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Einleitung

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Jene Siedlungsform, die wir „Stadt“ nennen, geht in ersten, orientalischen Beispielen letztlich bis in die Jungsteinzeit zurück. Am Ende des Römischen Reiches, das in Mitteleuropa das weitgehende oder völlige Absterben städtischen Lebens bedeutete, hatte das Städtewesen seine erste Blütezeit bereits hinter sich. Sein erneutes Aufblühen im Mittelalter war daher zwar ein bedeutungsvoller, Europa bis heute entscheidend prägender Prozess, aber dieser griff auf ein Modell zurück, das bereits eine lange Reifung hinter sich hatte.

Definition der mittelalterlichen Stadt im deutschen Raum

Was aber ist eine „Stadt“ eigentlich, was genau definiert diese spezifische Art einer Siedlung? Selbstverständlich gibt es über diese Frage seit Langem umfangreiche Forschungen und Diskussionen, die hier nur ganz knapp resümiert und auf das wesentlich engere Thema der Befestigungen bezogen werden können. Sicherlich nicht mehr umstritten ist heute, dass eine Stadt in ihrem Kern ein Markt ist, also ein Ort, wo spezialisierte Produzenten ihre Produkte anbieten – Lebensmittel, Werkzeuge, Luxusgüter usw. –, um sie an andere Spezialisten zu verkaufen, die diese käuflich erwerben müssen, weil sie selbst etwas anderes produzieren. Die Stadt ist also Ausdruck der arbeitsteiligen Gesellschaft schlechthin, einer Gesellschaft, die besonders produktiv ist, weil sich jeder auf eine bestimmte Arbeit konzentriert und sie daher besonders gut beherrscht. Mit dem komplexen Charakter, der sich hieraus ergibt, unterschied sich die Stadt von vornherein und in auffälliger Weise von der anderen, noch älteren und grundlegend wichtigen Siedlungsform, nämlich der landwirtschaftlich bestimmten von Hof, Weiler und Dorf.

Freilich war die Marktfunktion nur das zentrale Merkmal der mittelalterlichen Stadt, keineswegs das einzige. Neben den Händlern, die Waren teils über große Entfernungen heranschafften, war der Markt auch für die Handwerker anziehend, die ihn ebenfalls belieferten. Dabei war das Element des Fernhandels in der Frühzeit sicher das wichtigere, aus dem sich – zur Regelung des Verhältnisses der Kaufleute untereinander – auch die ersten Ansätze eines Marktrechts entwickelten; in der Vielzahl kleiner, eher noch den Dörfern verwandter Märkte des Spätmittelalters trat dagegen der Handel mit dem nahen Umland stärker hervor. In dieser Phase spielte dann auch das bäuerliche Element eine erhebliche Rolle, weil die Stadtbevölkerung natürlich versorgt werden musste; zwar konnten die Äcker oder Gärten meist keinen Platz in der Stadt finden, aber für die Höfe war diese geschützte Lage durchaus von Vorteil. Neben den Bauern („Ackerbürgern“) hatten auch andere Bevölkerungsgruppen nicht direkt mit den zentralen Funktionen Handel und Handwerk zu tun, wurden aber von ihnen angezogen und verstärkten die Bevölkerungskonzentration ebenso, wie sie von ihr profitierten. Nachdem die ersten Städte bei Bischofssitzen und großen Klöstern entstanden waren, wirkte diese Anziehungskraft frühzeitig vor allem auf die Geistlichkeit und deren Pfarreien, Klöster, Stifte und religiös geprägte „Dienstleistungsbetriebe“ wie vor allem die Hospitäler. Im Laufe der Zeit begriff auch der Adel, die herrschende Schicht der Epoche und anfangs auch Herr der Städte, die Vorteile städtischer Wirtschaft; er versuchte die Bevölkerung der Stadt zu mehren, indem er den „Bürgern“ persönliche und steuerliche Freiheit und andere Privilegien zusagte („Stadtrechte“); und gerade für die Spitzengruppe des Adels war ab dem 13. Jahrhundert die Nutzung von Burgen am Stadtrand typisch.

