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4. Kunst und Ethos 4.1 Die Politeia: Satire oder Handlungsentwurf?

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Hinweise auf das wahrhaft Gute, das Göttliche, durchziehen die Kritik an der Poesie und an den mimetischen Künsten in der Politeia. Im 10. Buch wird auf den Bereich des Göttlichen in negativer Form angespielt. Es fällt auf, dass Sokrates das Wesen der nachbildenden Künste anhand der Malerei, und noch dazu anhand des Abbildes eines Bettgestelles erläutert und nicht etwa am Beispiel der berühmten Götterbilder des Phidias und anderer. Woher diese überraschende Degradierung der bildenden Künste? Verschiedene Antworten bieten sich hier an: Zum Ersten erinnert das banale Gebrauchsmöbel, das Bett, drastisch an die wirkliche Lebenspraxis, an den wirklichen Gebrauch der Dinge – und somit vielleicht auch an die wahrhaften Zielsetzungen des menschlichen Lebens, die über der Scheinwelt einer Kultur, die den äußeren Glanz über alles schätzt, vergessen zu werden drohen. Zum andern gilt in den platonischen Dialogen der Handwerker als der exemplarische Fall wirklicher Sachkenntnis. Sein Tun bietet ein deutliches und jedermann verständliches Vorbild echten Wissens und Könnens, woran die Dichter, die Sophisten und die Politiker gemessen werden. Schließlich kann die auffällige Aussparung der Götterbilder, der großen zeitgenössischen Bildwerke, auch als indirekte Verweisung auf den Bereich des Göttlichen gelesen werden. Gerade indem wider alles Erwarten die Götterbilder hier nicht genannt werden, kann ex negativo deutlich werden, dass das wahrhaft Göttliche auf dem Gebiet der äußeren Schönheit, der physischen Erscheinung und der kostbaren Materialien nicht zu finden ist.

Dasselbe erhellt noch auf andere Weise. Ein berühmter Passus im Phaidros (274b) artikuliert Bedenken hinsichtlich des geschriebenen Wortes im Unterschied zum gesprochenen: „Denn dies Schlechte hat das geschriebene Wort und ähnelt hierin der Malerei (zoographia): Denn auch sie stellt ihre Gestalten wie lebend vor uns hin, richtet man jedoch eine Frage an sie, dann antworten sie nur mit „ehrwürdigem Stillschweigen“. Diese scherzhafte Bemerkung über das erhabene Schweigen der Bildwerke wirft Licht auch auf die Mängel, die dem geschriebenen Wort eigen sind. Dieses vermag sich nicht selbst zu erklären und gegen Missbrauch und Missdeutungen zu verteidigen. Nur im lebendigen Wort, im lebendigen Verständnis der Sache und dem ihm entsprechenden Tun sind das Gute und das Göttliche wirklich anwesend. Nicht in der schönen Körperbildung, sondern in der denkenden, verständigen Seele ist das Göttliche wahrhaft zuhause. Denn das Gute offenbare sich nicht den Sinnen, sondern nur dem Vermögen der Einsicht.19

Hiermit sind gewiss nicht alle Schwierigkeiten der platonischen Dichterkritik gelöst, etwa die Frage, ob Plato den Einfluss der mimetischen Künste im Schlechten wie im Guten nicht doch stark überschätzt habe.20 Vor allem blieb offen, wie der Rahmen des Ganzen, der Staatsentwurf der Politeia, zu bewerten sei. Entwirft Plato nicht letztlich doch das Bild eines totalitären Staates, wie Karl Popper meinte? Muss Platos großer Dialog als Anleitung für eine in der Zukunft einzurichtende politische und gesellschaftliche Struktur gesehen werden? Das Verbot von Bild, von Spiel und äußerem Glanz, die strikte Ständeordnung, die Aufhebung der Familie, die immer wieder durchschimmernde Orientierung an dem Staate der Spartaner kann Plato schwerlich als ideal angesehen haben. Bereits das platonische Prinzip des Dialogs, der Rechtfertigung von Überzeugungen im Für und Wider der Argumente lässt die Annahme, Platos Ideal sei ein autoritärer Staat nach spartanischem Muster, abwegig erscheinen. So weist vieles in die Richtung, dass die sokratisch-platonischen Behauptungen in der Politeia nicht ohne Weiteres wörtlich genommen werden dürfen und häufig eine ironische Pointe haben. Die drakonischen Vorschläge zur Erziehung und Staatseinrichtung wirken – es wurde bereits gesagt – wie eine satirisch gesteigerte Reaktion auf die Entartungserscheinungen des damaligen Athen und machen wie in einem Vergrößerungsglas die herrschenden Missstände, vor allem den Mangel an Gemeinsinn, sichtbar. Um es in den Worten von Gadamer zusammenzufassen: Nicht Handlungsentwurf, sondern Satire sei das Wesen von Platos großem Dialog.21

