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2. Die Oresteia des Aischylos

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Aischylos’ Oresteia ist die einzige vollständig erhaltene tragische Trilogie. Ihre drei Teile, Agammemnon, Die Choephoren, Die Eumeniden entfalten ein riesiges historisch-mythisches Panorama, in dem der Weg von einer archaischen Auffassung von Recht und Schuld zu einem aufgeklärten Verständnis beider durchschritten wird. In dem komplexen Gewebe, als das Aischylos’ Trilogie vor uns steht, lassen sich die folgenden Hauptlinien unterscheiden.

– Die Überwindung des Systems der persönlichen Rache und der Blutrache durch die Einsetzung eines Gerichtshofes, einer unparteiischen Entscheidungsinstanz.

– Hiermit ist die Überwindung des tragischen Geschicks, des tragischen Sippenfluchs verbunden, der sich von Generation auf Generation forterbte.

– Es wird eine Prozedur entwickelt, die es erlaubt, mit inhaltlich unversöhnlichen Gegensätzen auf versöhnliche Weise umzugehen. Die Oresteia stellt dem Zuschauer zahlreiche Gegensätze vor Augen, wie der zwischen dem alten und dem neuen Recht, den alten und den neuen Göttern, zwischen dem Recht von Frau und Mutter und dem Recht von Mann und Vater. Alle diese Gegensätze können nicht immer wirklich inhaltlich miteinander vermittelt werden. Anstelle einer inhaltlichen Vermittlung tritt das formale Instrument der Entscheidung durch Abstimmung, durch Mehrheitsbeschluss.

– Doch ist dies nicht das letzte Wort von Aischylos’ Lehre von der Politik. Nicht weniger wichtig als die Abstimmung ist die Kunst, die verlierende Partei mit dem Ergebnis zu versöhnen und sie aufs Neue ins politische Leben zu integrieren, um so neuen Konflikten in dem politischen Gemeinwesen zuvorzukommen.

Die Lösung der tragischen Konflikte in Aischylos’ Trilogie kann überraschend modern und untragisch erscheinen. An die Stelle des tragischen Schicksals und der unüberwindbaren Zerrissenheit tritt die Nüchternheit des Gerichtssaals, das helle Licht der vernünftigen Überlegung. Man hat diese nüchterne Lösung unter psychologischen und dramaturgischen Gesichtspunkten häufig unbefriedigend gefunden und darum öfter den versöhnlichen Schluss auf der Bühne weggelassen. Die mythische Gewalt der beiden ersten Teile und der nüchterne Rationalismus des letzten Teils scheinen wie durch einen Stilbruch voneinander geschieden. Doch ist dieser Bruch gerade der Kern von Aischylos’ Trilogie, in der die poetisch anziehende Dunkelheit und die mythische Vieldeutigkeit des Anfangs vor der Helle vernünftigen Denkens im letzten Teil zurücktreten müssen. In Aischylos’ Oresteia vollzieht sich die Entzauberung des mythischen Verhängnisses.

Dieser Prozess sei nun eingehender betrachtet. Der Grundton des Agamemnon-Dramas ist der eines bangen Vorgefühls. Es herrscht ein Klima angstvoller Erwartung, des Verheimlichens und des Verhehlens. Klytämnestra hüllt sich anfänglich vornehmlich in Stillschweigen, und wenn sie spricht, so verbirgt sie ihre wahren Absichten. Die Atmosphäre banger Erwartung verdichtet sich sogleich in der Figur des Wächters, der Tag und Nacht den Horizont nach den Lichtzeichen absuchen muss, die den Fall von Troja verkünden. Furcht hindere ihn, mehr über die in Argos herrschenden Missstände zu sagen. Schließlich blitzt das lang erwartete Feuersignal am Horizont auf, Freude und Drohung zugleich ausdrückend.

