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4.2 Plato und die wahre Tragödie

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Gegen den sophistischen und ästhetischen Schein wird in Platos Dialogen immer wieder auf die wirkliche ethische Praxis hingewiesen. Ganz in diesem Geist wird in den Nomoi Folgendes gegen die Tragödiendichter vorgebracht: Wir selbst sind die Dichter der schönsten und besten Tragödie. „Denn unser Staat ist mimesis, Nachahmung des schönsten und vortrefflichsten Lebens und das ist doch das Thema der Tragödie.“26 Das sittliche Handeln gilt hier als das wahrhaftig Schöne, als dasjenige, das sich wirklich vor den Augen aller zeigen darf. Ein Schönheitsideal von farbloser Nüchternheit wird hier entworfen, das der athenischen Verliebtheit in den Schein, in das Extravagante, in die rhetorische Virtuosität entgegengesetzt ist.

Diese Nüchternheit kehrt in Platos literarischer Antwort auf die Dichtkunst wieder: in seinen Dialogen. Diese sind häufig kunstreich entfaltete Szenen, in denen auf den ersten Blick nebensächliche Details gleichsam unterirdisch eine wichtige Rolle spielen können. Es sind, wie bereits hervorgehoben, literarische Werke eigenen Rechts und sicher nicht nur in Dialogform gegossene wissenschaftliche Abhandlungen. Es ist bekannt, dass Sokrates seine Gesprächspartner häufig mit Scheinargumenten in Schwierigkeiten bringt, ohne dass diese die Sophismata durchschauten. Diese Gesprächspartner sind zu weitgehender Passivität verurteilt, denn die Gesprächsführung liegt weitgehend in den Händen von Sokrates. Gadamer und andere haben deutlich gemacht, dass die relative Farblosigkeit von Sokrates’ Gesprächspartnern dem Zweck dient, dem Leser oder Zuhörer gleichsam Raum zu schaffen. Der Leser soll sich nun selbst ein Bild von der Sache bilden, ohne das Gesagte für bare Münze nehmen zu müssen oder gar als eine vom Meister autorisierte Lehrmeinung. Der Leser sieht sich durch die mehr oder weniger offensichtlichen Ungereimtheiten im Gesprächsverlauf zum Nachdenken aufgefordert, er muss mitspielen, den sachlichen und logischen Unstimmigkeiten oder den wirklichen Einsichten auf die Spur kommen und die häufig verborgene Absicht zutage fördern. Somit entwerfen Platos Dialoge ein Gegenbild zur mitreißenden, betäubenden Kunst der Tragödie.

Kehren wir abschließend noch einmal zum Anfang dieses Kapitels zurück, zum Bilde des in der Morgendämmerung wachenden Sokrates und zu Sokrates’ Behauptung, dass der gute Tragödiendichter auch Komödien müsse schreiben können und umgekehrt. Es ist nicht ganz klar, was hier unter Tragödie und Komödie zu verstehen ist. Geht man von der gängigen Vorstellung aus, dass die Tragödie mit den besten und vornehmsten Menschen zu tun hat, die Komödie mit den weniger Vortrefflichen – eine Definition, der wir auch bei Aristoteles begegnen – dann ist der Sinn des sokratischen Ausspruchs offenbar der folgende: Wer das wahrhaftig Edle und Vornehme abbilden will, muss auch das weniger Vornehme, das Unedle kennen und vorführen können und umgekehrt. Beides erläutert einander wechselseitig.27

Vielleicht aber zielt Sokrates’ Behauptung auch auf die platonischen Dialoge selbst, in denen das ‚Tragische‘ und das ‚Komische‘ ineinander verwoben sind. Denn viele Dialoge haben das vortreffliche, das beste Leben zum Thema. In dieser Beziehung wären sie also Tragödien, denn in der tragischen Dichtung dürfen nur die Besten, die wirklich hochstehenden Menschen auftreten. Andererseits entfalten die Dialoge häufig mit den Mitteln der Komödie, mit List und Ironie, die Entlarvung des ungerechtfertigten Anspruchs auf Wissen, die Aufdeckung der Verwechslung des nur scheinbar Guten mit dem wahrhaftig Guten und sind somit als Komödien zu charakterisieren. – Das hohe und das niedrige Genre sind schließlich noch in einer anderen Beziehung ineinander verschränkt. Denken wir daran, dass Sokrates häufig im ‚technischen‘ Wissen, dem Wissen des Handwerkers, das Modell echter Erkenntnis erblickt. An dem Wissensmaßstab des einfachen Mannes werden die Wissensansprüche der hochgestellten Athener Bürger gemessen und als zu leicht befunden.

Sehr wahrscheinlich bezieht sich die Bemerkung über die Verschränkung von Komödie und Tragödie jedoch auch auf Sokrates selbst und seine Gesprächspartner. Platos Dialoge zeigen, dass Sokrates trotz seines satyrhaften Aussehens, wodurch er eher der Welt der Komödie angehört, in Wirklichkeit die echte Erhabenheit und den echten Ernst verkörpert. (Bei der Betonung des satyrhaften Äußeren des Sokrates mag allerdings auch die Tatsache eine Rolle gespielt haben, dass der Satyr oder der Silen auch als Verkörperung der Weisheit gelten konnte.) Viele der sokratischen Gesprächspartner dagegen, die häufig der athenischen Elite angehören (oder wie die Sophisten der intellektuellen Elite Griechenlands), und die somit geeignet scheinen, in einer Tragödie zu figurieren, entpuppen sich im Gespräch, auch wenn sie sich nach besten Kräften bemühen, als gedankenlos und als ohne rechten Begriff davon, worum es im Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft wirklich zu tun ist. In diesem Rollentausch gehen Tragödie und Komödie ineinander über. Der gewiss nicht vornehm aussehende Sokrates entpuppt sich als der wahre tragische Held. Einsicht und Standhaftigkeit lassen ihn den Tod wählen, während der Bühnenheld von Leidenschaften verblendet in seinen Untergang eilt. Und anders als viele tragische Helden und Heldinnen antwortet er auf sein Los nicht mit emotionalen Ausbrüchen. Vielmehr nimmt er sein Geschick voller Seelenruhe und nicht ohne innere Heiterkeit an, die vielleicht eher der Komödie als der Tragödie angehört.

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