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3. Der Orest des Euripides35

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Der Orest des Euripides zeigt die Entartung des politischen Projekts, wie es sich dem Werk des Aischylos entnehmen lässt. Es demonstriert den Verfall der politischen Tugenden und liefert einen bitteren Kommentar zur politischen Situation seiner Zeit und zur politischen Botschaft seines großen Vorgängers. Die Erhabenheit der Sprache und der Charaktere, wie sie das Werk des Aischylos charakterisiert, ist in weite Ferne gerückt. Euripides’ Tragödie weist das fieberhafte Tempo eines politisch-psychologischen Thrillers auf.

Euripides’ Stück beginnt mit einem vielsagenden Kontrast. Auf der einen Seite sehen wir den todkranken, bewusstlosen und allem Anschein nach blutjungen Orest – der Mord an Klytämnestra ist bereits begangen – mit seiner Schwester Elektra. Beide jungen Leute finden sich, von Wachen umzingelt, in die Enge getrieben, während das Todesurteil – die Volksversammlung muss hierüber noch zu einer Entscheidung kommen – wie ein Damoklesschwert über ihren Köpfen schwebt. Auf der anderen Seite stehen Menelaos, Agamemnons Bruder, und Helena, seine Frau, die soeben nach zehnjähriger Abwesenheit aus Troja zurückgekehrt sind. Die Anstifter allen Unheils sind wieder in Argos, reich und unversehrt. Helena sogar ebenso schön wie früher. Doch vermeidet sie es, auf der Straße zu erscheinen. Sie fürchtet die Rache des Volkes, das in ihr nicht zu Unrecht die Urheberin des verhängnisvollen Feldzuges gegen Troja sieht. Bemerkenswerterweise ist Helena übrigens die Einzige im ganzen Stück, die aufrechte Worte des Mitleids für ihre unglücklichen jungen Verwandten, Orest und Elektra, findet. Anders als bei Aischylos sind im Stück des Euripides ein Rechtssystem und eine politische Ordnung bereits seit langem in Geltung. Doch handelt Orest auch hier noch auf Weisung des Apollon. Allerdings sind die Autorität und das Recht des Gottes – bei Aischylos deutet sich das schon an – nicht unumstritten. Seine Autorität scheint ausgehöhlt und wird unverblümt angefochten. Das Stück spielt somit im Spannungsfeld von göttlicher Autorität, dem delphischen Orakel, das bereits viel von seiner Kraft verloren hat, und einer bereits etablierten Rechtsordnung. Doch der eigentliche Akzent liegt auf etwas anderem, nämlich auf dem Verfall der politischen und der privaten Moral, auf der Korruptheit und Wankelmütigkeit fast aller Protagonisten. Gegebene Versprechen gelten nicht, Worte und Taten stimmen nicht miteinander überein. Die Verteidiger von Recht und Ordnung entpuppen sich als rachedurstige Moralisten.

In der Figur des Orest zeichnet Euripides einen außergewöhnlich labilen Charakter, der durch momentane Aufwallungen hin- und hergerissen wird. Dieser junge Mann ist, ohne eigentlich schlecht zu sein, leicht zu beeinflussen und lässt sich dergestalt zu den wildesten Aktionen verleiten. Diese Schwäche seines Charakters zeigt sich bereits in seinem Verhältnis zu Apollon: Nicht er, Orest, sondern Apollon sei der Hauptschuldige, ruft er aus. Andererseits wagt er es, obwohl von Krankheit geschwächt, angespornt und gestützt von seinem Freund Pylades, in der Volksversammlung zu erscheinen, um da seinen Standpunkt und sich selbst zu verteidigen, diesmal übrigens ohne sich auf Apollon zu berufen. Davor jedoch hatte er sich dazu herabgewürdigt, was er selbst geradezu verachtenswert findet, Menelaos auf Knien anzuflehen, ihn zu unterstützen – um Helenas willen, für die Orest wiederum nur Abscheu fühlen kann.

Und Menelaos selbst? Der große Kriegsheld entpuppt sich als übermäßig besorgter Diplomat.36 Als einer der Anstifter des Feldzugs nach Troja fürchtet er die Volkswut und den Einfluss des Ägisth, der, anders als bei Aischylos, in Euripides’ Stück nicht von Orest getötet wurde. Zudem hofft er, Nachfolger seines ermordeten Bruders Agamemnon und König von Argos zu werden. Das Los seines unglücklichen Neffen stößt bei Menelaos vor allem auf Desinteresse: „Keine Gräuelgeschichten, bitte“, bemerkt er kurz angebunden zu Orest, der immerhin um sein Leben fürchten muss. Allerdings verspricht er seinem Neffen, in der Volksversammlung für ihn einzutreten, ein Versprechen, dem er jedoch nicht nachkommt. Der große Heerführer zeigt einen ausgesprochenen Mangel an Loyalität und Zivilcourage. – Von seinem Oheim Tyndareos, dem Vater von Helena und Klytämnestra, kann Orest schon von vornherein keine Unterstützung erwarten. Der Mann hat überhaupt keinen Familiensinn. Helena, Klytämnestra, Orest, alle hätten sie die schwersten Strafen verdient. Anfänglich macht Tyndareos jedoch einen recht vernünftigen Eindruck. Er wirft Orest vor, das Recht in eigene Hände genommen zu haben, anstatt vor Gericht zu gehen. Er erinnert an das alte Rechtsprinzip, dass Mörder nicht mit dem Tode bestraft, sondern aus der Stadt verbannt werden sollten. Verständige Worte und vernünftige Grundsätze, die Tyndareos jedoch, in plötzlicher Wut entflammt, ohne Weiteres wieder preisgibt. Er werde für die Steinigung von Orest und vor allem von Elektra plädieren, verkündet er wütend und verlässt entrüstet die Szene.