Klytämnestra erscheint, um Opferhandlungen zu verrichten, wobei sie die zudringlichen Fragen des Chors zunächst mit Schweigen übergeht. Das Opferfeuer ruft die vermeintliche32 Tötung von Iphigenie, der Tochter Klytämnestras und Agamemnons, in Erinnerung. Agamemnon hatte sie den Göttern als Opfer angeboten, um der Windstille eine Ende zu machen, die die griechische Flotte an der Weiterfahrt nach Troja gehindert hatte. Der Chor erinnert an Agamemnons Tat, die den Rachegedanken der Königin zugrunde liegt. Schließlich bricht diese ihr Schweigen. Sie verkündet, dass Troja eingenommen sei, wobei sie, was auffällig ist, ihr Mitleid mit den besiegten Trojanern bezeugt, was ihren wilden Charakter um menschliche Züge bereichert. Das bereits erwähnte Motiv des Feuers wird in der Folge von Klytämnestra auf großartige Weise entfaltet. Sie beschwört das Bild einer Kette von Signalen, die, über Land und See sich fortpflanzend, das gefallene Troja mit Argos verbindet und Glück und Untergang zugleich in die Stadt zu tragen scheint. Das Bild der Fackelkette ist mit dem häufig auftretenden Bild der Vernetzung, der Verstrickung von Rache und Gegenrache verwandt, die das eigentliche Thema von Aischylos’ Tragödie bildet. „Das Gute möge siegen, ohne Doppelsinn“, ruft Klytämnestra abschließend aus. Ein Ausruf, der selbst doppelsinnig ist, denn was für sie gut ist, ist für Agamemnon und für die Bürger von Argos gerade das Schlechte. Klytämnestras Worte verweisen unmittelbar auf die tragische Mehrdeutigkeit des Guten und des Rechten, die in dem 1. Teil der Trilogie als Recht auf Rache auf fatale Weise mit dem Unrecht verknüpft sind.33

Neben dem Bild des Feuers kommt mit dem Erscheinen von Agamemnon noch ein weiteres vieldeutiges Element ins Spiel: der Läufer von Purpur, den Klytämnestra vor Agamemnon entrollen lässt. Wie ein Rätselding liegt er schweigend vor dem zurückgekehrten König, als Ausdruck der Drohung und der Versöhnung zugleich, als Zeichen der Ehrerbietung und als Requisit der Verführung zur Selbstüberhebung. Der purpurne Läufer ist Erinnerung an alte, nie vergebene Blutschuld und zugleich Symbol königlicher, ja göttlicher Autorität. Indem Klytämnestra den Teppich vor Agamemnon entrollen lässt, scheint sie sich ihm als ihrem Herrn und Meister zu unterwerfen, während in Wahrheit sie es ist, die Agamemnon ihren Willen aufzwingt. Agamemnon weigert sich anfänglich entschieden, den roten Läufer zu betreten, da nur Göttern eine solche Ehrung zukomme. Ob er sich etwa vor den Göttern fürchte, ob Priamos gezögert hätte, die Bahn von Purpur zu betreten? Ob er, der Bezwinger von Troja sich die Vorwürfe des Volkes zu Herzen nehmen müsse?‘ An dieser Stelle gibt Agamemnon sich geschlagen. Größer als seine Furcht vor den Göttern sind seine Ehrbegierde und seine Selbstüberhebung – Eigenschaften, die ihn vor Jahren dazu brachten, die eigene Tochter zu opfern.

Agamemnon lässt sich von seinem Schuhzeug befreien und betritt argwöhnisch das kostbare Gewebe. Barfüßig erscheint er plötzlich wie ungeschützt. Die Ehrung, die ihm zuteil wird, lässt ihn zugleich auch verwundbarer erscheinen. Und der Leser oder Zuschauer kann in dem kostbaren Gewebe, das der König betritt, kaum etwas anderes sehen als einen Vorboten des tödlichen Netzes, in das verstrickt Agamemnon seinen Tod finden wird. Das mehrdeutige Requisit steht jedoch nicht nur für das gewaltsame Ende des Agamemnon. Es ist zugleich auch Sinnbild für die verhängnisvolle Verstrickung der Protagonisten, für die fatale Verwobenheit von Gut und Böse im tragischen Geschehen. – Doppelsinn verbirgt sich auch in der Anspielung auf Priamos. Ein siegreicher Priamos hätte sich nicht geweigert, den Teppich zu betreten, gibt Klytämnestra zu bedenken und vermag hiermit Agamemnon umzustimmen. Doch Priamos hat, wie jeder weiß, mit seiner Stadt den Untergang gefunden. So also lässt sich der verblendete Agamemnon die Rolle des Verlierers aufdrängen.