Vom Funktionieren einer voll entwickelten mittelalterlichen Stadt profitierten also viele Mitglieder der damaligen Gesellschaft und ihrer aller Interesse musste es sein, die Komplexität der Beziehungen und Abläufe in dauerhafte organisatorische und politische Strukturen zu fassen und sie gegen gewalttätige Eingriffe zu schützen. Natürlich ging dies nicht ohne Konflikte zwischen den verschiedenen Interessenten ab. Vor allem ins 13. Jahrhundert fallen Kämpfe zwischen einigen der größten Städte und ihren bischöflichen Stadtherren, die meist mit einem weitgehenden Einflussverlust der Bischöfe endeten. In derartigen Kämpfen, die es außerhalb von Deutschland noch früher gab, bildete sich die Herrschaft einer städtischen Oberschicht heraus, die sich im Rat organisierte. Die kleine Gruppe der „ratsfähigen“ Geschlechter umfasste zunächst vor allem reiche Kaufleute, aber oft auch ehemalige Ministerialen des Stadtherrn; ihre Herrschaft ähnelte durchaus der des Adels und hatte wenig mit Demokratie in einem modernen Sinne zu tun. Aus dieser Lage heraus entstand dann im Spätmittelalter der andere Typus innerstädtischer Konflikte, die „Zunftkämpfe“, in denen auch die weit umfangreichere Schicht der Handwerker ihren Einfluss auf die Politik der Städte durchsetzte.

Die Ratsherrschaft prägte also die ausgereifte mittelalterliche Stadt in entscheidendem Maße. Dabei darf man jedoch nicht vergessen, dass Größe und Bedeutung der Städte sehr variierten, weswegen auch das Maß ihrer politischen Selbstbestimmung ganz unterschiedlich war. Sie reichte von der faktischen Unabhängigkeit der „Freien Reichsstädte“, die dem Kaiser als Stadtherrn mehr Vorteile boten als umgekehrt, bis zu der Vielzahl kleiner und kleinster, meist eher spät entstandener Städte, deren geringe Wirtschaftskraft und teils stockende Entwicklung sie meist in weitgehender Abhängigkeit von ihrem adligen Herrn hielten.

Die mittelalterliche Stadt beruhte also auf einem Funktionsmodell, das sozialer, wirtschaftlicher, politischer und rechtlicher Natur war, das aber selbstverständlich auch ihre Gestalt prägte. Für Historiker war lange Zeit die rechtliche Struktur – die städtische „Verfassung“ – das, was die Stadt letztlich ausmachte. Heute neigt man zunehmend zu einem Verständnis, das das Zusammenwirken der Faktoren stärker berücksichtigt, die sich nicht einem „herrschenden“ Ordnungsprinzip unterordneten, sondern vielmehr Zug um Zug die geschlossene und markante Form der mittelalterlichen Stadt hervorbrachten. Damit wird auch der baulichen Entwicklung des Phänomens Stadt ein höherer Stellenwert zuerkannt; sie war nicht nur Nachvollzug politischer und juristischer Organisation, sondern wirkte auch bei der Entstehung des Gesamtphänomens mit.

Gestalt der mittelalterlichen Stadt im deutschen Raum

Im Zusammenhang mit dem Thema „Stadtbefestigung“ steht natürlich die bauliche Gestalt ohnehin im Vordergrund. Dabei interessiert weniger das funktionale Zentrum der Stadt mit Markt, Pfarrkirche und später Rathaus (was bei großen Städten alles mehrfach vorkommen bzw. sich auf jeweils mehrere Bauten verteilen konnte), sondern vielmehr ihre Peripherie. Und diese wiederum ist abhängig von der Herausbildung der Stadt als geschlossenes Gebilde, also einer Form, die uns heute für die mittelalterliche Stadt ganz selbstverständlich vorkommt, es aber keineswegs von Anfang an war.

Vor fast einem halben Jahrhundert charakterisierte Erich Herzog die „ottonische Stadt“ – also die Stadtform des 10. und frühen 11. Jahrhunderts – als eine Siedlungsform, die noch keineswegs eine geschlossene Form besaß (Abb. 1). Sein Bild dieser frühen Städte, das trotz zahlreicher Ergänzungen im Einzelfall doch bis heute wegweisend ist, zeigt im Zentrum in der Regel einen befestigten Bischofssitz, eine Domimmunität oder „Domburg“, nur ausnahmsweise einmal ein anderes Herrschaftszentrum wie ein großes Kloster oder einen königlichen Hof. Vor dem Tor dieses befestigten Herrschaftssitzes entstand meist mit der Zeit ein Markt mit den Häusern und Höfen von Händlern und Handwerkern – der eigentliche Kern der späteren bürgerlichen Städte. In einigem Abstand um die Domburg lagen Stifte und Klöster, meist in landschaftlich beherrschender Lage, die den sakralen Charakter des Ortes auch sichtbar betonten.

