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1.4. Historische Schlüsse auf die Zeit der Befestigung

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Mit dieser Aussage ist eine weiter gehende Frage berührt, die in der Literatur implizit und explizit eine zentrale Rolle spielt: Mit welchen historischen, auf die Schriftquellen bezogenen Methoden kann man in jenem Normalfall, wo direkte Hinweise auf die Entstehungszeit der Befestigung fehlen, diese Zeit dennoch ungefähr bestimmen?

Der in Historikerkreisen wohl häufigste Rückschluss ist jener von der Verleihung der „Stadtrechte“ bzw. städtischen „Freiheiten“ auf den Bau der Mauer, der aber von kritischen Vertretern der Zunft mit gutem Grund zurückhaltend angewendet wird. Die Problematik beginnt schon damit, dass der oft unscharf verwendete Begriff nicht nur einen Kern von Privilegien umfasst – die persönliche Freiheit des Bürgers samt Grundbesitz und Erbrecht, ein eigenes Gericht –, sondern von Fall zu Fall verschieden ausgestaltet und durch weitere Rechte ergänzt wurde. In den meisten Fällen wird die spezifische Rechtsausstattung erst zu einem relativ späten Zeitpunkt greifbar, und es ist deshalb nicht zu beweisen, dass alle Rechte in einem formellen Verleihungsakt zusammen erteilt wurden. Die Rechte können in mehreren Stufen verliehen worden sein und sie wurden auch gelegentlich erneuert, etwa weil die erste Verleihung folgenlos geblieben war oder weil sich das Recht einer anderen Stadt bzw. „Stadtrechtsfamilie“ als praktikabler erwies. Im Endergebnis ist daher eher selten der effektive Zeitpunkt der „Stadtgründung“ bzw. „Stadtrechtsverleihung“ bekannt, sondern diese Rechte oder Teile davon werden meist erst in einer Stadt fassbar, die schon seit einer nicht genau bestimmbaren Zeit bestanden hat. Schon deshalb sind allzu direkte Schlüsse von der Verleihung der Stadtrechte auf den Mauerbau selten tragfähig.

Zudem bleibt das Verhältnis des Zeitpunktes der Befestigung zu jenem einer Rechtsverleihung stets klärungsbedürftig. Zwar mag es normal gewesen sein, dass auf die Verleihung bzw. die Stadtgründung möglichst schnell eine Umwehrung aus Holz und Erde und dann einige Jahrzehnte später die weitaus aufwendigere, der exakten Planung und mühsamen Finanzierung bedürftige Mauer, im eigentlichen Sinne von Steinen und Mörtel, folgte (vgl. 2.2.1.4). Aber Ausnahmen sind nie ganz auszuschließen – eine noch rechtlose „Nichtstadt“ (Dorf, Burgfreiheit, Marktflecken) kann im Einzelfall sehr wohl eine Mauer gehabt haben, eine rechtliche „Vollstadt“ andererseits kann das Stadium des Mauerbaues aus Gründen wirtschaftlicher Unterentwicklung spät oder nie erreicht haben.

Eine wichtige Rolle in der stadtgeschichtlichen Literatur spielt auch der Versuch, aus bestimmten Bezeichnungen in den Quellen auf die Befestigung von Siedlungen bzw. ihre Stadteigenschaft zu schließen – ein Ansatz, der für das Hoch- und Spätmittelalter inzwischen vor allem durch Archäologie und Historische Bauforschung bedeutend ergänzt und teilweise überholt ist (vgl. 1.6.). Im Mittelpunkt stand und steht dabei die Bedeutung der besonders häufig auftretenden Bezeichnungen „civitas“ und „oppidum“, wobei freilich auch die – hier nur am Rande interessierende – Entwicklung von der Antike zum Frühmittelalter eine bedeutende Rolle spielte (Gerlach 1913, Schlesinger 1954).

