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Der Soldat, der den Nil reformieren sollte
ОглавлениеKurz nach Abzug der französischen Truppen aus Ägypten übernahm dort ein fremder Soldat die Macht – auf Geheiß des Osmanischen Reichs, das gemeinsam mit den Briten die Franzosen zum Rückzug gezwungen hatte. Muhammad Ali Pascha, ein ehemaliger Tabakhändler, der erst mit 40 Jahren lesen und schreiben lernte, betrat die Bühne am Nil. Angeblich war er im selben Jahr wie Napoleon geboren, 1769, und obwohl ihm die Ausbildung des Franzosen fehlte, waren seine Ambitionen und sein Wille zur Macht genauso grenzenlos.
Wo traditionelle Kriegsherren sich oft auf Ränkespiele im Palast oder die Durchführung von Strafexpeditionen beschränkten, hatte Muhammad Ali Visionen. Er war sich bewusst, wie sehr der Nahe Osten inzwischen technologisch und militärisch hinter Europa hinterherhinkte, und begriff, dass Ägypten Impulse und Technologie aus Europa importieren musste. In der ägyptischen Geschichte sollte er eine äußerst wichtige Rolle spielen, nicht zuletzt, weil er der Erste war, der Entwicklung als einen Prozess betrachtete, der sich auf vielen Ebenen abspielte. Muhammad Ali heuerte ausländische Experten und Techniker an, um das Heer, die Landwirtschaft und das Bildungssystem zu modernisieren. Wichtiger noch: Was die Nutzung der größten Ressource des Landes betraf, hatte er weitaus ambitioniertere Pläne als seine Vorgänger. Und so begann unter diesem Mann und seiner autokratischen Herrschaft die moderne Geschichte des Nils.
Dass gerade er die moderne Entwicklung des Niltals so nachhaltig prägen sollte, ist ein Bespiel für die Bedeutung von Zufällen im Spiel der Geschichte; Zufälle, die in einer von der Permanenz des Nils erschaffenen Umgebung umso deutlicher hervortreten. 1801 gehörte das von Muhammad Ali angeführte kleine Kontingent von 300 Mann aus Kavala zu dem osmanischen Heer, das Ägypten nach Napoleons kurzem Intermezzo als »Herrscher der Pyramiden« zurückerobern sollte. In der strategisch wichtig bei der Nilmündung gelegenen Bucht von Abukir gingen die Soldaten an Land und wurden sofort in Kämpfe verwickelt. Muhammad Ali fiel während der Schlacht ins Meer, konnte aber nicht schwimmen; laut späteren Erzählungen wurde er von der Besatzung eines britischen Schiffs vor dem Ertrinken gerettet. Ausgerechnet dieser Soldat sollte in den folgenden Jahren schrittweise die Macht in Ägypten an sich nehmen. Nach Vertreibung der Franzosen und dem Abzug des Großteils der osmanischen Interventionstruppen blieb nur Muhammad Alis Korps zur Absicherung der zurückgewonnenen Herrschaft Konstantinopels über Ägypten zurück. Infolge mehrerer Meutereien aufgrund ausbleibender Soldzahlungen riss Muhammad Ali schließlich die Herrschaft über das Land an sich, ohne dass der Sultan Selim III. dies verhindern konnte. 1805 rief er sich selbst zum Anführer Ägyptens aus und wurde einige Wochen später von der Zentralregierung in Konstantinopel auch offiziell als Wali (Gouverneur) anerkannt. 1841 war seine Stellung schließlich so gefestigt, dass er sein Amt als Wali von Ägypten an seine Nachkommen vererben konnte. Wie sich zeigen sollte, entwickelte sich die von ihm gegründete Dynastie zu einer derjenigen in der Geschichte Ägyptens, die das Land am stärksten modernisierten.