Die von dem Dichter kunstvoll aufgebaute Spannung erreicht einen ersten Höhepunkt mit Kassandras Weigerung, dem König in den Palast zu folgen und entlädt sich auf erschütternde Weise in den Verzweiflungsschreien der Seherin, die prophetisch Agamemnons und ihr eigenes Ende vor sich sieht. Indem die blutige Vergangenheit des Hauses der Atriden vor dem Chor in Erinnerung gerufen und das zukünftige Los dieser unglücklichen Familie beschworen wird, wird die Atmosphäre banger Erwartung noch verschärft, die schließlich in den Todesschreien des Agamemnon zum Ausbruch kommt.

Nach vollbrachter Tat lässt Klytämnestra endlich die Maske fallen, hinter der sie ihre wahre Art und ihre Absichten verborgen hielt. Auch tritt nun ihr Liebhaber Ägisth aus dem Dunkel des Schweigens und des Gerüchtes hervor, als der tyrannische Usurpator, der er ist und als Feigling, der die Ausführung des Mordes der Königin überlassen hatte. Diese durchmisst in dieser letzten Szene die verschiedenartigsten Gemütszustände. Erst tritt sie provozierend vor dem Chor auf, wie eine Göttin der süßen Rache, die an Agamemnon und Kassandra begangene Untat genießend. In einem wilden Ausbruch bekennt sie sich zum blutigen Dämon ihrer Familie und sieht ihre Tat nicht so sehr als ihre eigene Tat, sondern als schicksalhafte Folge der dämonischen Verstrickung ihres Clans. „Das vergossene Blut ist noch warm, schon strömt neues Blut“. So nimmt Klytämnestra ihr eigenes Ende vorweg, in Übereinstimmung mit dem vom Chor verkündigten ‚Gesetz‘, worin dieser den Willen des Zeus und der Dike zu erkennen meint: „Wer vernichtet, der wird durch den Tod vernichtet“. Klytämnestra, die gerade noch den von ihr begangenen Mord bejubelte, schließt mit dem Wunsch, dass die Zukunft dem Dämon des Wechselmordes ein Ende machen möge. Denn Blut sei mehr als genug geflossen.

Agamemnon entspricht mehr als die beiden folgenden Teile der Trilogie dem gängigen Bild einer griechischen Tragödie. Emotionale Hochspannung, eine Aufeinanderhäufung von Gräueln, die Verstrickung der Täter, hier von Agamemnon und der stolzen Klytämnestra in das von ihnen selbst gespannte Netz. Bezeichnend für das religiös-ethische Klima des ersten Teils ist die Tatsache, dass die Verschränkung von Untat mit neuer Untat hier noch als göttliches Gesetz, als Wille von Zeus ausgegeben wird. Die Läuterung, die sich in der Folge vollziehen wird, ist zugleich Reinigung des Bildes des Gottes und des göttlichen Ethos von seinen blutigen archaischen Zügen.

Der zweite Teil, die Choephoren, atmet eine veränderte geistige und seelische Atmosphäre. Anstelle des Klimas von Verhehlen und Verschweigen dominieren nun Offenheit und Entschiedenheit. Im Gegensatz zu Klytämnestra, die lange ihre wahren Absichten verborgen hielt, macht Orest am Grabe seines Vaters sogleich deutlich, wofür er steht und was das Ziel seines Kommens nach Argos ist. Der Gott Apollon habe ihm unter Androhung schrecklicher Strafen geboten, den Tod seines Vaters Agamemnon zu rächen. Doch auch wenn man den Worten des Gottes (oder der Pythia) nicht ganz trauen könne, so „muss doch die Tat geschehen“. Aus mehreren Gründen sieht sich Orest zur Tat genötigt: Der Auftrag des Gottes, die geschändete Ehre seines Vaters, sein eigenes elendes Leben in der Fremde, die drückende Tyrannei von Klytämnestra und Ägisth, dies alles mache seine Tat unvermeidlich. Orests Charakter weist nicht die Züge archaischer Grausamkeit auf, die seiner Mutter eignen. Er sieht sich vielmehr als Vollstrecker des Rechts und erscheint als jemand, der aufgrund sorgfältiger Überlegung handelt. Obwohl dem Geheiß des Gottes folgend, versteht er sich als für sein Handeln selbst verantwortlich. Er ist der Königssohn, der seine angestammten Rechte zurückfordert und die Ordnung wiederherstellt. Sofern sich Zweifel melden, versucht er sie unter Berufung auf Apollon abzuschütteln. Es ist bezeichnend für das Stück, dass nun nicht mehr wie im ersten Teil mehr oder weniger gesichtslose, anonyme Mächte, Dike oder Zeus oder das Los der eigenen Sippe, Orest zur Tat veranlassen, sondern ein deutlich umgrenztes Individuum, Apollon, der Orest explizit mit detailliert umschriebenen Strafen droht. Obwohl Orest in der Konfrontation mit seiner Mutter von grimmiger Härte ist, fehlt bei ihm der Zug archaischen Blutdurstes, der die Seele seiner Mutter beherrscht. Auch Aischylos’ Elektra hat nicht die wilde Wesensart ihrer Mutter: Am Grabe ihres Vaters befällt sie der Zweifel, ob es recht sei, die Trauer um den ermordeten Vater mit dem Wunsch nach Rache zu verbinden. Hier klingt bereits eine gemäßigtere Denkweise durch, die sich vom archaischen Rechtsverständnis entfernt.

