmöglich. Gesellschaftsstruktur und -ökonomie mussten sich weiterhin dem natürlichen Flusslauf des Nils anpassen. Der Grund dafür war also nicht einfach die »Mentalität« der Ägypter, wie Ibsen meinte. Vielmehr stand ihnen die Technologie nicht zur Verfügung, die nötig gewesen wäre, um den Nil als Energiequelle zu nutzen und Ägypten damit auf einen Modernisierungskurs zu bringen. Es gab keine anderen Flüsse oder Bäche, auf die man hätte zurückgreifen können, während es beispielsweise in Norwegen Zehntausende von Flüssen und Bächen gab, die das ganze Jahr über mit ausreichender Fallhöhe Wasserräder antreiben konnten.

Was Ibsen in seinen Beschreibungen Ägyptens und überhaupt in seinem schriftstellerischen Werk beschäftigte, waren Mentalitäten, Denkweisen und Konventionen. Geografische Kontexte oder Strukturen fanden in seinem Geschichtsbild keinen zentralen Platz. Dabei war er in Skien geboren worden, einer Stadt, deren Geschichte die Grenzen jener Theorie über den historischen Wandel und die Bedingungen für die Entwicklung aufzeigt, die Ibsen beeinflusst hatte. Skien wurde im 19. Jahrhundert ein Bestandteil der modernen europäischen Wirtschaft – allerdings nicht, weil die Bürger der Stadt im Laufe der Jahrhunderte eine besondere Mentalität entwickelt hätten, sondern weil mitten durch die Stadt ein Fluss strömte, auf dem sich Holz aus den großen Wäldern von Telemark transportieren ließ und der als Energiequelle für Sägewerke, Mühlen und Fabriken genutzt werden konnte. Da Ibsen – wie es in der Epoche der industriellen Revolution üblich war – die unterschiedlichen Möglichkeiten ignorierte, die sich durch die verschiedenen Gewässersysteme in Norwegen und Ägypten ergaben, erklärte er schließlich die gesellschaftlichen Unterschiede mit den unterschiedlichen Mentalitäten der Menschen im jeweiligen Land.

Als Victor Hugo nach Napoleons erfolglosem Ägyptenfeldzug schrieb, »wir alle« seien Orientalisten, und als europäische Autoren wie Gustave Flaubert und Henrik Ibsen später Ägypten besuchten, erweiterte dies somit zwar die Kenntnisse. Das Verständnis für die Geschichte des Landes aber blieb begrenzt und wurde durch die internationalen Machtverhältnisse sowie die unter den Reisenden vorherrschenden Denkweisen beeinflusst. Obwohl Edward Saids Analyse also zu pauschal war, zeigte er dennoch einen wichtigen Aspekt der europäischen Geistesgeschichte auf.

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