Zuvor kämpfte er gegen Einmischung vonseiten der Briten. Der Historiker Wallis Budge schreibt, dass am 17. März 1807 etwa 5000 britische Soldaten in Ägypten landeten, um Muhammad Ali Pascha zu einer verstärkten Zusammenarbeit zu bewegen. Sie marschierten auf Rashid zu und nahmen die Stadt zunächst ohne Gegenwehr ein. Innerhalb der Stadt kam es dann jedoch zu einem gewaltigen Gegenangriff. Nachdem 185 ihrer Soldaten getötet und 262 verletzt worden waren, zogen sich die Briten unter großen Schwierigkeiten wieder zurück. Die Köpfe der getöteten Soldaten wurden nach Kairo gebracht. Dort wurden sie beiderseits einer Straße auf Pfähle gesteckt, ungefähr dort, wo Napoleon zehn Jahre zuvor das Gleiche mit dem Mameluken getan hatte und sich heute die Azbakiyya-Gärten befinden. Die Briten unternahmen einen halbherzigen zweiten Versuch, Rashid zu erobern, doch auch diese Aktion endete in einer Katastrophe. Die britischen Gefangenen wurden nach Kairo eskortiert und zwischen den Pfählen mit den verwesenden Köpfen ihrer toten Kameraden zur Schau gestellt.
Muhammad Ali, der Soldat, der Anfang des 19. Jahrhunderts die Macht in Ägypten übernahm. Er brachte es nicht nur fertig, 95 Kinder zu zeugen, sondern zeichnete auch verantwortlich für die Modernisierung des Landes. Von Auguste Couder (1790–1873).
Vier Jahre später, 1811, schrieb Muhammad Ali sich in die Weltgeschichte der Brutalität ein. Nach außen hin hatte er seine Position gesichert. Nun galt es, seine Stellung auch im Inneren zu festigen. Dazu lud er alle verbliebenen Mameluken zu einem großen Fest in die Kairoer Zitadelle ein. Das Bankett wurde zu Ehren eines seiner Söhne abgehalten, der eine Militärexpedition leiten sollte, um die Wahabiten zu vernichten, die Vorreiter jener religiösen Bewegung, die später in Saudi-Arabien an die Macht kommen und in den folgenden Jahren so viele radikale sunnitische Islamisten inspirieren sollte.
Es gibt, wenn überhaupt, nur wenige Parallelen in den Annalen irgendeines Landes für das, was sich in dieser Nacht des Jahres 1811 nun in der Zitadelle von Kairo ereignete. Für gewöhnlich werden diese Ereignisse als eine staatsmännische Handlung interpretiert, bei der die abstrakten Prinzipien der Moral den politischen Erfordernissen weichen mussten, wobei solcherart moralische Prinzipien in der Vorstellungswelt Muhammad Alis ohnehin nicht existierten. Auch hatte er zu diesem Zeitpunkt die Schriften Machiavellis noch nicht kennengelernt (Teile seiner Werke las er später im Leben, nachdem er lesen gelernt hatte). Die Anführer der Mameluken, so heißt es, seien der Einladung in die Zitadelle ohne einen Funken Argwohn oder Furcht gefolgt und auf überaus zuvorkommende Weise von Muhammad Ali willkommen geheißen worden. Im Laufe des Abends ließ er dann einen nach dem anderen auf brutale Weise umbringen; in den engen Gassen in und um die Zitadelle wurden die Gäste kurzerhand abgeschlachtet.
Nachdem er jeglichen Widerstand beseitigt hatte, ergriff Muhammad Ali die Initiative zu einer Reihe von radikalen Reformen, die Ägypten zwangsweise in die moderne Welt beförderten; er selbst wurde zu einem der vielen autokratischen Modernisierer der Weltgeschichte. Um feste Einnahmen für den Staat zu sichern, presste er Bauern ihr Land ab. Er setzte die Abgaben für die sogenannten »Steuerbauern« so hoch an, dass diese sie nicht bezahlen konnten, womit Muhammad Ali eine legale Basis geschaffen hatte, um ihren Grundbesitz konfiszieren zu können. Auf diese Weise riss er große Landgebiete an sich und führte ein ihm unterstehendes Handelsmonopol ein. Muhammad Ali bereicherte sich selbst und seine Familie, doch im Gegensatz zu vielen späteren Staatsführern am Nil, die ihre Staatsmacht allein zur persönlichen Bereicherung ausnutzten, war er auch ein Modernisierer. Alle Produzenten mussten ihre Waren an den Staat verkaufen. Der Staat verkaufte sie dann weiter auf Märkten im Inund Ausland. Diese Ordnung der Staatsfinanzen erwies sich insbesondere im Zusammenhang mit Muhammad Alis Konzentration auf Baumwolle als äußerst lohnend. In dem Versuch, mit Großbritannien zu konkurrieren, versuchte er sogar, eine ägyptische Textilindustrie zu etablieren. Der Versuch scheiterte jedoch und war auch von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil es Ägypten an Energiequellen fehlte, die für den Erfolg einer derartigen Industrie unabdingbar waren.
