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II.
EXKURS: ATTISCHE TRAGÖDIE UND POLITIK 1. Einleitende Bemerkungen

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In Platos Kritik an der Polis seiner Zeit erscheinen die Sophistik und die Kunst der Tragödie als Symptome des Niedergangs des politischen und gesellschaftlichen Lebens in Griechenland und vor allem in Athen. Diese von Plato vorgenommene enge Verknüpfung von Tragödie, Sophistik und politischer Krise verdeckt allerdings einen wichtigen Zug der attischen Tragödie, jedenfalls insoweit sie uns überliefert ist. Nicht anders als ein platonischer Dialog kann auch die tragische Dichtung den Verfall der politischen Ordnung darstellen und die Entartung der politischen Moral anprangern. Die Tragödie und nicht weniger die Komödie sind hierzu besonders geeignet, da sie Entscheiden und Handeln, darunter auch das politische Handeln, und die komischen oder verhängnisvollen Risiken, die hiermit verbunden sind, zum Thema haben. Die Verwobenheit von politisch-moralischer Reflexion und tragischem Prozess ergibt sich überdies aus der Rolle des Chors, der, wie parteiisch und wankelmütig er auch sein mag, ein öffentliches Forum ist, vor dem der Held und die Heldin sich verantworten müssen oder sich zur Rechtfertigung gedrängt fühlen. Die politischen und juristischen Dimensionen der Tragödie erhellen schließlich auch aus der Tatsache, dass manche der prominentesten Tragödien einen Kriminal- oder Rechtsfall darstellen, bei dem entweder der Täter gesucht wird oder über Schuld und Unschuld der Protagonisten zu entscheiden ist.

Die politische und rechtliche Bedeutung der klassischen griechischen Tragödie wurde lange Zeit durch andere Deutungsmuster verdeckt. Hierbei muss in erster Linie an die für Jahrhunderte populäre moralistische Deutung29 der Tragödie gedacht werden, die das tragische Geschick als Strafe der Götter für sittliche Verfehlungen ansah. Diese allzu begrenzte Auffassung – worin etwa soll die sittliche Schuld des Ödipus bestehen? – wurde schließlich durch die metaphysisch-religiöse Anschauungsweise verdrängt, wie sie sich vor allem bei Nietzsche Bahn gebrochen hat, bei dem die Tragödie als Ausdruck des dionysischen Pessimismus erscheint. Doch war auch die politische Lesart der Tragödie dem 19. Jahrhundert keineswegs unbekannt. Hegel hat, ausgehend von der Oresteia des Aischylos und von Sophokles’ Antigone, die Tragödie als Darstellung der Kollision gleichwertiger, einander entgegengesetzter sittlicher Werte und sittlicher Mächte gesehen, als Wertekonflikt, in dem sich ein neues Ethos ankündigt. Auch in Walter Benjamins Theorie der attischen Tragödie steht der Gedanke des Rechts im Mittelpunkt, und zwar die Befreiung des Menschen aus der mythisch-dämonischen Gestalt des Rechts. Durch vieldeutige Göttersprüche oder einen Dämon verleitet, verstrickt der Mensch sich in die Netze des Geschicks. Was den tragischen Helden oder die tragische Heldin jedoch aus der Zweideutigkeit der mythischen Sphäre erhebt und worin sich die menschliche Freiheit manifestiert, sei ihr Vermögen standzuhalten, ihre Bereitschaft, die Verantwortung für dasjenige auf sich zu nehmen, das über sie verhängt worden ist.30

In den letzten Dezennien haben die politischen und rechtlichen Hintergründe der griechischen Tragödie aufs Neue die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. „Warum hatten die Griechen, die Athener die Tragödie nötig?“ – so die Frage des Historikers Christian Meier, eine Frage, die bereits den Ausgangspunkt von Nietzsches Geburt der Tragödie bildete. Anders als Nietzsche will Meier diese Frage jedoch mit Blick auf die politische Entwicklung in Griechenland und genauer in Athen beantworten – ohne übrigens vorzugeben, diese Frage auch in allen Aspekten erschöpft zu haben.31 Das Aufkommen der Tragödie muss, so seine Annahme, im Zusammenhang mit den tief gehenden politischen Umwälzungen gesehen werden, die sich in Athen binnen weniger Jahrzehnte vollzogen haben. In einem Zeitraum, kaum länger als zwei Generationen, entwickelte Athen sich aus einer kleinen Stadt und einem kleinen Staat zu einer beachtlichen Macht, später zu einer Großmacht, die im Jahre 480 v. Chr. gemeinsam mit ihren Bundgenossen die persische Flotte bei Salamis zu vernichten vermochte. Um 510 v. Chr. wurde die Tyrannis überwunden und mit den Reformen des Kleisthenes die Demokratisierung der politischen Entscheidungsprozesse eingeleitet. Im Jahre 462 verlor der Areopag – der Rat der Adligen – einen großen Teil seiner politischen Befugnisse, die nun in die Hände der Bürger gelegt wurden. – Zwei eingreifende Veränderungen in Athen sind somit miteinander verbunden: Athen wird zur Großmacht und zugleich entwickeln sich demokratische Entscheidungsstrukturen. Es entsteht somit eine für die Bürger völlig neue Situation: Sie sehen sich vor Aufgaben und Entscheidungen gestellt, die den vertrauten altväterlichen provinziellen Horizont weit übersteigen und für die auch in der mythisch-religiösen Überlieferung keine deutlichen Richtlinien zu finden sind. Es verwundert daher nicht, dass sich diese neue Verantwortlichkeit eine Ausdrucksform sucht, in der die neuartigen Probleme zum Gegenstand gemacht werden konnten: das Problem des politischen Handelns und das Problem des Verhältnisses der traditionellen Religiosität zu dem neu erwachsenen Selbstbewusstsein und Unternehmungsgeist. Diese Form ist die Tragödie, die den Zuschauer mit der neuen Lage und der neuen Verantwortlichkeit auf eindrucksvolle Weise konfrontiert.

Diese Sachlage soll nun an zwei Versionen des Stoffes der Orestie verdeutlicht werden. Anders, als der platonische Sokrates suggeriert, wird sich ergeben, dass die Tragödie den Zuschauer nicht nur einem Übermaß an Emotionen aussetzte, sondern die Probleme von Recht und Unrecht und von persönlicher Verantwortlichkeit in den Mittelpunkt stellen konnte. Die beiden hier besprochenen Fassungen des Dramas des Orest können zudem die Veränderungen der politischen Moral beleuchten, die sich im Zeitraum zwischen dem Erscheinen beider Werke in Athen vollzogen haben. Im Jahre 458 v. Chr. wird die Oresteia des Aischylos aufgeführt, im Jahre 408 v. Chr. erscheint der Orest des Euripides auf der Bühne, ein Werk, das unbeschönigend die Pervertierung der alten politischen und heroischen Ideale sichtbar macht, deren Entfaltung das Thema der Trilogie des Aischylos gewesen ist. Euripides’ Werk gleicht einem blutigen und zynischen Kommentar zu Platos Politeia und enthüllt den finsteren Hintergrund, auf dem Platos Entwurf einer gerechten politischen Gemeinschaft gesehen werden muss.

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