Wann aus solch lockeren Gruppen von Siedlungen verschiedener Funktion jene geschlossene Stadtform mit klarem Straßennetz, regelmäßiger Parzellierung und gemeinsamer Befestigung wurde, die uns spätestens in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts entgegentritt, wird umstritten bleiben, solange nur an wenigen Plätzen systematische Grabungen stattgefunden haben. Ein Handelsplatz wie Haithabu wies schon im 9./10. Jahrhundert eine dichte Bebauung an parallelen Straßen auf, aber in aller Regel wird man frühestens ab dem 11. und dann vor allem im 12. Jahrhundert mit der Verbreitung solcher Merkmale zu rechnen haben.

Die Befestigung spielte bei dieser Entwicklung des geschlossenen Stadtkörpers sicherlich eine Rolle. Umwehrung war in der friedlosen Zeit des Frühmittelalters weitverbreitet, auch um die Domimmunitäten, Klöster und Herrschaftssitze, die in den entstehenden Städten lagen. Sobald die Siedlung der Händler und Handwerker reich genug war, wird auch sie folglich eine Umwehrung angestrebt haben; Haithabu ist wieder ein gut untersuchtes Beispiel, mit einem Wall schon ab der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Allgemein aber können die vorliegenden Erkenntnisse zu den frühen Befestigungen bisher noch wenig zur Klärung beitragen, wann sich die geschlossene Stadtform herausbildete, und zwar wiederum aus Gründen des Forschungsstandes. In der Regel bestand die früheste Befestigung auch der Städte aus Holz und Erde (vgl. 2.2.1.2. und 2.2.1.3.) und ist daher heute nicht mehr leicht zu fassen; die wenigen frühen Beispiele, die ergraben wurden, reichen noch nicht für ein abgesichertes Bild. Immerhin kann ein herausragender Fall wie Speyer – dessen ausgedehnte Mauer schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts Domburg, Händlersiedlung und Stifte umschloss – zumindest andeuten, wie früh sich die Entwicklung in rheinischen Bischofsstädten vollzogen haben kann; Basel und Worms, gleichfalls ohne römische Stadtmauern, bieten Vergleiche. Dabei ist nicht nur der Zeitpunkt der Umwehrung als solcher aussagekräftig, sondern mehr noch die Tatsache, dass so früh schon eine Mauer entstand; denn in der Regel folgte sie erst mit erheblichem Zeitabstand auf die anfängliche Holz-Erde-Umwehrung, offenbar nämlich dann, wenn die Wirtschaftskraft der entstehenden Stadt hierfür die Basis bot (vgl. 2.2.1.4.).


Abb. 1 Goslar (Niedersachsen) als Beispiel einer „ottonischen Stadt“. Charakteristisch ist die Mehrheit der Siedlungskerne, darunter eine Marktsiedlung und mehrere Klöster oder Stifte. Die spätere Stadtmauer ist strichpunktiert angegeben (E. Herzog, Die ottonische Stadt, 1964).

Gruppen aus mehreren Dörfern, meist um die Burg eines Hochadligen bzw. Fürsten und gelegentlich bereits als Stützpunkte eines einsetzenden Fernhandels, gab es übrigens auch im slawischen Siedlungsraum, der – wie man nicht vergessen darf – bis zum 12./13. Jahrhundert einen Großteil des Gebietes einnahm, in dem dann deutsche Städte entstanden. Die Entwicklung bewegte sich dort, im Osten und Norden, also auf durchaus vergleichbaren Bahnen. Allerdings ging sie hier nicht so organisch in die Phase der geschlossenen Stadtform über wie im Westen und Süden Deutschlands, weil die Stadt „deutschen Rechts“ hier fast immer als fertiges Modell importiert wurde und in der Regel als plänmäßige „Gründungsstadt“ auf freiem Feld entstand, wenn auch oft nahe den slawischen Vorgängern.