Muhammad Alis wichtigste historische Rolle war indes die des Modernisierers der ägyptischen Lebensader – des Nils. Er wollte den Fluss auf eine in der ägyptischen Geschichte nie zuvor erprobte Art ausbeuten und ergriff 1818 die Initiative zum Bau des Al-Mahmoudia-Kanals. Durch diese Verbindung vom Nil zu Ägyptens wichtigstem Meerhafen sollte es den Schiffen erspart werden, den gefährlichen Küstenabschnitt zwischen Rashid und Alexandria zu befahren. Die Arbeiten wurden von einem der vielen Europäer, die Muhammad Ali in seine Dienste genommen hatte, dem französischen Ingenieur Pascal Coste, geleitet und bereits 1820 beendet.
Doch wichtiger: Muhammad Ali setzte die Arbeit an den umfangreichen Dämmen quer über die beiden Flussläufe in Gang, in die sich der Nil nördlich von Kairo teilt. Das Ziel dabei war, den Flusspegel so weit anzuheben, dass das Wasser leichter in die vielen Kanäle im Delta abfließen konnte. Auch hier zeichnete ein französischer Ingenieur, Mougel Bey, für die Arbeiten verantwortlich. Große Teile des alten Flutbewässerungssystems, das seit der Zeit der Pharaonen dominiert hatte, sollten in ein ganzjähriges Bewässerungssystem umgewandelt werden. Die Fundamente der Dämme waren allerdings schlecht gebaut; als das Projekt nach Muhammad Alis Tod fertiggestellt wurde, funktionierte es nicht wie geplant. Ungeachtet dessen wurden über 30 000 Hektar in landwirtschaftliche Fläche umgewandelt, auf der dreimal jährlich geerntet werden konnte. Muhammad Alis Engagement für die Ganzjahresbewässerung unter Inanspruchnahme französischer Hilfe entpuppte sich als eine der unmittelbarsten Folgen der napoleonischen Besatzung Ägyptens. Insofern übersah Edward Saids Kritik an der Eroberung Ägyptens durch das westliche Wissenschaftssystem im 19. Jahrhundert gänzlich die Bedeutung der Beschreibung und Analyse des Nils als Wassersystem durch die Franzosen, die eine Voraussetzung dafür war, dass diese Modernisierung überhaupt möglich wurde.
Muhammad Ali läutete die historische Ära ein, in der Ägypten sich den Nil untertan machte und immer mehr von dessen Wasser nutzte, sodass die Felder nun auch im Sommer bearbeitet werden konnten, wenn der Fluss naturgemäß wenig Wasser führte. Wie alle anderen tief greifenden Veränderungen, die in der Vergangenheit verwurzelt waren, die aber auch grundlegende Veränderungen in der Beziehung der Gesellschaft zu dem bedeuten, was sie prägt und bestimmt, waren die Ursachen dieses Prozesses zweifellos tief und komplex. Doch jede Erklärung, die die historische Rolle des Individuums – oder die unverwechselbare Energie Muhammad Alis – übersieht, greift zu kurz.
Der ägyptische Herrscher zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Muhammad Ali, ergriff die Initiative zur Stauung des Nils. Im Sommer wurde der Wasserspiegel im Delta angehoben, sodass große landwirtschaftliche Flächen mehrmals im Jahr bestellt werden konnten. Foto von 1896.
