Читать книгу Der Nil - Terje Tvedt - Страница 35

Konservative Kolonialisten als Vortrupp der Revolution

Оглавление

Nachdem die Briten 1882 die Macht in Ägypten übernahmen, das offiziell weiterhin zum Osmanischen Reichs gehörte, taten sie dies hauptsächlich, um Londons Kontrolle über den Suezkanal zu sichern. Sie erkannten aber auch schnell, dass die Stabilität ihrer Herrschaft von der weiteren Entwicklung des Landes abhing und es dafür in erster Linie darauf ankam, den Nil zu kontrollieren.50

Wie um zu betonen, dass sie nun einen Flussstaat regierten, richteten sie ihr Hauptquartier in Zamalek im Norden der Insel Gezira ein, nicht weit entfernt von den Parkanlagen, die der Khedive Ismail zwei Jahrzehnte früher hatte anlegen lassen. Hier trafen sie sich, um Tee oder Gin zu trinken und Konversation zu betreiben. Im Zentrum des sozialen Lebens der britischen Kolonie stand der Gezira Sporting Club, wo sie Golf, Polo, Squash und Tennis spielten. Wo auch immer sie sich auf der Insel bewegten, von überall aus konnten sie den Nil sehen, immer wieder wurden sie an den Fluss erinnert. Ihr Landsmann Percy Bysshe Shelley hatte bereits einige Jahrzehnte zuvor ein Sonett an den Nil geschrieben, das ihnen bekannt war:

O’er Egypt’s land of memory floods are level. / And they are thine, O Nile! And well thou knowest / The soul-sustaining airs and blasts of evil, / And fruits, and poisons spring where’er thou flowest.

Die Fluten über Ägyptens Land der Erinnerung sind eben. / Oh, Nil, sie sind die deinigen! Und du kennst gut / Die Winde und Böen des Bösen, welche die Seele stützen, / Und Früchte und Gifte entspringen überall, wo du fließt.

Wenn das Land jemals imstande sein sollte, seine Schulden an die europäischen Banken zurückzuzahlen, und wenn die Besetzung Ägyptens britischen ökonomischen Interessen dazu dienen sollte, musste für einen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes gesorgt werden. Die ägyptischen Auslandsschulden beliefen sich auf die schwindelerregende Summe von 100 Millionen Pfund; die jährlichen Ratenzahlungen betrugen fünf Millionen Pfund, von denen der Hauptteil nach Großbritannien floss. Ägypten konnte dieses Geld nur auf eine Weise aufbringen: durch die weitere Entwicklung der Landwirtschaft. London setzte auf Baumwolle. Baumwolle brachte die höchsten Erträge, außerdem würde der Anbau die Produktion von Nahrungsmitteln nicht beeinträchtigen, da Baumwolle im Sommer gepflanzt wurde, Weizen und andere Getreidearten dagegen im Winter. Nicht nur die britischen Banken waren am Aufbau einer ägyptischen Baumwollwirtschaft interessiert, sondern auch die Textilindustrie in Lancashire. Sie brauchte dringend gutes und billiges Rohmaterial; nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg war Ägypten in dieser Hinsicht noch interessanter geworden. Daraus ergab sich eine zwingende Logik: Da Baumwolle eine Pflanze war, die am besten im Sommer wuchs, wenn der Wasserstand im Nil am niedrigsten war, mussten die jahreszeitlichen Pegelschwankungen ausgeglichen werden – und das in wachsendem Ausmaß. In politischer Hinsicht strebte Großbritannien deshalb eine immer stärkere und schließlich auch militärische Kontrolle über den Nil an.

In Analysen und Berichten über die Vergangenheit ist es unerlässlich, die Strukturen, die zum Erhalt der alten Ordnung beitragen, ebenso zu verstehen wie die Mechanismen, die zu radikalen Veränderungen führen und neue Strukturen entstehen und sich entwickeln lassen. Zugleich ist eine subjektlose Geschichte ebenso wenig fruchtbar wie ein Geschichtsverständnis, das sich nur für die Rolle von Einzelpersonen interessiert. Wir müssen die Überlegungen der Urheber dieser Veränderungen untersuchen, jener Persönlichkeiten, die Motor und Auslöser der Geschichte waren und die sich innerhalb der feststehenden und der veränderlichen Rahmen bewegten.