Die „Gründungsstadt“ als formal perfektionierte Ausprägung der entwickelten mittelalterlichen Stadt war auch den schon längst deutsch besiedelten Gebieten im Westen und Süden des deutschen Raumes keineswegs fremd. Sie spielte dort aber, trotz keineswegs geringer Anzahl, die Rolle eines Spätlings, weil gerade die frühesten Städte aus vorhandenen Siedlungskernen entstanden waren. Für die Stadtbefestigungen spielt der Unterschied zwischen „gewachsenen“ und Gründungsstädten allerdings kaum eine Rolle, weil sich die Peripherie beider Stadttypen zu der Zeit, in der die Mauern entstanden, nicht mehr nennenswert unterschied. Lediglich waren die „gewachsenen“ Städte in der Regel die älteren, oft auch die größeren, weswegen ihre Befestigungen oft früher begonnen wurden und mehr Umbauphasen aufweisen.

Die Stadt im engeren Sinne war keineswegs die einzige befestigte Siedlungsform des hohen und späten Mittelalters, sondern nur eine unter vielen. Das entsprach einer agonalen Gesellschaft, in der Gewalt noch fast alltägliches Mittel des Interessenausgleichs war. Eine kurze Darstellung der anderen Befestigungsformen ist nicht nur bei der Bestimmung gewisser Grenzfälle hilfreich, sondern kann auch auf einer allgemeineren Ebene das Besondere des Phänomens Stadtmauer anschaulich machen. Einen interessanten Versuch auf der Grundlage der relativ entwickelten Forschungssituation in der Schweiz hat Thomas Bitterli 2010 vorgelegt.

Andere befestigte Siedlungstypen des Mittelalters

Einige Befestigungsformen des Mittelalters waren hoch spezialisiert in dem Sinne, dass sie einer begrenzten gesellschaftlichen Gruppe dienten, die eine besondere Position einnahm bzw. einen besonderen Lebensstil pflegte. Die wichtigsten Beispiele dafür waren die Burgen und Klöster bzw. Stifte, also die Sitze des Adels und religiöser Gemeinschaften. Sie unterschieden sich auch formal ganz erheblich von den Städten und werden hier nur insoweit ins Blickfeld rücken, als sie mit den Städten in direkter Verbindung standen. Sowohl Herrschaftssitze als auch Klöster konnten Ausgangspunkt der Stadtentwicklung sein, ihre frühen Befestigungen daher auch vorbildhaft für jene der Städte werden (vgl. 2.1.2, 2.1.3.). Burgen entstanden zudem auch später noch oft am Rand bzw. in Ecklage der Städte und wurden so bei aller Eigenständigkeit zu einem Teil der Befestigungen (vgl. 2.2.10.1.).


Abb. 2 Ostheim vor der Rhön (Unterfranken), die Kirchenburg von Norden; die Befestigung stammt aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Eine Kirchenburg bot weniger Schutz als eine Umwehrung der gesamten Siedlung, aber die Dorfbewohner konnten sich immerhin mit ihrer wichtigsten Habe in Sicherheit bringen.

Darüber hinaus gab es aber auch Befestigungsformen, die wie die Stadt nicht nur einer kleinen Gruppe dienten, sondern kollektiven Charakter besaßen. Aussparen kann man dabei die nur in Notzeiten aufgesuchten, siedlungsfernen und unbewohnten Fliehburgen, die im Frühmittelalter augenscheinlich häufig waren, die aber mit dem Aufkommen der befestigten Städte (und Dörfer) ihre Bedeutung verloren. Und ebenso geht es hier nicht um die Kirchhofsbefestigungen („Kirchenburgen“), die keineswegs nur in Siebenbürgen, sondern auch im engeren deutschen Raum im Hoch- und Spätmittelalter weit häufiger waren, als der heutige Anschein vermuten lässt; schöne Beispiele findet man etwa noch in Unterfranken, manchmal noch mit den „Gaden“, in denen die Dorfbewohner ihre wichtigste Habe lagern konnten (Abb. 2). Sie dienten zwar einer ganzen Siedlung, aber nicht in dem Sinne, dass sie die Wohnstätten der Dorfbewohner schützten, sondern im Sinne eben der früheren Fliehburgen – man überließ die Höfe notgedrungen dem Feind und rettete nur das Leben und das wichtigste Gut. Durch diesen Verzicht war eine zugleich stärkere und billigere Bauform möglich, die aber wenig mit den Stadtbefestigungen zu tun hatte.