„Civitas“ bezeichnet nach herrschender, vielfach belegbarer Meinung im Hoch- und Spätmittelalter die verfasste Bürgergemeinde, das heißt die Stadt im voll entwickelten rechtlichen Sinne (die dann auch, wie Carla Mayer jüngst betonte, im Spätmittelalter vor allem für ihre politischen und kulturellen Errungenschaften gelobt wurde, kaum noch für die offenbar selbstverständliche Befestigung). Ist folglich seit dem 12., spätestens dem 13. Jahrhundert klar, dass „civitas“ eine Stadt und damit prinzipiell ein befestigtes Gemeinwesen meint, so sind die Anfänge leider auch hier nicht ganz so eindeutig. In der Frühzeit bezeichnete „civitas“ auch „Domburgen“ und „Landesburgen“, die zwar zu wichtigen Anknüpfungspunkten gerade früher und großer Städte wurden (vgl. 2.1.2., 2.1.3.), aber nach Funktion und Bewohnerschaft selbst noch keine waren; die ältere historische Forschung hat den Übergang vom einen zum anderen und damit eine Entwicklung von zentraler Bedeutung oft allzu wenig thematisiert. Aber auch sonst kann es frühe Fälle geben, bei denen die Erwähnung einer „civitas“ oder auch von „cives“ (Bürgern) noch nicht auf eine Stadt im Sinne einer rechtlich definierten und planerisch neu gestalteten Anlage deutet, sondern erst auf eine gewachsene und daher vielleicht noch unbefestigte Marktsiedlung wie verschiedentlich in Baden und Oberschwaben. Eine sicherlich aussagekräftige Abfolge bietet dabei das als Stammsitz der Welfen wichtige Ravensburg: 1109 noch „suburbium“ – also Siedlung bei der Welfenburg –, hat es 1152 die Stufe des „forum“ (Markt) erklommen; an diesem Markt hatte sich dann bis 1224 eine „universitas burgensium“ (verfasste Bürgerschaft) gebildet, die dann 1251 unter dem üblichen Begriff „civitas“ erscheint; die Ummauerung fällt dabei jedenfalls erst in spätstaufische Zeit, deutlich nach 1200. Noch direkter auf die Entwicklung zur ummauerten Stadt dürften die Fälle weisen, bei denen „civitas“ und „oppidum“ aufeinanderfolgen, wie etwa Offenburg (1139 „locus“, 1148 „castrum“, 1233 „civitas“, 1246 „oppidum“) oder Hannover (1189 „civitas“, 1202 „oppidum“) – wobei es leider aber auch die umgekehrte Reihenfolge gibt (Freyburg/Unstrut: 1229 „oppidum“, 1261 „civitas“).

Ist „civitas“ als Wort und Begriff vom rechtlich definierten Bürger abgeleitet, worin letztlich auch die Zweifel in Bezug auf die Befestigung gründen, so weist das weit häufigere „oppidum“ direkter auf die Befestigung hin, bedeutete es doch eben dies im klassischen Latein. Im Mittelalter kennzeichnete „oppidum“ den Normalfall der Epoche, nämlich die relativ kleine, neben Markt und Handel auch durch Ackerbürger geprägte Stadt. Dabei umfasste der Begriff aber offenbar auch manchen Marktflecken; H. Stoob hat für dieses umfangreiche und vielfach undurchsichtige Feld den Begriff der „Minderstädte“ geprägt. Auch für diese meist unbefestigten, stadtartigen oder stadtähnlichen Siedlungen hatte das Mittelalter zwar Begriffe – wie „burgus“, „fleccen“, „wigbold“, „suburbium“, „Freiheit“ und andere –, aber die Grenze war eben fließend.

Ergänzende Charakterisierungen wie „oppidum forense“ (Marktort: Amberg um 1140/60) oder „firmissimum oppidum“ (sehr festes Städtchen: Durlach 1273) verdeutlichen gelegentlich, dass die Spannweite des Möglichen schon Zeitgenossen bewusst war. Dass „oppidum“ noch keineswegs zwingend die Mauer belegt, zeigt das 1297 so genannte und mit Lindauer Recht versehene Tettnang, für das dem Grafen von Montfort erst 1330 von Ludwig dem Bayern erlaubt wird, das er seinen fleccen zu Tetebache vesten mach … mitt mauren und graben, wies er will, als ein statt. Im Extremfall konnte die „Festigkeit“ des Ortes ganz ohne menschliche Zutat auskommen, wie Küstrin, das – schon 1261 als „oppidum“ erwähnt – bis 1446 nicht einmal „Planken“ besaß, sondern nur eine Lage zwischen Flüssen und Sümpfen aufwies (vgl. 2.2.1.1.).