Freilich muss beides sich nicht unbedingt und in jeder Beziehung ausschließen. Handlungsempfehlung und satirische Zeitkritik können in verschiedenen Mischungsverhältnissen auftreten. So tritt in Platos Nomoi (den Gesetzen) das satirische Element zugunsten sehr detaillierter Erörterungen von Rechtssystem und Staatseinrichtung zurück. Bei all dem sollte man jedoch nicht der Illusion erliegen, Plato habe eine Art politisch-philosophischer Gebrauchsanweisung entworfen, die, wenn die Philosophen erst einmal die Macht errungen haben, leicht in die Tat umzusetzen sei. Vielmehr erfordert die Kunst der Politik die mannigfachsten Fähigkeiten, Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit, in die Gliederung des Staatswesens, in die Notwendigkeiten des geschichtlichen Augenblicks, Charisma, soziale Talente, Besonnenheit und Beherztheit, die, wie Plato wohl wusste, miteinander verbunden nur bei Wenigen anzutreffen sind.22

Werfen wir nun noch einen letzten Blick auf Sokrates’ Kritik der künstlerischen Mimesis. Den Anregungen Gadamers folgend haben wir versucht, diese Kritik mit Blick auf die Zeitverhältnisse plausibel zu machen. Allerdings bleibt als Stein des Anstoßes die Tatsache bestehen, dass Sokrates die mimetischen Künste an der Forderung misst, dass sie, anstatt eine Sache abzubilden, diese selbst geben, diese herstellen sollten. Woher diese Forderung? Liegt ihr vielleicht ein verkehrtes Verständnis von Darstellung zugrunde? In der Tat spricht Sokrates von den Abbildern häufig so, als wären sie die abgebildete Sache selbst, nur in einem anderen, sozusagen seinsschwächeren Modus, trügerische Scheindinge also. Auch ein gemaltes Bettgestell sei eine Art Bettgestell, allerdings ein unbrauchbares.23 So könnte es scheinen, als ob hier noch das rechte Verständnis des Bildes fehlt, als hätte Plato das Bild über dem Abgebildeten vergessen, wie dies beim Spiegel der Fall sein kann, der ja auch nicht als Bildträger wahrgenommen wird (und auch keiner ist). Möglicherweise spielte für Plato hierbei folgende Überlegung eine Rolle: Ein Bildnis des Alkibiades bildet ihn (mehr oder weniger getreu) selbst ab. Es zielt auf ihn selbst und nicht etwa auf ein Bild des Alkibiades. Diese Tatsache könnte man nun so verstehen wollen, als wäre der Dargestellte irgendwie selbst im Bild da, doch nun (wegen des Bildcharakters) in der Form eines Trugbildes. Offenbar wird aus der Tatsache, dass Alkibiades selbst dargestellt wird, irrtümlicherweise geschlossen, er sei auch selbst gegeben – allerdings im Modus des Scheins. Mit dem Scheinen wie … ist nun der Anspruch auf Wirklichkeit verbunden, den das Abbild selbst nicht einzulösen vermag, was unvermeidlich zur Diskreditierung der Mimesis führen muss. In anderen Worten: Ein Bild von … gibt sich – so die irrige Auffassung – für das aus, was es nicht ist: die abgebildete Sache selbst.24

Es ist nicht ausgeschlossen, dass in Sokrates’ Abweisung der mimetischen Künste auch solche begrifflichen Konfusionen eine Rolle spielen. Doch unabhängig davon richtet der platonische Sokrates sich vor allem gegen den Missbrauch des Mimetischen, der durch dessen Suggestionskraft noch gefördert werden kann. Die Möglichkeiten solchen Missbrauchs sind gewiss nicht auf das damalige Athen beschränkt. Plato hat darauf aufmerksam gemacht, wie sehr die ästhetische Faszination uns in ‚Schein‘ und Illusionen verstricken kann. Man denke an den Gebrauch ästhetischer Mittel zum Zwecke politischer Propaganda, an das Entarten der Politik in ein Schauspiel, das blinde Leidenschaften erzeugt und Vorurteile verstärkt – Erscheinungen, die uns zur Genüge bekannt sind. Nicht weniger vertraut ist uns die Orientierung an Idolen, die durch die Massenmedien dem Publikum aufgedrängt werden, entstammen sie nun dem Showgeschäft, dem Sport oder der Politik. Jeder Mensch, zumal der junge, bedarf der Vorbilder, der Modelle, um sich in der verwickelten Wirklichkeit orientieren zu können und eine stabile Identität zu entwickeln. Aber hierin liegen zugleich auch die Möglichkeiten der Verformung. Ebenso sind wir mit dem Phänomen der Ästhetisierung vertraut: Man denke an die Ästhetisierung des Schrecklichen, von Krieg und Gewalt, von archaischen Wertmustern, die sich, wie auch Nietzsche erkannte, durch den ästhetischen Schein ins Großartige und Tiefsinnige transponiert sehen. Gegen die ästhetische Verzauberung und die hartnäckige Neigung des Menschen, in Scheinvorstellungen zu leben, hat Plato die Anstrengung der nüchternen Überlegung gestellt.