Obwohl nun mit Orest und Elektra maßvollere und aufgeklärtere Charaktere die Bühne betreten, bleibt auch Orest in dem verhängnisvollen Zirkel von Rache und Gegenrache gefangen. Zwar ist er sich bewusst, nicht aus niedrigen Beweggründen gehandelt zu haben. (Die Tat Klytämnestras dagegen ist moralisch zweideutig: Sie rächt nicht nur die Tötung ihrer Tochter, sondern befreit sich auch von ihrem Ehegatten zugunsten ihres Liebhabers.) Jedoch bleibt auch Orest an das archaische Rollenmuster seiner Familie gebunden, etwa wenn er, einem Rachegott gleich, das blutbefleckte Schwert in den Händen, aus dem Innern des Palastes hervortritt. Doch anders als seine Mutter kann sich Orest nicht dem Gefühl der Schuld entziehen, das nach vollzogener Tat von seiner Seele Besitz ergreift. Der archaische Genuss am Blutvergießen ist ihm fremd. Er beginnt sogar daran zu zweifeln, ob Ägisth – auch er wird von Orest erschlagen – den Tod wirklich verdient hat. In Orest beginnt somit ein nuancierteres sittliches und rechtliches Bewusstsein zu erwachen. Dies jedoch kann ihn nicht vor den Rachegöttinnen, den Erinnyen, schützen, die den Mörder weiblicher Blutsverwandter und vor allem den Muttermörder zu verfolgen haben und in denen sich in urtümlicher Weise Rechtsbegriffe mit Blutdurst verbinden. Unverhohlen genießen die Erinnyen „wie Hunde“ den Geruch vergossenen Blutes.

Kennzeichnend für das Stück ist jedoch, dass die Mächte des „Rechts“, die Erinnyen, jetzt in eigener Person auftreten. Sie sind nicht mehr länger gesichtslose, anonyme Instanzen, wie der im ersten Teil so oft beschworene ungreifbare „Wille des Zeus“. Sie treten vielmehr aus ihrer Verborgenheit heraus. Fast ist es, als ob sie in Aischylos’ Drama in all ihrer Abscheulichkeit zum ersten Mal aus der Tiefe im Tageslicht erscheinen: stinkend nach Blut und Verwesung. Von „den Hunden seiner Mutter“ gejagt, verlässt Orest den Schauplatz.