Jedenfalls hat die Forschung für viele Regionen des deutschen Raumes die Bedeutung von „oppidum“ als kleine Stadt oder stadtähnliche Siedlung konstatiert. In der Schweiz dominiert der Begriff neben offensichtlichen Synonyma wie „burgus“, „munitio“, „urbs“ oder „stetli“; Lichtensteig etwa erscheint 1271 als „oppidum seu munitio“. Virneburg in der Eifel wird ab 1246 manchmal „oppidum“ genannt – etwa damals entstand seine Mauer –, später „Städtlein“ oder auch „Tal“, das heißt nichtstädtische Burgfreiheit. In Westfalen meinte „oppidum“ in der Regel das, was deutsch „wigbold“ (Weichbild) genannt wurde, also den Markt mit begrenzter Rechtsausstattung, der gelegentlich später zur echten Stadt erhoben wurde (zum Beispiel Cloppenburg: 1411 Wigboldrecht, 1435 Stadtrecht von Münster); Pattensen war 1299 „oppidum“, aber im 15. Jahrhundert wieder „wicbelde“; hier im Flachland war die Holz-Erde-Befestigung der Normalfall. In Unterfranken und Thüringen war „oppidum“ ab dem 13. Jahrhundert das übliche Wort für kleine Städte, wobei man sich vor allem in Thüringen nicht sicher ist, wie anfangs ihre Befestigungen aussahen. In Pommern schließlich traf man im 13. Jahrhundert auf ähnliche Zustände wie in Westfalen – „oppidum“ meinte wohl meist noch einen unbefestigten Marktflecken; Naugard etwa wird 1268 noch unschlüssig „villa sive oppidum“ genannt („Dorf oder Städtchen“).

Weitere Bezeichnungen, die deutlich seltener auftreten, aber gleichfalls auf Befestigung schließen lassen oder bei denen dies zumindest diskutiert wurde, sind neben dem schon angesprochenen „munitio“ (Befestigung) auch „castrum“ und „castellum“ bzw. „burc“, schließlich „burgus“. Die offenbar ähnliche Bedeutung von „oppidum“ und „munitio“, beides meinte eine kleine Stadt oder stadtartige Siedlung, war schon berührt worden. Darüber hinaus kann man sich fragen, ob nicht „munitio“ doch in noch engerem Sinne die Befestigung als solche gemeint hat, quasi ohne die Stadt, zumindest in Einzelfällen. Grebenstein in Nordhessen wird 1311 „nova municio“ genannt; sollte das etwa meinen, die Ummauerung habe schon bestanden, aber die Stadt im vollen Rechtssinne noch nicht? Ähnliche Überlegungen mag man daran knüpfen, dass Haßfurt 1230 noch „munitio“ ist, 1243 aber „oppidum“ – von der weitgehend leeren Mauer zur echten Stadt? Dass „munitio“ enger an der Mauer als Bauwerk hängt, zeigt schließlich 1254 Eglisau, wo „munitio et porta“ angesprochen werden – was wohl doch nicht „Stadt und Tor“ meint, sondern eher „Mauer und Tor“.

Die frühen Städte in der Schweiz wurden oft als „castrum“ bezeichnet, und das seit der Antike in optimaler Berglage befestigte Breisach (Baden) erscheint zwischen 939 und 1002 mehrfach als „oppidum“ oder „castellum“; damals war es natürlich noch keine Stadt, aber was sonst – eine „Landesburg“? Jedenfalls erinnert dies daran, dass die Endung „-burg“ im Frühmittelalter den ersten Städten zugewiesen wurde, vor allem jenen, die sich hinter römischen Mauern sicherten (Straßburg, Regensburg, Salzburg und andere). Nachklänge dieses älteren Sprachgebrauches gab es jedenfalls bis ins 13. Jahrhundert, wie auch etwa das junge Kaufbeuren bestätigt, das 1240 in der ersten deutsch verfassten Urkunde überhaupt als „burc“ bezeichnet wurde; man darf hier auch erwähnen, dass die auf „-burg“ endenden Namen der Adelsburgen fast durchweg erst im 15. Jahrhundert auftraten, indem man die ursprünglich auf „-berg“ lautenden Namen umwandelte.

