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NACH KARNAK UND ZU DEN KATARAKTEN DES NILS Von den Arabern gegründet, von den Briten eingenommen

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Die beste Einführung in die Stadt Kairo und ihre historische Geografie erhält man durch die Aussicht vom Fernsehturm auf der Insel Gezira. Von hier aus sieht man dicht an dicht stehende graue Hochhäuser, die auseinander herauszuwachsen oder aneinandergelehnt zu sein scheinen, mit schwarzen, in den wüstenfarbenen Fassaden wie Löcher wirkenden Fenstern. Über den Fluss führen mehrere Brücken, die gleichsam die Stadt zusammenhalten und auf denen der Verkehr oft ganz zum Erliegen kommt. Vom Turm aus sieht man auch deutlich, wie die Stadt an den Ufern des Flusses zusammengepresst ist, im Osten und Westen von Wüste umgeben. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie eng die Hochhäuser Schulter an Schulter und Rücken an Rücken beisammenstehen und wenn man beobachtet, wie sich die Fahrzeuge auf den Brücken drängeln, die sich im Süden und Norden über dem Nil wölben, kann man sich tatsächlich vorstellen, dass die Stadt heutzutage 20 Millionen Menschen beherbergt.

Der Fluss kommt von Süden aus Afrika in die Stadt, passiert die Südspitze der Insel Roda und den Nilometer und kommt einem gemächlich unter den Brücken hindurchfließend entgegen. Im Norden verlässt der Fluss die Stadt in Richtung Mittelmeer und Delta, als hätte er ein Kapitel seiner Geografie und Biografie hinter sich gelassen. Fast parallel zu ihm im Osten liegt der Mokattam-Hügel mit der Zitadelle, die nicht nur an die Regentschaft Saladins erinnert, sondern auch heute noch über die Stadt zu wachen scheint. Nur wenige Kilometer vom Flussufer entfernt zeichnet sich am Horizont klar Wüstengebirge ab. Im Westen Sakkara, Gizeh und an klaren Tagen die Pyramiden, auch dort die Wüste im Hintergrund.

Kaum etwas hat so viele Schriftsteller inspiriert – und ist öfter in Briefen von Touristen an die Lieben daheim beschrieben worden – wie die Pyramiden. Der Bau der Pyramiden begann etwa 2650 v. Chr. zu Anfang der dritten Dynastie. Cheops (ungefähr 2585–2560 v. Chr.) ließ die größte von allen errichten, in Europa als Cheops-Pyramide bekannt, während sein Sohn Chephren (etwa 2555–2532 v. Chr.) die zweitgrößte bauen ließ (sie durfte nicht größer als die des Vaters sein). Der Römer Plinius der Ältere ist einer der wenigen, die sich nicht haben imponieren lassen. Er sah in den Pyramiden die größte Verschwendung aller Zeiten und den Ausdruck herrschaftlichen Größenwahns. Man könne sich ihren Bau nur damit erklären, dass die Pharaonen zum einen »ihren Nachfolgern oder den ihnen nahestehenden Nebenbuhlern kein Geld hinterlassen wollten«, und damit, dass »der Pöbel nicht müßiggehen sollte. Die Eitelkeit jener Menschen ist in dieser Hinsicht sehr groß gewesen.« Jedenfalls handele es sich bei diesen Pyramiden um eine »unnütze und törichte Prahlerei des Reichtums der Könige«.43


Kairo, »die Mutter aller Städte«. Rund 20 Millionen Menschen halten sich jeden Tag in dieser von Wüste umgebenen und vom Nil am Leben gehaltenen Stadt auf.

Wenn es um gefeierte Weltwunder wie die Pyramiden geht, ist es manchmal einfacher, sie in der Kunst oder als Erwartung wahrzunehmen als in der Wirklichkeit. Historische Erzählungen und künstlerische Visionen lassen aus, fassen zusammen und werten alles auf, was eigentlich langweilig oder irrelevant ist. Beide lenken die Aufmerksamkeit oder fokussieren die Gefühle auf zentrale Aspekte der Pyramide oder auf besondere Augenblicke in ihrer Geschichte und verleihen den Reisen damit eine Kohärenz und Klarheit oder Lebendigkeit, die ihnen in der Realität fehlen mag: Im ablenkenden Nebel der Gegenwart steht der Reisende vor dem Ziel, aber es ist zu warm, die Strümpfe jucken, und ein ungebetener Guide taucht plötzlich breit grinsend hinter einem Stein oder einem herausgeputzten Kamel auf und will einem gegen Extragebühr einen »very special place« zeigen. Trotz solcher unvermeidlich eintretenden Ablenkungen hat das Aufsuchen der Pyramiden stets zu überraschend ähnlichen Beschreibungen geführt, in denen üblicherweise ihre unübertroffene Größe und nachdrückliche Beständigkeit dominiert. Aus der Ferne betrachtet, spiegelt ihr hypermonumentaler Charakter deutlich die rücksichtslose Fähigkeit der Herrscher wider, sich selbst Denkmäler zu errichten und damit auch zu versuchen, sich das ewige Leben zu sichern.