Die Volksversammlung lässt das Auseinanderfallen von Worten und Taten noch deutlicher zutage treten. Menelaos ist schlicht nicht erschienen. Auch Tyndareos ergreift nicht selbst das Wort, sondern lässt einen ‚Demagogen‘, einen gemieteten Redner, der nicht einmal Bürger der Stadt ist, gegen seinen jungen Verwandten auftreten. Ein ehemaliger Herold des Agamemnon läuft opportunistisch ins Lager des Ägisth über und verurteilt die Tat des Orest. Diomedes, einer der großen Helden des Trojanischen Krieges, plädiert allerdings für eine gemäßigte Haltung, für die Verbannung des Orest, ohne jedoch Gehör zu finden. Ein Mann aus dem Volk, ein Bäuerlein, findet Orests Tat völlig in Ordnung, denn Frauen müssten im Zaum gehalten werden. Schließlich ergreift Orest selbst das Wort. Er knüpft bei der Rede des Manns vom Lande an, Mord und Ehebruch, jedenfalls, wenn sie von Frauen begangen werden, müssten schwer bestraft werden. Doch hat seine Rede nicht den gewünschten Effekt. Orest und Elektra werden von den versammelten Bürgern zum Tode verurteilt: Die Steinigung solle ihnen jedoch erspart bleiben; vielmehr sollen sie sich selbst töten. Orest kehrt in den Palast zurück, bereit wie ein tragischer Held das Unvermeidliche auf sich zu nehmen. Da erscheint plötzlich Pylades, der vorschlägt, sich an Menelaos zu rächen und Helena in den gemeinsamen Tod mitzureißen. Dieser Vorschlag, der enthusiastisch aufgenommen wird, lässt die kriminelle Energie von Elektra entflammen. Sie regt an, Hermione, Helenas Tochter, als Geisel zu nehmen und mit ihr aus der Stadt zu fliehen.

Die Tragödie entartet in ein Gangsterstück, in dem drei blutdürstige Teenager den Ton angeben und dessen Absurdität noch durch die burleske Episode mit dem phrygischen Diener unterstrichen wird, der im Stile der Komödie sich überaus ängstlich gebärdet. Schließlich, als Orest, das Schwert an die Kehle von Hermione setzend, auch noch den ganzen Palast in Flammen aufgehen lassen will, erscheint Apollon – neben sich Helena, die auf wunderbare Weise dem rächenden Schwert des Orest entzogen wurde. „Orest wird in Athen auf dem Areopag freigesprochen werden“ verkündet der Gott und nimmt anders als der Apollon des Aischylos den künftigen Freispruch des Orest vorweg. Orest solle König von Argos werden. Menelaos jedoch nach Mykene zurückkehren.

Wir wissen nicht, wie weit alle Zuschauer die bittere Ironie dieses Schlusses goutiert und begriffen haben. Dem nachdenklichen Zeitgenossen wird jedoch der wilde Spott dieser Tragödie kaum entgangen sein. Die geplanten, ja die schon begangenen Taten und Missetaten des Orest werden mit einem Federstrich, durch göttliches Dekret, ohne Prozess, zu folgenlosem Spiel erklärt, über das ein Gott sich großzügig hinwegsetzt. Die Oberflächlichkeit und Leichtfüßigkeit des euripideischen Gottes lassen jedoch, wie auf einem kontrastierenden Hintergrund, die Wirklichkeit des Menschen erscheinen, die eben nicht ohne Weiteres widerrufen werden kann. Im strahlenden Lichte der Apotheose erscheint die korrupte politische Wirklichkeit der Zeit in den grellen Farben der Satire. Es ist dieselbe satirische Absicht, die auch Platos Politeia beseelt. Euripides entfaltet vor seinen Zeitgenossen ein Bild ihrer Polis, das den dunklen Hintergrund zu Platos Entwurf eines Staates der Erziehung bildet.

29 K. von Fritz, Tragische Schuld und poetische Gerechtigkeit in der griechischen Tragödie, in Antike und Moderne Tragödie, Berlin 1962.

30 W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt am Main 1963 (1928), 100ff. Vgl. hierzu die Figur des Orestes in Aischylos’ Oresteia.

31 C. Meier, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt am Main 1980. Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988. Athen, ein Neubeginn der Weltgeschichte, Berlin 1993, vor allem 660–663. Die hier vorgetragene Deutung der Oresteia ist Meiers Interpretation in wichtigen Hinsichten verpflichtet. Das Bild von Euripides’ Orestes-Drama ist jedoch unabhängig von Meiers Deutung der euripideischen Version des Orestes-Stoffes entstanden, sah sich jedoch nach Abschluss des Manuskriptes durch Meiers Befunde glücklich bestätigt.

32 Iphigenie wird vom Opferaltar durch göttlichen Eingriff gerettet.

33 Nach der Übersetzung von W. von Humboldt, Aischylos, Die Tragödien, Frankfurt am Main 1961, 129.

34 Diese Züge entsprechen W. Benjamins Theorie der Tragödie.

35 Euripides, Orestes and Other Plays, übers. und eingel. von P. Vellacott, Harmondsworth Middlesex 1972.

36 Aristoteles glaubte diese Charakterschilderung des Menelaos kritisieren zu müssen. Poetik, Griechisch-Deutsch, übers. und hrsg. von M. Fuhrmann, Stuttgart 1982, 15. und 25. Kapitel, 47–48 und 94–95.

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