Evelyn Baring, der spätere Earl of Cromer, trug den offiziellen Titel Britischer Generalkonsul in Ägypten, war de facto jedoch von 1883 bis 1907 Ägyptens ungekrönter König – oder »der Puppenspieler«, wie er auch genannt wurde. Nur wenige verkörperten Arroganz und Überheblichkeit des Imperialismus so perfekt wie er. Der Engländer gewinne seine Sicherheit, so schrieb er beispielsweise, aufgrund der bereits errungenen »Triumphe von Weltrang«, die seine Vorfahren bei der Verwaltung anderer Regionen errungen hätten.

Er schaut nach Indien und sagt sich, mit dem Selbstvertrauen des Imperienbauers: Ich habe es schon einmal geschafft, ich habe die Ryoten in Bengalen und Madras, die eng verwandt sind mit den ägyptischen Fellachen, mit Wohltaten überhäuft; jetzt werden diese Kleinbauern zudem Wasser für ihre kleinen Felder, Gerechtigkeit in ihren Gerichtshöfen und Immunität vor der Tyrannei erhalten, unter der sie schon so lange schmachten.51

Zugleich waren nur wenige Kolonialbeamte durchsetzungsfähiger als Lord Cromer. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Befehlshaber über Ägypten bestand darin, eine Reihe von britischen Wasserexperten aus Indien zu holen. Cromer war dort für die Finanzen zuständig gewesen und hatte erfahren, wie vorteilhaft künstliche Bewässerung in tropischen Gegenden sein konnte. Er war ehrlich überzeugt, zwischen britischen und ägyptischen Interessen bestünde kein Gegensatz. Doch sah er sich als Vertreter einer überlegenen, rational orientierten Zivilisation, deren Vorteile auf der Hand lägen, und hielt die Ägypter mental für unfähig zur Selbstverwaltung. Er ging davon aus, die britische Wasserbewirtschaftung werde dazu führen, »die orientalische Seele« von der Überlegenheit der »westlichen Methoden« zu überzeugen und London Autorität und Legitimität in Ägypten zu verschaffen. Und weiter schrieb er über Ägypten und die »Orientalen«:


Lord Cromer, Ägyptens ungekrönter König von 1883 bis 1907, war der erste und einzige Staatsmann mit direkter Macht über die Nutzung des gesamten Nils. Er war ein wahrer Imperialist, rationell und paternalistisch, und setzte auf die Modernisierung Ägyptens und eine britische Nilordnung. Foto von 1906.

Der Mangel an Genauigkeit, der oft in Verlogenheit ausartet, ist in der Tat die auffälligste Eigenschaft des orientalischen Gemütes. … Es ist, wie seine pittoresken Straßen, durch einen Mangel an Symmetrie gekennzeichnet. Obwohl die alten Araber in einem gewissen Grad die Wissenschaft der Dialektik entwickelt haben, versagen ihre Nachkommen auf auffällige Weise, wenn es um die Fähigkeit zu logischem Denken geht. Oftmals können sie nicht einmal die offenkundigste Schlussfolgerung ausgehend von schlichten Prämissen ziehen, die sie als zutreffend erkennen. … Sogar hochgebildete Ägypter neigen dazu, alltägliche Geschehnisse durch das Eingreifen übernatürlicher Kräfte zu erklären.52

Das von den Briten entwickelte Verwaltungssystem unterschied sich von dem anderer Kolonialherren insofern, als es ein hydropolitisches Regime war. Seine Wirksamkeit in den ersten Jahren beruhte unter anderem auf Selbstsicherheit und dem Ethos der vorurteilsbeladenen Arroganz. Cromer selbst war der unumstrittene Herrscher, und alle Berichte und Briefe, die er nach London schrieb, belegen, dass er die hydrologischen und technischen Herausforderungen des Nils fest im Griff hatte. Seine engsten Mitarbeiter waren Bewässerungsingenieure – Männer wie Colin Scott-Moncrieff, William Willcocks und William Garstin. Er ließ diesen Bewässerungsingenieuren »freie Hand«, da er davon ausging, dass sämtliche in Bewässerungsprojekte gesteckten Summen gut investiertes Geld seien.