Der dritte Teil Die Eumeniden fasst den langen Weg von Leiden und Entsühnung, den Orest durchmisst, in einigen markanten Szenen zusammen. Dieser, noch stets auf der Flucht vor den Erinnyen und von seinem eigenen Schuldgefühl verfolgt, hat im Heiligtum der Pythia in Delphi Zuflucht gesucht, umringt von seinen vorweltlichen Plagegeistern, die ermattet von der Verfolgungsjagd in Schlaf gefallen sind. Apollon erscheint und bekräftigt seine Loyalität gegenüber Orest. Er prophezeit ihm, dass er über Land und See von den Erinnyen gejagt werden und dass erst in Athen ein Gericht über seinen Fall entscheiden wird. Apollon ermahnt seinen Schützling, sich nicht von Furcht überwältigen zu lassen und übergibt ihn der Obhut des Götterboten Hermes. Wichtig an dieser Szene ist, dass der Gott Orest nicht garantieren kann, dass er freigesprochen wird, und dass er an dessen Standfestigkeit, an seine Selbstständigkeit appelliert. Und ebenso ist bemerkenswert, dass der Gott nun selbst aus seiner Verborgenheit hervortritt und sich nicht mehr hinter den vieldeutigen Aussprüchen der Pythia verbirgt. Er erklärt sich unumwunden bereit, seine Verantwortung für den an Orest ergangenen Befehl zu übernehmen.34

Während die Worte des Apollon die Aussicht auf einen ordentlichen Rechtsgang eröffnen, erscheint nun als Gegenbild des Lichtgottes der Schatten Klytämnestras, der den Gedanken an Rache nicht fahren lassen kann und die Erinnyen anstachelt, den entflohenen Orest zu verfolgen, wie Jagdhunde ihre Beute. Nach einem scharfen Wortwechsel zwischen Apollon und den Erinnyen verlagert sich die Szene nach Athen. Hier wird sich zeigen, dass die Macht der Rachegöttinnen über Orest zwar nicht völlig gebrochen, jedoch beträchtlich geschwächt ist.

Geläutert und gereinigt betritt Orest hier das Heiligtum der Göttin Pallas. Der moderne Leser wird sich vielleicht fragen, wie diese Reinigung eines Muttermörders überhaupt möglich ist. Muss eine solche Schuld den Täter nicht ewig verfolgen? Kann sie jemals abgegolten werden? Zum Verständnis der „Reinigung“ des Orestes muss man sich die folgenden Elemente vor Augen führen. Zum einen, dass Orest nicht um seines eigenen Vorteils willen handelte, sondern in dem Bewusstsein, das Rechte zu tun. Zum andren, dass seiner Ankunft in Athen eine lange Irrfahrt voranging, ein Weg voller Bußübungen und zahlreicher Reinigungsrituale. „Kenntnis vieler Gebräuche, um für seine Schuld zu büßen“, hat Orest „in der Schule des Leidens erworben“. Er habe gelernt, so fährt er fort, wann er zu reden habe, wann zu schweigen. (Auch dies vielleicht eine Anspielung auf Klytämnestra, die früher schwieg, als sie besser hätte reden sollen, und die nun nicht zu schweigen, sondern nur zur Rache aufzurufen vermag.) „Hier und jetzt“ – noch immer von den Erinnyen verfolgt – muss er reden und er weist auf die Opferhandlungen hin, durch die er im Tempel Apollos von Blutschuld gereinigt wurde. Und zum Schluss erinnert Orest an die heilende Wirkung der Zeit: Mit dem Verstreichen der Zeit vergeht auch das Geschehene. Die Zeit kann alten Konflikten ihre Schärfe nehmen und gibt dem Mensch die Möglichkeit, sich zu erneuern und sich nach langem Leidensweg wiederherzustellen. Es zeigt sich hierin eine neue Auffassung vom menschlichen Leben: Während Klytämnestra an die blutige Vergangenheit gekettet bleibt, erscheint für Orest nun die Zeit als die Macht, die das Vergangene überwindet. Nimmt man alle diese Elemente zusammen, dann wirken die Läuterung und die Reinigung des Orest weniger unverständlich, als es auf den ersten Blick erscheinen kann.

