Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 11
1.3. Bauinschriften und Baunachrichten
ОглавлениеIm weitaus größten Teil der Literatur, die man für das Thema Stadtbefestigungen verwenden kann, kommen Schriftquellen, obwohl sie neben den Bauten selbst der wichtigste Ausgangspunkt jeder Erkenntnis sind, nur indirekt vor. In aller Regel werden Jahreszahlen oder Zeiträume, die offensichtlich der Schriftüberlieferung entnommen sind, als gesicherte Ergebnisse verwendet, aber die Quelle selbst und ihr Aufbewahrungsort wird kaum je angegeben, die Literatur, in der sie exakt zitiert sein könnte, nur gelegentlich. Eine Diskussion der Schriftquellen, also eine Abklärung des grundsätzlich immer vorhandenen Interpretationsspielraumes, ist also kaum je anzutreffen. Diese Tatsache, die keineswegs auf den Themenbereich der Stadtbefestigung beschränkt ist, sondern für weite Teile der (älteren) Architekturgeschichte, der Inventare und Kunstführer gilt, weist auf ein Problem hin, nämlich auf das der oft ungenügenden Auswertung der Quellen.
Denn mittelalterliche Schriftüberlieferung enthält nur selten Aussagen, die unsere heutigen Fragen direkt und eindeutig beantworten können. Eine gewisse Annäherung an die Erwartungen des Historikers ist erst im Spätmittelalter zu verzeichnen, als Ratsprotokolle, städtische Rechnungsbücher, Wachordnungen, Wächterund Bewaffnungslisten, um nur besonders konkretes Quellengattungen zu nennen, sich direkt auf einzelne Bauteile und Bauvorgänge zu beziehen begannen (vgl. 3.1.). Aber auch sie stecken noch, ganz abgesehen von der seltenen und zufallsbedingten Erhaltung, voller Interpretationsprobleme. Zwar werden manche Bauteile eindeutig angesprochen – Tore und wichtige Türme mit feststehenden Namen –, aber anonyme bzw. wechselnd benannte Bauteile wie Mauerabschnitte, Zwinger, Wehrgänge oder Gräben bleiben meist auch dann unidentifizierbar, wenn Kosten und Zeitpunkt einer Baumaßnahme eindeutig angegeben sind. Hinzu kommt, dass im Spätmittelalter, insbesondere im 15./16. Jahrhundert, die weitaus meisten Mauern längst existierten und lediglich verstärkt oder ausgebessert wurden, womit die relativ detaillierten Quellen dieser Phase nur wenig zu der zentralen Frage beitragen können, wann die Mauern ursprünglich errichtet wurden.
Bevor wir uns daher der komplizierteren Frage zuwenden, wie aus älteren, andersartigen Quellen auf die Entstehungszeit oder gar Gestalt von Stadtbefestigungen geschlossen werden kann (siehe 1.4.), sei kurz auf die seltenen Datierungen an den Bauten selbst eingegangen. Auch sie ordnen sich der Aussage unter, dass schriftliche Angaben zu Datierungen erst im Spätmittelalter aufkommen. Trotz Literaturauswertung und eigenen Begehungen mag noch manche Inschrift unentdeckt sein, aber das Gesamtbild scheint dennoch aussagekräftig.
Vor dem Ende des 14. Jahrhunderts sind mir nur drei Inschriften bekannt geworden – jene am Goslarer „Teufelsturm”, er sei 1280 vom Grafen von Blankenburg als Buße für einen Viehraub erbaut worden (Abb. 432), jene von 1323 am Nürnberger Turm „Männereisen“ und eine aus demselben Jahr am „Untertor“ in Dambach (Unterelsass; Abb. 5). Ende des 14. Jahrhunderts sind Inschriften zu nennen in Aschaffenburg („Sandtor“ 1380, gemeint ist wohl die Stadterweiterung), Zons („Zollturm“ 1388) und Heilbronn („Götzenturm” 1392). 1401 folgt der Torturm von Staufenberg/Hessen, 1413 Inschriften in Lauingen und am „Diebsturm“ in Witzenhausen; an der Spitalkirche in Aichach nennt eine Inschrift 1418 den Mauerbau Ludwigs des Gebarteten von Bayern-Ingolstadt, womit Schärding zu vergleichen ist, wo eine Tafel im Kirchturm (Abb. 292) den Beginn von Bauten desselben Herzogs 1429 festhält. Weitere Beispiele bis ins frühe 16. Jahrhundert sind Stadthagen (Stadtwappen und „1423“ auf dem Türsturz eines Turmes), nochmals Goslar („Kegelworthturm“ 1459), Billigheim/Pfalz (Torturm 1468), Haltern („Siebenteufelsturm“ 1501) und Borken („Diebesturm“ 1504). Fast alle Beispiele gehören also in die Zeit, in der Bauinschriften in Deutschland allgemein zunehmen; auffällig ist damit an den Inschriften der Stadtmauern eher ihre große Seltenheit. Dabei verpflichtet auch ihre Aussagekraft stets zur Diskussion im größeren Rahmen, wie eines der jüngsten Beispiele belegen kann. Ein Rondell in Büdingen – an einer der spätesten umfassend erneuerten Stadtbefestigungen Deutschlands – trägt das Datum „1511“, das aber lediglich den Tod des Erbauers als Gedenkinschrift dokumentiert; das Rondell selbst existierte nachweislich schon 1489!