Innerhalb von zwei Jahrzehnten vollzog sich im ägyptischen Bewässerungssystem, das bislang noch nach den Methoden der Pharaonenzeit funktionierte, eine Revolution. Es wurde durch ein System ersetzt, das es ermöglichte, die Felder das ganze Jahr hindurch zu bestellen. Die Nachfrage nach mehr Sommerwasser in den 1880er Jahren und zu Beginn der 1890er Jahre kam aus allen Winkeln Ägyptens und von einflussreichen Interessengruppen in Europa, nicht zuletzt der mächtigen Baumwolllobby in Großbritannien, die den Import von billigerer und qualitativ höherwertiger Baumwolle aus Ägypten verlangte. Ein überaus aussagekräftiges Bild der Aufmerksamkeit, die der Nil in England genoss, ist die Tatsache, dass die Times regelmäßig den Wasserstand dieses Stroms mitteilte. Die ägyptische Elite selbst engagierte sich in Produktion oder Verkauf von Baumwolle, der Großteil des Bodens gehörte zum Privatbesitz des Khediven. Die Lebensbedingungen wurden verbessert, die Bevölkerung wuchs innerhalb von zwei Jahrzehnten um das Doppelte an und betrug 1897 fast zehn Millionen. Der von Muhammad Ali angestoßene Prozess der Modernisierung wurde unter Cromers Führung noch einmal entschieden vorangetrieben.

Vor einem solchen Hintergrund lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die konservativen, paternalistischen und rassistischen viktorianischen Kolonialbeamten hinter der wichtigsten Revolution standen, die Ägypten seit Jahrtausenden erlebt hatte. Die Briten veränderten Ägypten in einem Tempo und einem Ausmaß, wie es das Land noch nie erlebt hatte. Straßen, Eisenbahnlinien, Schulen und schließlich auch Universitäten wurden gebaut, Frauen erhielten Zugang zur Bildung, das System der Zwangsarbeit wurde abgeschafft. Die Voraussetzung für alle anderen Reformen aber war, dass die Briten das Verhältnis zwischen Menschen und Fluss revolutionierten, was sich vor allem durch den Bau des ersten Assuandamms zeigte, der 1902 fertiggestellt wurde. Mit diesem Staudamm war es das erste Mal möglich, den jahreszeitlich bedingten Pegelstand des Flusses zu beeinflussen. Nun konnte man die landwirtschaftlich genutzte Fläche radikal vergrößern, und es war möglich, drei Ernten im Jahr und mehr einzufahren. Damit verbunden wurde auch der Rhythmus der Jahreszeiten, der das ägyptische Dorfleben Jahrtausende hindurch geprägt hatte, auf den Kopf gestellt.

Die britischen Beamten, die sich im Gezira-Club zu Tee und Polo trafen, erfüllt von zivilisatorischem Selbstbewusstsein und paternalistischer Arroganz, aber auch geprägt von überlegener Verwaltungskunst und technologischer und hydrologischer Kompetenz, setzten auf verblüffende Weise die grundlegendsten Umwälzungen in Ägyptens jahrtausendelanger Geschichte in Gang. Ihre zahllosen Entscheidungen und bewussten Initiativen waren die Voraussetzung für diese Revolution, doch führte die koloniale Expansion zugleich in eine Sackgasse. Sie ignorierte gesellschaftliches Leben und die bestehenden Machtverhältnisse, sie stürzte alte Traditionen und Produktionsweisen um, und sie schuf Machtverhältnisse, Wirtschaftskräfte und technologische Kompetenzen, die gewissermaßen hinter dem Rücken der einzelnen britischen Verwaltungsbeamten wirkten, während diese ihre Nachmittage mit Polo am Nilufer zubrachten, oft versunken in die Belanglosigkeiten des Alltags.

Die Gestalt, die der britische Imperialismus in Ägypten annahm, war also in den ersten Jahrzehnten eine revolutionäre Kraft, ein mächtiger Agent der Veränderung, der die althergebrachten ägyptischen Institutionen unter Druck setzte. Weil die Briten die Entscheidungsgewalt über alle wichtigen Fragen in Ägypten ausübten, waren sie die eigentlichen Herrscher, obwohl sie auch hier offiziell zusammen mit der ägyptischen Verwaltung ihre Beschlüsse fassten.

Der Nil

Подняться наверх