Das System der Zwangsarbeit erreichte in Ägypten seinen Höhepunkt im 19. Jahrhundert, nicht zuletzt deshalb, weil es die Arbeitskraft für Muhammad Alis Bewässerungsrevolution bereitstellte.33 Im Delta wurden neue Kanäle gegraben, alte repariert und erweitert. Am wichtigsten war dabei vielleicht, dass die Kanäle tiefer ausgegraben wurden, damit das Wasser auch im Sommer für die Kultivierung der profitablen Baumwollpflanze zur Verfügung stand. Große Gruppen von Arbeitern reinigten die Kanäle und den Kanalgrund, Tausende von Menschen wurden zur Bewachung der Ufer eingesetzt, wenn der Fluss anstieg. Solange diese Art der Zwangsarbeit nur zur Instandhaltung des Bewässerungssystems eingesetzt wurde, erfolgte die Organisation der Arbeit in der Regel auf lokaler Ebene. Verantwortlich für die Arbeit und die Instandhaltung der großen Kanäle waren die Provinzgouverneure. Um den Al-Mahmoudia-Kanal durch das nordwestliche Delta bis nach Alexandria zu bauen, mussten die Behörden rund zehn Prozent der örtlichen Bevölkerung für die Arbeiten mobilisieren. 1817 wurden insgesamt etwa 100 000 Arbeiter eingesetzt. Das Tempo der Arbeiten wurde ab 1819 erhöht, und allein aus Unterägypten wurden 313 000 Arbeiter zwangsweise in den Norden gesendet.
Die ambitiöse Nilpolitik Muhammad Alis und seiner Nachfolger führte daher zu einer kräftigen Expansion des verhassten Zwangsarbeitssystems. Wie ein ägyptischer Schriftsteller syrischer Herkunft schrieb, hatte diese Form der Zwangsarbeit in Ägypten seit 6000 Jahren existiert und war von den Menschen als Bürde betrachtet worden, die durch »göttliche Vorsehung« auf ihren Schultern ruhe, weshalb nicht daran gerührt werden dürfe.34 Der Umfang der Zwangsarbeit wurde indes größer, zugleich waren die Möglichkeiten zur ganzjährigen Bestellung der Felder radikal erweitert worden. Was im Leben eines ägyptischen Bauern zuvor einem jährlichen Rhythmus unterworfen war, verwandelte sich jetzt zu einer Aktivität, die das ganze Jahr über andauerte. Doch konfrontiert mit einer effizienten und gnadenlosen Staatsmacht, waren die Bauern nicht in der Lage, dem einen nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen. Als Ersatz für eine Massenbewegung entstand eine Art individuellen Protests, der Bände über das damalige Leben der Bauern am Nil spricht: Die Menschen verletzten sich lieber selbst, als sich der Zwangsarbeit zu unterwerfen. Nicht selten zerstörte man sich selbst mit Rattengift ein Auge oder schnitt sich einen Finger der rechten Hand ab.
Muhammad Ali Pascha war auch ein erfolgreicher regionaler Kolonialist und Imperialist. Die verbreitete Vorstellung, der Imperialismus und die Eroberungspolitik der letzten Jahrhunderte seien ein rein westliches Projekt gewesen, erweist sich als engstirnige eurozentrische Sichtweise. Der Herrscher Ägyptens war zwar kein klassischer Nationalist, gilt aber im Rückblick als Begründer des modernen ägyptischen Nationalstaats und hatte anspruchsvolle Pläne zur Modernisierung des Landes nach europäischem Vorbild und mit französischer Hilfe. Er unterwarf darüber hinaus große Teile der arabischen Halbinsel bis nach Aden im heutigen Jemen, und – was mit Blick auf den Nil am wichtigsten ist –, er annektierte den Sudan. Muhammad Ali und seine Nachfolger verfolgten eine Politik, welche ganz bewusst darauf abzielte, den gesamten Wasserlaufs des Nils zu kontrollieren. Sie eroberten Teile des heutigen Uganda und versuchten, Äthiopien zu übernehmen, trafen jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf wachsenden Widerstand vonseiten einer anderen und größeren imperialen Macht: Großbritannien.