Die arabischen Eroberer gründeten zunächst die Stadt Fustat am Ostufer des Flusses, am Rande des heutigen Kairo. Eigentlich habe der Feldherr Amr ibn al-As Alexandria zur Hauptstadt machen wollen, sei aber vom Kalifen Umar davon abgehalten worden, heißt es in frühen Überlieferungen. Keine Hauptstadt solle durch Wasser von Medina getrennt sein, und der Nil verlaufe ja östlich von Alexandria. Nach der Schlacht mit den Byzantinern im Jahr 642 schlug Amr also sein Lager in Fustat auf. Einige Jahrhunderte später wurde die daraus entstandene Stadt als Teil der im Kampf gegen die Kreuzfahrerheere angewandten Taktik der verbrannten Erde niedergebrannt, während das nördlich gelegene Kairo zu Füßen der Zitadelle heranwuchs, die Saladin Ende des 12. Jahrhunderts hatte errichten lassen.

Diese Zitadelle, die auf dem Mokattam-Hügel nahe des Zentrums des heutigen Kairo aufragt, war Schauplatz für viele der wichtigsten Ereignisse in der Stadtgeschichte, aber der Bau sagt auch viel aus über das Verhältnis zwischen den Religionen in Ägypten. Die beiden Architekten, die Saladin mit dem Bau von Zitadelle und Stadtmauer beauftragte, waren koptische Christen. Die christlichen Architekten bauten also im Auftrag des muslimischen Sultans eine Mauer, die die Stadt gegen die Kreuzfahrer beschützen sollte. Die Mauer rund um die Zitadelle erstreckte sich vom Ufer des Nils in einem Halbkreis zurück zum Flussufer. Heute liegt das östliche Flussufer aufgrund von Stadterweiterungen woanders, man muss also historisches Kartenmaterial zurate ziehen, um das Ganze vor sich zu sehen. Ohne beschützten Flusszugang war die Zitadelle natürlich unbrauchbar.

Nicht nur das Wasser kam aus dem Süden nach Kairo hinein. Auch Dünger in Gestalt von Schlamm aus den Bergen Äthiopiens wurde von dort in Richtung Norden getragen. Gold und Elfenbein kamen ebenfalls aus dem Süden, und in manchen Perioden waren auch Expeditionen flussaufwärte zur Beschaffung von Sklaven sehr wichtig. Besonders nach Muhammad Alis Besetzung des Sudan wurden Tausende Sklaven in gewaltigen Karawanen nach Ägypten transportiert. Nachdem Russland den Kaukasus unterworfen hatte, war der Zufluss an Sklaven von dort ausgetrocknet, daher stieg die Notwendigkeit, diese aus Schwarzafrika zu beschaffen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Sklavenmarkt in Kairo eine Touristenattraktion (er wurde Mitte des Jahrhunderts geschlossen, der Handel lief jedoch hernach im Verborgenen weiter). Pastor Michael Russell schrieb 1831 über seine Begegnung mit dem Sklavenmarkt: »Die äthiopischen Frauen, welche nach Ägypten zum Verkaufe gebracht werden, sind, trotz ihrer schwarzen Farbe, außerordentlich schön. Sie haben ganz regelmäßige Züge und feurige Augen. Es wurden viele von den Franzosen gekauft, während sie im Lande waren.«44 Die ägyptische Elite brauchte diese Sklaven nicht für die Landwirtschaft, niemand produzierte mehr Überschuss als die hart arbeitenden ägyptischen Kleinbauern. Im Haushalt jedoch erachtete man Sklavinnen als notwendig, unter anderem aufgrund der Praxis der Polygamie. Und die Staatsführung benötigte Soldaten, die sich dem jeweiligen Herrscher gegenüber loyal zeigten. Innerhalb dieses Systems entwickelten die Kopten ihre Spezialität: Sie waren besonders geschickt darin, aus Sklaven Eunuchen zu machen. Es gab zwei Operationsarten: Entfernung des Penis oder Entfernung der Hoden.45 Aufgrund der hohen Sterblichkeit war der Preis für Eunuchen viel höher als der für andere Sklaven.

Kairo liegt strategisch günstig; die Stadt kontrolliert sowohl politisch als auch militärisch den Zugang zum Delta. Zugleich eignet sich die Lage, um Oberägypten zu beherrschen, eine solche Rolle hatte schon die alte pharaonische Hauptstadt Memphis eingenommen, die direkt außerhalb des heutigen Kairos lag. Nach und nach entwickelte sich Kairo zur wichtigsten Stadt des Nahen Ostens und Afrikas.