In Franken, wo die römischen Vorgänger fehlten, meinten „castrum“, „castellum“, „urbs“ und „civitas“ im 10./11. Jahrhundert die „Landesburgen”, die damals politische, aber mit angefügten Siedlungen auch schon wirtschaftliche Mittelpunkte waren. Ab Ende des 12. Jahrhunderts tritt hier die Bezeichnung „burgus“ neu auf, die man wegen ihrer Etymologie auch auf Befestigung zu beziehen versucht hat. Heute ist man davon eher abgekommen und sieht in ihnen Marktsiedlungen bei Königs- oder Herrenhöfen, also gleichfalls direkte Vorstufen von Städten. Der „burgus“ des Klosters Neuwerk grenzte 1181/86 an zwei Tore von Goslar, war aber eben noch nicht identisch mit der Stadt, sondern mit einem ihrer rechtlich weiterhin selbstständigen älteren Kerne.

Auf eine weitere Verwirrungsmöglichkeit sei nur knapp hingewiesen, weil sie noch selten bemerkt wurde: Auch „Schloss“ kann eine kleine, stadtartige Siedlung meinen. Ein gutes Beispiel ist Ottweiler im Saarland, wo 1393, als die Stadtmauer schon bestand, „slozz, burg und vorburg“ genannt sind, was mit unseren Worten hieße: Städtchen bzw. „Burgfreiheit“, Burg und deren Vorburg; erst 1550 wurden hier städtische Freiheiten verliehen.

Eine letzte Frage, die sich auf die Aussagekraft von Bezeichnungen bezieht, hat mit der Lageangabe „intra“ bzw. „extra muros“ zu tun, die nicht selten zum Beleg der Ummauerung wurde. Aber ist die Formulierung auch im technischen Sinne wirklich ernst zu nehmen, meinte sie wirklich immer die Befestigung aus Stein und Mörtel? Denn die Tradition auch dieser Bezeichnung geht bis in die Antike zurück, und daher darf man sich fragen, ob sie nicht längst den formelhaften Bedeutungsgehalt von „in der Stadt“ bzw. „außerhalb der Stadt“ angenommen hat – unabhängig davon, wie deren Grenze nun konkret markiert war. Die Forschung geht überall davon aus, dass der „murus“ der Formel wirklich eine Mauer war, und so halte ich es auch in diesem Buch; aber Zweifel sind durchaus vertretbar.

Zusammenfassend ist also zu sagen, dass bestimmte Bezeichnungen in den Quellen – vor allem „civitas“ und „oppidum“ – in der Regel durchaus auf eine fortgeschrittene bzw. im rechtlichen Sinne abgeschlossene Stadtwerdung deuten, und damit auch in gewisser Weise auf Befestigung. Allerdings ist der direkte Schluss auf die steinerne Befestigung, die „Mauer“ im technischen Sinne, oder gar auf die Mauer in der heute noch fassbaren Form fast immer fahrlässig. Sicherlich bedeutete das durch diese Worte belegte Konzept „Stadt“, dass man Befestigung beabsichtigte, aber ob diese – gerade bei frühen Erwähnungen – noch in Planung, im Bau oder vollendet war, bleibt im Einzelfall zunächst offen, so wie es auch stets klärungsbedürftig bleibt, ob es sich zunächst um Holz-Erde-Anlagen oder ausnahmsweise von Anfang an um eine Mauer gehandelt hat. Die Bezeichnungen in den Quellen sind damit wichtige Fingerzeige, aber Sicherheit über die bauliche Realität einer bestimmten Zeit lassen auch sie kaum zu.

Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum

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