Mit dem Auftritt der Göttin Pallas Athene verstärkt sich das maßvolle Klima, das aus den Worten des Orest spricht. Ihre Worte und ihre Erscheinung, worin sich jugendliche Schönheit, Strenge, und Ehrerbietung vor den Erinnyen verbinden, wissen selbst die Rachegöttinnen zu besänftigen. Vom Charisma der Göttin bezaubert, wollen sie Athene zum Schiedsrichter ernennen. Doch diese, einer jüngeren Göttergeneration zugehörig, ist sich ihrer Voreingenommenheit bewusst und weist die ihr zugedachte Rolle zurück. Sie schlägt vor, einen Rat von Bürgern einzusetzen und ihnen den Urteilsspruch anzuvertrauen. Noch einmal werden daraufhin die unterschiedlichen Standpunkte von Apollon und den Erinnyen aufs Heftigste auseinandergesetzt. Was im ersten Teil des Werkes ungeschieden als Wille von Zeus ausgegeben wurde, das Gesetz der Blutrache, sieht sich nun auf zwei Gottheiten verteilt, die mit großem Aufwand an Scharfsinn ihren Standpunkt zu verdeutlichen versuchen. Das Drama enthüllt sich somit als Suche nach dem eigentlichen, dem wahren Willen des Zeus. Doch bleibt auch nach der Abstimmung dieser Wille undeutlich. Keine Partei konnte die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen, und es ist schließlich Athene, die mit ihrem Votum das Ergebnis zugunsten des Orest wendet. Sie bekennt sich dazu, parteiisch zu sein. Als Tochter nur des Zeus fühle sie sich mehr dem Los von Orest und Agamemnon verbunden als dem Los der Frauen, Klytämnestra und Iphigenie also.

Es kann nicht verwundern, dass diese Entscheidung den wilden Widerstand der (Erd- und) Rachegöttinnen hervorruft, die ihre Ehre verletzt und ihre Autorität mit Füßen getreten sehen. Es bedarf der ganzen Überredungsgabe der Athene und all ihres Charismas, um die Erinnyen mit der neuen Situation zu versöhnen. Unermüdlich wiederholt die Göttin ihr Angebot: „Ein ewiger, ehrvoller Verbleibplatz in Athen“ solle den Rachegeistern zuteil werden, und ihre Anführerin solle einen Ehrenplatz neben der Göttin Athene erhalten. Schließlich, nach langem Zureden geben sich die Erinnyen geschlagen und nehmen ihre neue Rolle an: Aus Göttinnen der Rache verwandeln sie sich – immer noch Gottheiten der Erde – in Beschirmherrinnen der Ernte, des Kreislaufs des Lebens und der Fruchtbarkeit. Mit einem Freudenhymnus schließt das Stück.

Was hat sich hier vollzogen? Als was hat sich nun am Ende des Stücks der Wille des Zeus enthüllt? Ist eine wirkliche Versöhnung zustande gekommen oder ist es nicht vielmehr so, dass die Normen der jungen Göttergeneration den Sieg errungen haben und dass ein parteiisches Ethos, das Ethos von eher männlichem Zuschnitt über die alten Götter und ihre Rechtsauffassung triumphierten? Und ist hiermit nicht der Keim für einen neuen Konflikt angelegt, der nur unterdrückt, nicht jedoch wirklich gelöst worden ist? Es ist hier nicht der Ort, um alle Aspekte dieses Problems zu behandeln. Doch nimmt die politische Botschaft von Aischylos’ Stück gerade auf diese Fragen Bezug. Die Oresteia leugnet nicht die Möglichkeit immer neuer oder sich immer aufs Neue entzündender Gegensätze und Konflikte. Sie verweist darum auf die Kunst der Politik und auf die politischen Instrumente der Konfliktbewältigung: die Abstimmung durch eine Jury und die Einsetzung einer Schiedsinstanz im Falle von Stimmengleichheit. Nicht weniger wichtig jedoch als das Prinzip der Abstimmung ist der Wille, das Vertrauen der unterlegenen Partei zu gewinnen. Diese müsse in die politische Gemeinschaft integriert und mit dem Ergebnis versöhnt werden. Parteilichkeit und Einseitigkeit lassen sich nicht in jedem Falle vermeiden. Umso wichtiger ist die Bereitschaft, auf die unterlegene Partei zuzugehen, um sie für die neue Ordnung zu gewinnen.

Als was hat sich nun der Wille des Zeus ergeben? Was beinhaltet das göttliche Gesetz, von dem im ersten Teil so häufig die Rede gewesen ist? Es ist Athene, die das wahrhaft Göttliche darstellt: Der Maßlosigkeit sei abzuschwören, dem freien Austausch von Argument und Gegenargument müsse Raum gegeben werden, die Entscheidungsfindung habe unnötige Verletzung und Demütigung der unterlegenen Partei zu vermeiden und der Gedanke, dass trotz aller Gegensätze das Ganze der Polis erhalten werden müsse, habe unbedingt im Vordergrund zu stehen.

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