Beschränkt man sich also auf jene Befestigungsformen, die – wie eben im Falle der Stadt – in beachtlicher Ausdehnung die Siedlung selbst umschlossen, so sind das Dorf, die Landwehr und schließlich zwei Grenzfälle der Stadt anzusprechen, nämlich Markt und Burgfreiheit.

Dörfer, die von Graben, Hecke oder Zaun („Etter“) umgeben und durch Holztore abgeschlossen waren, gab es vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert so gut wie überall im deutschen Raum, wobei die Belege angesichts der Vergänglichkeit der Anlagen meist indirekter Art sind: ältere Beschreibungen, Pläne und Ansichten, Erwähnung als Grenzen, Straßennamen, Parzellierung usw. Dementsprechend ist die Literatur, die über Einzelfälle hinaus ein Gesamtbild zu skizzieren sucht, bisher sehr spärlich (Reinhard Schmitt zu Sachsen-Anhalt). Für unser Thema ist besonders zu betonen, dass es sich bei Dorfumfriedungen keineswegs immer um Befestigungen gehandelt haben muss. Die Notwendigkeit, die Tiere im Dorf, fern von den Feldern und Gärten, zu halten, wird die meisten Etter oder Dorfgräben hinreichend erklären, wobei die von Historikern betonte Rechts- und Wirtschaftsbedeutung an die vorhandene Abgrenzung nur anknüpften, ähnlich wie an die Stadtmauern. Dass Dorfumfriedungen Befestigungscharakter hatten, ist – außer im seltenen Fall eindeutiger Quellenlage – vor allem dann sicher zu erkennen, wenn Reste erhalten sind. Das ist natürlich nur der Fall, wenn die Umwehrungen oder zumindest Teile davon in Stein errichtet waren – und dies war die große Ausnahme. Heute findet man Reste steinerner Dorfumwehrungen vor allem in Weinbaugebieten – etwa im Oberelsass, am Untermain, in Rheinhessen oder im Moseltal –, aber auch in anderen fruchtbaren Agrarregionen, etwa der Magdeburger Börde oder in Franken, wo es auch noch Dorftore des 15.–18. Jahrhunderts gibt, meist aus Fachwerk. Für die frühere Verbreitung ist dies gewiss nur insoweit repräsentativ, als in solchen Gebieten die Dörfer am größten und reichsten waren, sodass sie sich gegen Ende des Mittelalters oder noch später eine Mauer leisten konnten. Aus der Sicht der Bau- und Kunstgeschichte kommt eine Diskussion der komplexen funktionalen und rechtlichen Fragen dieses Nachbargebietes der Stadtmauern hier nicht infrage. Da jedoch die Dorfmauern in ihren Formen von spätmittelalterlichen Kleinstadtmauern der jeweiligen Region in der Regel kaum unterscheidbar sind – anders gesagt: da es sich, ungeachtet des Rechtsunterschiedes von Dorf und Stadt, um dieselbe bauliche Entwicklung handelt –, werden erhaltene Dorfmauern im regionalen Teil prinzipiell mitbehandelt.