Abb. 5 Dambach-la-Ville (Elsass), Bauinschrift am Untertor: „Im Jahre des Herrn 1323, an den 12. Kalenden des Juli, wurde der erste Stein dieser Stadt gelegt“ – ein seltenes Beispiel, dass der Baubeginn einer Stadtmauer am Bauwerk datiert wurde.
Wendet man sich damit den Schriftquellen im engeren Sinne zu, der Überlieferung auf Papier, Pergament und Ähnlichem, so ist auch hier zunächst nach jenen Aufzeichnungen zu fragen, die direkt von der Erbauung einer Befestigung berichten. Das Ergebnis ist dabei einerseits dem bei den Bauinschriften vergleichbar – auch solche Nachrichten sind selten und interpretationsbedürftig –, andererseits beginnen sie doch deutlich früher als die Inschriften und spiegeln damit die reale Entwicklung weitaus besser.
Schon 1140–43 entstand ein Ruhmgedicht auf den Mauerbau in Trier. 1160 wurde die Mainzer Mauer als Strafe für die Ermordung des Erzbischofs von Kaiser Friedrich I. mindestens teilweise abgerissen und 1171 wies Friedrich Aachen an, sich neu zu befestigen. 1180 erlaubte derselbe Kaiser die Vollendung des Wallgrabens von Köln; 1187 aber musste ein dortiges Tor wieder bis aufs Erdgeschoss abgetragen werden. 1229 baute ein Konverse des Zisterzienserklosters Himmerod das „Untere Tor“ von Zell/Mosel – die früheste Erwähnung des Baumeisters einer Befestigung; das Tor aber existiert nicht mehr. 1248 verzichtete der Markgraf von Meißen auf Einspruch gegen Mauern und Gräben in Merseburg und auch das nahe Naumburg durfte erst 1276 Gräben oder Planken mit Erkern beginnen. 1279 erlaubte der Erzbischof von Köln den Bürgern von Zülpich, ihr „Städtchen mit Mauern zu stärken“ (oppidum muro firmare), und 1294 erteilte Erzbischof Sigfrid Kempen Stadtrechte, wobei er anmerkte, die Bürger hätten schon viel Mühe in den Mauerbau gesteckt (er dauerte dennoch bis Ende des 14. Jahrhunderts!). In Brandenburg erhielt Prenzlau 1287 die landesherrliche Erlaubnis zum Mauerbau, worauf bis 1361 etliche weitere brandenburgische Städte folgten. Ornbau erhielt 1317 die Befestigungserlaubnis des Bischofs von Eichstätt, ebenso wieder 1464, wobei wohl erst das zweite Datum die Entstehung von Mauer und Zwinger markiert. Die „Wildunger Altarchronik“ berichtet zum 8. September 1319, die Mauer von Wildungen sei begonnen worden – die früheste quellenmäßige Datierung einer hessischen Mauer, auf die bis 1547/48 (Flörsheim) etliche weitere folgten. In Quedlinburg wurde chronikalisch 1337 der Graf von Regenstein verpflichtet, nach erfolgloser Belagerung sieben Türme zu bauen. 1360 erlaubte Graf Heinrich von Montfort, Immenstadt zu befestigen, und 1350 wurde die portze[,] die nuweliche vur unser stat van Andernach enbuzen gebuwet is[,] erwähnt, was wohl das erhaltene „Koblenzer Tor“ meinte. Arberg in Mittelfranken wurde zwischen 1383 und 1415 durch zwei Türme verstärkt. Und schließlich wurde 1498 in Dillingen ein Vertrag geschlossen: Der Bischof von Augsburg hatte einen Zwinger und die Vorstadtmauer gebaut, für deren Erhaltung Bischof und Stadt gemeinsam sorgen wollen.
