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Am Schnittpunkt von Geschichte, Fluss und Meer

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Die Gegenwart misszuverstehen, ist die unausweichliche Konsequenz fehlenden Wissens über die Vergangenheit. Zugleich wäre es verschwendete Zeit zu versuchen, die Vergangenheit zu verstehen, ohne sich für die Gegenwart zu interessieren. Die eigentliche Stärke des Historikers liegt daher, wenn überhaupt, in seiner Fähigkeit, das Lebende und Zeitgenössische in dessen geschichtlichem Kontext zu verstehen. Daher verweilt der Historiker in diesem Sinne nicht in der Vergangenheit, ist nicht auf der Jagd nach dem entscheidenden »Gestalter«, sondern befindet sich in der Gegenwart, betrachtet sie aber mit einem historischen Bewusstsein. Nur mit einem solchen Blick auf die Geschichte ist es möglich, sich von ihrer »blinden Macht« zu lösen, und allein auf diese Weise lassen sich die Forschung sowie die Fragen, die sie aufwirft, von Moden und Einflüssen der Gegenwart befreien.

Die Geschichte des Nildeltas erscheint angesichts der dunklen Wolken, die viele über seiner nahen Zukunft aufsteigen sehen, in einem neuen Licht. Vor dem historischen Hintergrund, den ich gezeichnet habe, hebt sich zudem die Gegenwart deutlicher ab. Ich befinde mich an dem größten antiken Monument Alexandrias, der Pompeiussäule. Sie erhebt sich über den Ruinen des alten Serapistempels im Südwesten der Stadt. Die Säule besteht aus rotem Assuan-Granit, sie ist fast 27 Meter hoch und hat einen Umfang von neun Metern. Es ist umstritten, wer die Säule hat errichten lassen, doch höchstwahrscheinlich war es Diokletian, der römische Kaiser, der für eine blutige Christenverfolgung verantwortlich war. In der Nähe der Säule sehe ich Überreste eines alten Nilometers, eines der vielen Beispiele für die Form von Rationalität und für die Beschäftigung mit der Wirkungsweise der Natur, die das altägyptische, das römische und später das islamische Ägypten gemein hatten. Heute verstecken sich diese Messvorrichtung für den Wasserstand des Nils sowie die prächtige Säule zwischen den Ruinen der alten Befestigungsanlagen, was das unbeständige Verhältnis der Stadt wie des Deltas zum Fluss symbolisiert, dem beide ihre Existenz verdanken.

Alexandria wurde durch das Zusammenspiel von Geschichte, Fluss und Meer geschaffen; die Stadt ist wesentlich geprägt durch seine Lage an der fragilen, sich verändernden Schnittstelle zwischen den seit der letzten Eiszeit gestiegenen Meeresspiegeln, den periodischen, aber dauerhaften Veränderungen des Nilcharakters sowie der sich wandelnden Wasserpolitik der jeweiligen Herrscher. Und ebenso hat auch das Delta verschiedene Phasen durchlaufen. Der von Herodot beschriebene Ort hatte schon damals seit Tausenden von Jahren dramatische ökologische Veränderungen erfahren, sowohl aufgrund natürlicher Veränderungen im Nil selbst als auch aufgrund der Versuche der Pharaonen, den Fluss zu bändigen. Das Delta, in dem heute mehr als 50 Millionen Menschen leben, ist nicht mehr dasselbe, durch das Cäsar und Kleopatra segelten, durch das Napoleons Soldaten wanderten und das Ibsen und Flaubert sahen. Die heutige Situation ist beunruhigend. Der Weltklimarat IPCC der Vereinten Nationen hat das Delta als eine der am stärksten gefährdeten Regionen des Planeten bezeichnet. Das Gremium warnt, ein Drittel der Fläche werde in den nächsten Jahrzehnten verloren gehen, wenn sich der aktuelle Trend fortsetze. Die dramatischsten Vorhersagen gehen davon aus, dass das Mittelmeer bis 2050 um fast einen Meter ansteigt und das Delta gleichzeitig absinkt, weil aufgrund der weiter flussaufwärts gelegenen Nildämme weniger Schlamm im Fluss mitgeführt wird.

Abermals wird das Delta durch seine Lage am Schnittpunkt zwischen Fluss und Meer sowie die menschlichen Versuche, sich den Fluss untertan zu machen, beeinflusst werden. 5000 Jahre lang dominierte die Natur den Charakter des Stroms, doch haben von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute zahllose ägyptische Regierungen immer wieder auf das Delta eingewirkt. Besonders wichtig waren – wie wir noch sehen werden – die Entwicklungen nach der Besetzung Ägyptens durch die Briten am Ende des 19. Jahrhunderts sowie in den 1970er Jahren, als die Ägypter den Nil in einen Kanal verwandelten.

Bevor der Nil in Ägypten vollständig gezähmt wurde, hatte der Fluss seit Jahrtausenden der Tendenz zur Erosion und Landabsenkung entgegengewirkt. Seestürme und Wellen haben stets die Küste angegriffen, doch bis vor Kurzem wurden sie mit einer Gegenkraft konfrontiert: dem sedimentlastigen Nilwasser. Der Assuandamm veränderte über Nacht diesen natürlichen Kampf zwischen Schlamm und Meer, und die Auswirkungen dieser »schlammhistorischen Verschiebung« sind erst seit einigen Jahrzehnten zu spüren.42

Die Beziehung zwischen Delta, Fluss und Meer befindet sich in einem neuen Zustand des Ungleichgewichts. Wie wir später noch sehen werden, ist diese Situation eingetreten, ohne dass eine Absicht oder Intention dahintersteckte.

Der Nil

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