Eine weitere Form der kollektiven Umwehrung bestand darin, dass eine ganze Anzahl von Siedlungen nebst ihrem zugehörigen Umland durch eine gemeinsame Umwehrung gesichert wurde, durch eine „Landwehr“ (vgl. 2.2.12). Eine Landwehr ist aufgrund ihrer stets enormen Länge in gewisser Weise die aufwendigste Form einer mittelalterlichen Siedlungsumwehrung gewesen, jedoch relativiert sich dies bei näherer Betrachtung. Landwehren waren nämlich keine verteidigungsfähigen Befestigungen, sondern das, was militärisch als „Annäherungshindernis“ bezeichnet wird, das heißt, sie waren so gestaltet, dass sie auch ohne Verteidiger ein Hindernis bildeten. In der Regel handelte es sich um mehrfach gestaffelte Wallgräben, die mit dichten (Dornen-) Hecken besetzt waren; bei einiger Pflege, die bis zum systematischen Verflechten der Büsche ging, konnte ein Weg durch eine solche Anlage nur mit erheblichem Zeit- und Arbeitsaufwand gebahnt werden. Dennoch war eine Landwehr im Laufe der Zeit recht einfach anzulegen und man vereinfachte die Arbeit weiter, indem man Wasserläufe, Täler, Steilhänge und andere natürliche Hindernisse in den Verlauf einbezog; im Planbild blieben Landwehren daher fern jeder Regelmäßigkeit. Ein Sonderfall von Landwehren, der die Einbeziehung natürlicher Hindernisse besonders deutlich macht, waren die „Talsperren“ in den Gebirgen, wo die Berge den Großteil des Schutzes bildeten und eine Sperre am Taleingang oder einer Engstelle genügte; die geringe Länge und das leicht verfügbare Material ermöglichten hier sogar Mauern und Türme, wie etwa bei den „Letzinen“ der Urschweiz.

Vor allem im norddeutschen Flachland weist vieles darauf hin, dass Landwehren schon vor dem Aufblühen des Städtewesens ein verbreitetes Mittel territorialer Abgrenzung waren. Insoweit kann man sagen, dass die Städte – deren Landwehren seit dem 13. Jahrhundert belegbar sind, allerdings mit dem Höhepunkt erst im 15. Jahrhundert – nur spät ein längst bewährtes Mittel übernahmen, um auch ihrem landwirtschaftlich wichtigen Umland einen gewissen Schutz zu bieten. Nur diese funktional eingeschränkte Spätphase der städtischen, meist durch „Warten“ ergänzten Landwehr kann im Zusammenhang unseres Themas interessieren.

Zwei Siedlungsformen stehen den „echten“ Städten vom Bild und teilweise auch von der Funktion her so nahe, dass man sie als Grenzfälle den Städten zuordnen kann: Markt und Burgfreiheit. Sie unterscheiden sich primär in der Rechtsform, was allerdings auch Folgen für die bauliche Ausprägung hatte, nämlich in dem Sinne, dass ihre eingeschränkte Selbstbestimmung sie meist an stärkerer Entwicklung hinderte.

Der „Markt“ als eigenständige Siedlungsform tritt uns heute vor allem noch in Bayern und im österreichischen Raum entgegen und es weist vieles darauf hin, dass dies das Ergebnis einer bewussten landesherrlichen Politik war. Wie schon ausgeführt, war der Markt im Grunde die Vorstufe und der funktionale Kern jeder Stadt, wobei eine echte Stadt aber Rechte und Möglichkeiten besaß, die über Wirtschaftliches im engen Sinne weit hinausgingen. Einer Siedlung das Marktrecht zu verleihen, ihr aber weitere städtische Freiheiten zu verweigern, war aus der Sicht des Landesherrn also augenscheinlich ein Versuch, die Vorteile einer Stadt zu nutzen, ohne sie in eine allzu ausgeprägte Selbstständigkeit zu entlassen. Ob es in der Absicht der Herzöge von Bayern und weiterer, vor allem süddeutscher Landesherren des 13. Jahrhunderts lag, die von ihnen gegründeten Märkte auf Dauer in dieser rechtlichen Vorform und damit Abhängigkeit festzuhalten, oder ob die Weiterentwicklung zu „vollständigen“ Städten im Rechtssinne zwar beabsichtigt war, aber aus irgendwelchen Gründen nicht recht funktionierte – dies wird auch von historischer Seite nur schwer umfassend zu klären sein. Unter dem Aspekt der Stadtbefestigungen genügt die Feststellung, dass viele der Märkte, besonders auffällig in Bayern, sich nicht erkennbar von „echten“ Kleinstädten unterscheiden, dass sie insbesondere oft auch (bescheidene) Befestigungen besaßen. Die Befestigungen der Märkte werden daher in den Regionalkapiteln ebenso mit einbezogen wie jene der Dörfer.