In seinem Bericht über den Aufenthalt in Kairo im Jahr 1326 schildert der große arabische Reisende Ibn Battuta die Koexistenz der Stadt mit dem Fluss. Er schreibt:

Man sagt, es gebe in Kairo 12 000 Wasserträger, die das Wasser auf Kamelen transportieren, und 30 000, die Maultiere und Esel vermieten, und dass es auf dem Nil in der Stadt 36 000 Boote gibt, die dem Sultan und seinen Untertanen gehören und die vollgeladen mit allen erdenklichen Waren stromaufwärts bis Oberägypten und den Fluss hinab bis Alexandria und Damiette reisen. … Der Nilreisende benötigt keinen Proviant, denn er kann, wo immer er möchte, an Land gehen, um sich zu waschen und mit Proviant zu versorgen, um zu beten oder für alle anderen erdenklichen Vorhaben. Von Alexandria bis Kairo und von Kairo bis ins oberägyptische Assuan reiht sich Markt an Markt.46

Noch begeisterter äußerte sich der bekannteste Historiker der arabischen Welt, Ibn Chaldun. Er besuchte Kairo einige Jahrzehnte nach Ibn Battuta im Jahr 1382, und auf ihn geht die legendäre Bezeichnung für Kairo als »Mutter aller Städte« zurück. Kein Wunder, dass man ihm dort eine Statue errichtete, die nun prominent auf dem nach ihm benannten Platz steht, beschrieb er die Stadt doch als »Stadt des Universums« und »Orchidee der Welt … beschienen vom Monden- und Sternenlicht seiner Gelehrten«.

Wenn man alte Karten und Zeichnungen mit der Stadt vergleicht, die sich einem heute vom Fernsehturm aus darbietet, so kann man deutlich sehen, wie sie nach und nach der direkten, despotischen Macht des Nils entkommen ist. Eine der bekanntesten Karten wurde im 16. Jahrhundert vom venezianischen Kartografen und Drucker Mateo Pagano angefertigt. Nachdem er das 1549 erschienene Buch Descriptio Alchiriae des französischen Orientalisten Guillaume Postel gelesen hatte, zeichnete er eine außergewöhnlich genaue und korrekte Karte von Kairo, die erste dieser Art – ohne die Stadt selbst je betreten zu haben. Er zeichnete sie aus einer imaginierten Luftperspektive, und während ich unzählige gestochen scharfe Panoramabilder mit meiner Canon-Kamera knipse, denke ich, dass der technologische Fortschritt ein Segen für uns Normalsterbliche ist, denen das Genie dieses Kartografen fehlt.

Die Gezira-Insel, auf der jetzt der Fernsehturm als selbstbewusste Landmarke thront, war bis Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der jährlichen Überschwemmungen nicht bewohnbar. Ismail, der Khedive, der den Suezkanal eröffnete, setzte in seinem Bestreben, aus Kairo eine Art Paris des Nahen Ostens zu machen, auch hier Ingenieure ein: Die Ufer wurden befestigt, und er ließ auf der Insel seinen Palast errichten. 1869, im Jahr der Kanaleröffnung, wurde auch der Palast fertiggestellt und war einzugsbereit. Rund um den Bau schuf ein französischer Landschaftsarchitekt eine riesige Parkanlage mit exotischen Pflanzen, die aus aller Welt hierhergebracht worden waren; hier konnte die königliche Familie jagen, den Nachmittag auf der Trabrennbahn verbringen oder Polo spielen. Ursprünglich war der Park fast fünf Hektar groß, heute aber lassen die vielen Hotels und Sportklubs kaum noch erkennen, dass diese grüne Lunge ein frühes Beispiel für den Wunsch der herrschenden Elite im 19. Jahrhundert war, am Nil Europa zu kopieren.

Von oben betrachtet, offenbart Kairo auf brutale Weise seine Abhängigkeit vom Fluss. Es wird nicht nur deutlich, wie er überhaupt erst ermöglichte, hier zu siedeln. Jede einzelne Grünanlage in Kairo wird mit Wasser vom Nil bewässert, die mehr als fünf Millionen Autos, die jeden Tag in der Stadt unterwegs sind, werden mit Nilwasser gewaschen, jede einzelne Körperreinigung der rund 20 Millionen hier lebenden Menschen wird mit Wasser des Nils vollzogen, und auch der Fußballplatz direkt unter dem Turm sowie die Pferde nebst Reitern, die um die Kurven der geradeaus nördlich liegenden Reitanlage galoppieren, sind abhängig vom Wasser des Nils. Ohne das Wasser, das aus dem Inneren Afrikas hierher strömt, würde es schlicht kein Kairo gegeben.

Es gibt heute viele pessimistische Vorhersagen über Kairos Zukunft, aber man kann immer Trost in der Geschichte finden: Der Mythos des Phönix entstand hier in dieser Gegend, denn alle 500 Jahre sollte der mythische Vogel mit der fantastischen Federpracht ins ungefähr acht Kilometer nordöstlich des heutigen Kairo gelegene Heliopolis, das biblische On, zurückkehren. Dort landete er auf dem brennenden Altar des großen Sonnentempels, um aus seiner Asche wiederaufzuerstehen, eine direkte Parallele zu einem Ägypten, das ebenfalls aus der Wüste wiederauferstand – jedes Jahr, nach jeder Überschwemmung.

Der Nil

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