Mit Platos Kritik an der Kunst ist das vielschichtige Problem des Verhältnisses des Ethischen zum Ästhetischen berührt, das eine eigene Untersuchung erforderlich machen würde. An dieser Stelle begnügen wir uns abschließend mit einigen summarischen Bemerkungen, die die Richtung einer solchen Unternehmung unter heutigen Bedingungen andeuten.

– Ästhetische und ethische Werte sind auch für uns eng miteinander verknüpft. Man werfe nur einen Blick auf unser kunstkritisches Vokabular, Ausdrücke wie streng, beherrscht, gelöst, ausgewogen, entfesselt, gelassen, platt, sentimental, kitschig usw. All dies sind nicht nur rein ästhetische Qualifikationen, sondern sie haben stets auch Bezug auf die moralische Welt, d.h. auf menschliches Verhalten überhaupt, und entlehnen nicht zuletzt hieraus ihren Anspruch auf allgemeine Geltung.25

– Dies heißt natürlich keineswegs, dass in der Kunst nur moralisch einwandfreie Inhalte zur Darstellung kommen sollten. Schon die griechische Tragödie hat dem Verbrecherischen und Pathologischen weitesten Raum gewährt. Moderne Kunst und Literatur haben den Spielraum für das Abseitige, das Krankhafte, das schlechthin Böse, für das Gepeinigte, Gejagte, für alle Schattierungen des Menschlichen enorm erweitert. Beckford, Dickens, Dostojewskij, Poe, Nabokov, Canetti wären hier zu nennen. Doch gibt es für unser Gefühl auch auf diesem Gebiet moralische Grenzen, die zu überschreiten schließlich auch den ästhetischen Wert mindert oder zunichte macht. Man denke etwa an Erzählungen von Ambrose Bierce, der, etwa in Die Brücke am Eulenfluss, virtuos, doch unverblümt sadistisch und eingleisig mit den Erwartungen des Lesers spielt und nur an dessen Sensationslust appelliert. Auch ein Schriftsteller wie Leonid Andrejew hat diesen Hang zum Grässlich-Sensationellen. – Man denke aber auch an den Ausdruck von Vorurteilen vonseiten des Autors, etwa wenn ein großer Schriftsteller wie Dostojewskij aus der Rolle fällt und seiner Abneigung gegen Polen, Juden usw. gehässig nachgibt. Dergleichen ist nicht nur moralisch fragwürdig, sondern mindert zugleich auch den ästhetischen Wert der entsprechenden Passage. Es macht einen Unterschied aus, so meinen wir, ob eine sadistische, abseitige oder mit Vorurteilen belastete Mentalität in einem Werk zur Darstellung kommt oder ob sich ein Autor zum Wortführer solcher Tendenzen macht. Wir vermissen im letzteren Fall die dichterische „Objektivität“, eine sowohl ethische als auch ästhetische Qualität, eine Art von dichterischem Billigkeits- und Gerechtigkeitsgefühl, wodurch die „Wirklichkeit selbst“ und nicht nur eine subjektive Absicht oder gar bloße Clichés zur Sprache kommen. Diese „Objektivität“ sehen wir auch dann verletzt, wenn ein Autor sein Werk vornehmlich dazu benutzt, bestimmte, etwa erzieherische Tendenzen, wie gut sie auch gemeint sein mögen, zu propagieren. In diesem Punkte unterscheidet sich unser künstlerisches Ethos von dem platonischen Ethos der Erziehung. Unser ästhetisches Ethos ist ein Ethos der Authentizität, der Treue zur gelebten Erfahrung in all ihrer Vielschichtigkeit. Natürlich ist diese „Wirklichkeit selbst“ immer eine von Menschen erlebte und erzählte, ja ein Autor kann in die Rolle eines seiner Protagonisten schlüpfen, dessen Perspektive einnehmen und den Leser völlig in seine verquere Welt hineinziehen. Was wir hier als Leser verlangen, ist, dass der Erzähler eine eigene Stimme hat, einen eigenen Ton, dass der Bericht oder die Erzählung die Farbe des Authentischen, von wirklicher Erfahrung besitzt, dass Wirkliches im sprechenden Detail und seiner Komplexität sichtbar wird, dass sich dem Leser mitteilt, wie es ist, ein solcher Mensch zu sein, was es heißt, solche Erfahrungen zu machen.

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