Eine weitere Übergangsform zur echten Stadt war die „Burgfreiheit“, das heißt eine kleine, direkt einer Burg angeschlossene und befestigte Siedlung, die herrschaftlich und auch wirtschaftlich voll von dieser abhing (Abb. 3). Sie ist einerseits kaum mehr als eine größere und planmäßiger bebaute Vorburg, andererseits kaum weniger als eine Kleinstadt – deren auch rechtlichen Status sie in manchen Fällen durchaus erreichte. Normalfall war jedoch das Fehlen städtischer Rechte, was sich nicht zuletzt in der Bezeichnung „(Burg-)Freiheit“ spiegelt. Gemeint ist jene Ansiedlung, die von der „Freiheit“ des adligen Burgherrn profitierte – Freiheit von Steuern und Abgaben, auch von fremdem Gericht –, obwohl sie nicht innerhalb der eigentlichen (Kern-) Burg lag. Im Rheinland trat alternativ auch der Begriff „Tal“ auf, der eine der typischen Lagen solcher Siedlungen charakterisiert, nämlich unterhalb der eigentlichen Burg im Tal bzw. am Hang; die andere typische Lage war auf gleicher Höhe mit der Burg, im Flachland, vor dem Halsgraben, oder auf dem Rest eines größeren Gipfelplateaus. Es fällt auf, dass sich derartige Burgstädtchen am Westrand des deutschen Sprachraumes häufen, im Rheinland, Westfalen und dem westlichen Hessen, aber auch im Elsass, in Baden und in der Westschweiz. Es liegt daher nahe, hier eine Anregung durch die in Frankreich verbreitete Form des bourg castral zu vermuten, mit einem wohl ähnlichen Hintergrund – relativ einkommensstarke Burgherren, die ihre qualifizierteren Untertanen nicht in die „freien“ Städte abwandern lassen und ihnen daher wenigstens gewisse städtische Vorzüge bieten wollten, etwa einen kleinen Markt, aber vor allem auch Schutz durch Befestigungen. Angesichts der Kleinheit der Anlagen kann aber kaum überraschen, dass diese Befestigungen eher bescheiden blieben. Im Bereich des Rheinischen Schiefergebirges ist zum Beispiel deutlich, dass die Zäune und Gebücke erst ab der Zeit um 1400 und bis ins 16. Jahrhundert hinein durch Mauern ersetzt wurden, und in Westfalen gibt es noch einige Fachwerktore des 16. Jahrhunderts. Die Ummauerungen, die auch anderswo kaum vor das 14. Jahrhundert zurückgehen, weisen in der Regel höchstens einen Torturm auf (Tengen/Baden, spätes 13. Jahrhundert?; Staufenberg/Hessen, „1401“), aber es gibt auch Ausnahmefälle wie etwa Braunfels (Hessen) mit einem Doppelturmtor des 15. Jahrhunderts oder insbesondere Sonnenberg bei Wiesbaden, wo das „Tal“ bei einer Länge von maximal 120 m doch vier ausgesprochen hohe Türme besitzt! Auch bei einer so ungewöhnlich aufwendigen Annäherung an das Bild echter Stadtmauern darf man nicht vergessen, dass sich hier keineswegs unabhängiger Bürgerstolz zeigte, sondern die besonderen Möglichkeiten eines Adligen, der Siedlung und Mauer als Teil seiner darüber aufragenden Burg verstand.

Dass eine mittelalterliche Stadt auch Funktionen einer „Festung“ übernehmen konnte, hat Carl Haase in einem gern zitierten Aufsatz von 1963 vorgetragen und in einem Buch über die Befestigungen der Städte ist dieses Thema zu diskutieren. Darf oder muss man gar die mittelalterliche Stadt als „Festung“ verstehen?