Die erdrückende Mehrzahl dieser (zumeist ersten) Erwähnungen der Befestigung bezieht sich auf eine Anweisung des Landesherrn oder Königs, der die Anlage einer Befestigung entweder wünschte oder zumindest erlaubte, ausnahmsweise auch einmal ihre Zerstörung verfügte. Das verwundert nicht, waren doch weitaus die meisten Städte keineswegs selbstständig, sondern unterlagen wie alle anderen Siedlungen und deren Bewohner den Inhabern der feudalen Herrschaftsgewalt. Im 12. Jahrhundert galt dies auch noch für die ganz großen Handelsstädte wie etwa Köln, die dann im 13. Jahrhundert teilweise ein beachtliches Maß an Freiheit erringen konnten. Aus architekturgeschichtlicher Sicht ist zu dieser Art von Quellen anzumerken, dass eine Erlaubnis zur Befestigung noch nicht heißt, dass die Mauer unmittelbar danach begonnen oder gar schnell vollendet wurde – und falls ihre Erbauung durch die besondere Formulierung oder weitere Quellen belegbar oder zumindest wahrscheinlich ist, bleibt immer noch zu fragen, welche Form sie anfangs hatte. Bei den beispielhaft zitierten Nachrichten ist nur in fünf Fällen (von 20) vom Bau oder von der Existenz einer wirklichen Mauer die Rede, in drei weiteren von einzelnen Toren und Türmen. In zwei Fällen (Köln, Naumburg) sind explizit Anlagen aus Holz und Erde angesprochen, sonst aber bleibt die Art der Befestigung genauso offen wie letztlich der Baubeginn.
Einen direkteren Schluss auf Bauarbeiten lassen Steuerbefreiungen zu, die ebenfalls vom Landesherrn zum Zwecke der Befestigungen ausgesprochen wurden (vgl. 3.1.). In einer Zeit, die noch kaum ein Instrumentarium besaß, eingenommenes Geld über längere Zeit aufzubewahren oder es gar „arbeiten zu lassen“, bestand die normale Form finanzieller Förderung darin, eine Einnahmequelle – Ländereien, Steuern, Zölle usw. – zeitweise abzutreten. Steuerbefreiungen für die Befestigung waren daher weitverbreitet, vor allem als „Ungeld“, eine ausgesprochen ertragreiche Verkaufssteuer auf alkoholische Getränke. Gerade in den auch hier weit überwiegenden spätmittelalterlichen Fällen besteht zwar das bekannte Problem, dass zwischen der Erbauung der Mauer und einer ebenfalls finanziell aufwendigen Instandsetzung nicht unterschieden werden kann, aber zumindest eine frühe Quelle ist hier als aussagekräftiger hervorzuheben: das zufällig erhaltene staufische Steuerverzeichnis von 1241. Es erfasst Städte in staufischem Besitz und ihr Steueraufkommen dieses Jahres, wobei aus Steuererlässen mit einiger Vorsicht Schlüsse auf laufende oder schon abgeschlossene Befestigungsarbeiten gezogen werden können; angesichts des frühen Zeitpunktes handelt es sich in der Regel wohl um die erste Ummauerung.
Alle anderen Arten direkter Erwähnungen des Befestigungs- und Mauerbaues treten gegenüber den Erlaubnissen und Finanzierungshilfen des Landesherrn in den Hintergrund, wie etwa das erwähnte Gedicht, das den Trierer Mauerbau feiert, oder auch der Vertrag zwischen dem bischöflichen Stadtherrn und dem Rat in Dillingen 1498. Aus seiner Seltenheit ist nicht etwa zu schließen, dass der Rat anderswo nichts mit dem Mauerbau zu tun hatte. Im Spätmittelalter war der Rat vielmehr in aller Regel Träger des Mauerbaues, was sich in den schon erwähnten typisch städtischen Quellen wie Ratsprotokollen oder Rechnungsbüchern zeigt; das Besondere in Dillingen war jedoch die Finanzschwäche und Abhängigkeit der Stadt, die so spät noch eine Unterstützung des Stadtherrn erforderte.
Viel häufiger als diese Fälle, wo wirklich die Entstehung der Stadtbefestigung berührt wird, ist nach alledem die zufällige Ersterwähnung ihrer Existenz. Die Mauer gehört dabei selbst nicht zum inhaltlichen Kern des Schriftstückes, sondern wird nur aus praktischen Gründen berührt. Auch hier geht es fast immer um Juristisches, das heißt etwa um Verkauf oder Verpachtung von Grundstücken, Beschreibungen von Teilen der Stadt usw., wobei man in einem Zeitalter, das noch keine exakten Pläne kannte, die Lage eines Objektes dadurch festhielt, dass man angrenzende, besonders markante Bauten und Orte ansprach; die Befestigung als eindeutige Stadtgrenze war dafür besonders geeignet. Das Kernproblem solcher Erwähnungen der Existenz einer Mauer besteht grundsätzlich darin, dass sie keine Aussage darüber enthalten, wie lange sie schon existierte – die Mauer konnte bei einer derartigen Ersterwähnung, um es zu pointieren, eben noch im Bau, aber auch schon mehrere Jahrhunderte alt sein.