„Die mittel alterliche Stadt als Festung“

Zunächst muss dafür der Begriff der „Festung“ geklärt werden, der zumindest in der neueren Architekturgeschichte konkreter definiert wird, als Haase und andere ältere Historiker es taten. Dabei spielen zwei Aspekte die entscheidende Rolle, nämlich der des Militärs und jener der Artillerie. Eine Festung im strengen Sinne ist ein verteidigungsfähiges Bauwerk, das von militärisch organisierten Einheiten verteidigt wird, und zwar unter Verwendung von Artillerie bzw. Feuerwaffen; dabei steht hinter dem Begriff des „Militärs“ notwendigerweise auch der des Staates, denn nur ein entwickeltes Staatsgebilde benötigt eine Armee zur Verteidigung seines Territoriums und kann sie finanzieren. Aus dieser Definition geht hervor, dass Festungen neuzeitliche Phänomene sind, da von Artillerie im Sinne systematisch unterhaltener und genutzter Geschütze erst seit dem 15. Jahrhundert, von einem Militär im Sinne des „stehenden Heers“ erst im 17. Jahrhundert die Rede sein kann. In diesem engeren Sinne konnte eine mittelalterliche Stadt durch moderne Befestigungen und eine Garnison zwar sekundär zur Festung gemacht werden – was seit den „Landesfestungen“ des 16. Jahrhunderts oft der Fall war –, aber im Mittelalter selbst konnte sie noch keine „Festung“ sein.

Jedoch hat es im Mittelalter und noch früher durchaus gewisse Vorformen von Festungen gegeben, die in unserem Zusammenhang von Interesse sind. Die Kastelle des Römischen Reiches waren durchaus militärische Anlagen im engeren Sinne und manche große Burgen konnten spätestens ab dem 12./13. Jahrhundert über eine beachtliche Anzahl von Burgmannen verfügen, von einer Ordensburg mit ihrer Kriegerkaste ganz abgesehen. Allerdings erfüllten gerade die Burgen damit nur im weitesten Sinne das Kriterium einer „Garnison“, während von einer Prägung der Bauformen durch „Artillerie“ (= Wurfgeschütze) noch keine Rede sein konnte. Diesem letzteren Kriterium kamen höchstens manche Ordensburgen in den Kreuzfahrerstaaten etwas näher, wo im 13. Jahrhundert Wurfgeschütze bereits sehr effektiv eingesetzt wurden und in Ansätzen die Bauform zu prägen begannen.

Die mittelalterliche Stadt war dagegen primär ein ökonomisch funktionierendes Gebilde, das seine Befestigungen in erster Linie zum eigenen Schutz anlegte und unterhielt, und auch wenn die Bürgerschaft durchaus zu ihrer Verteidigung organisiert war (vgl. 3.2.), so war dies doch nicht ihr ursprünglicher Daseinszweck, sondern nur dessen Folge. Nichtsdestoweniger konnte eine Stadt natürlich strategische Bedeutung haben, weil ihre Verteidigungswerke samt Verteidigern, ihre wirtschaftliche Stabilität und nicht zuletzt ihre pure Größe es ihr erlaubten, prinzipiell mit jeder Burg zu konkurrieren bzw. sie in ihrem strategischen Wert zu übertreffen. Ein Landesherr konnte folglich die Gründung von Städten durchaus auch dazu verwenden, wichtige Plätze – eine Region, eine Grenze, eine Straße – zu sichern, oder er konnte vorhandene Städte entsprechend einsetzen und ausgestalten; dies machte zuletzt etwa Chr. Müller für mehrere ludowingische Kleinstädte in Thüringen wahrscheinlich. Neben einer sorgfältigen Lagewahl (vgl. 2.2.1.1.) und dem Ausbau ihrer eigenen Befestigungen konnte dabei auch die Kombination mit einer Burg ein sinnvolles Mittel sein – oder die Ansiedlungen von Burgmannen in der Stadt (vgl. 2.2.10.1.). Diese strategische Bedeutung bestimmter Städte blieb aber in jedem Falle eine Zusatzfunktion, die die wirtschaftlichen Kernfunktionen der Stadt nur ergänzte bzw. auf sie aufbaute, sie aber keineswegs etwa ersetzen konnte und sollte – die Stadt war höchstens „auch“ territorialpolitischer Stützpunkt, wurde aber nie vollständig zu einem solchen.


Abb. 3 Reifferscheid (Nordrhein-Westfalen) als Beispiel einer „Burgfreiheit“. Die nur mit der „Freiheit“ des Burgherrn ausgestattete, ummauerte Siedlung ist kaum größer als die Burg selbst (Dehio Nordrhein-Westfalen I, 2005).

Zudem bleibt im Rahmen der architekturgeschichtlichen Betrachtungsweise dieses Buches zu betonen, dass die besondere strategische Funktion einer Stadt in der Regel nicht an der Gestalt ihrer Befestigungen abzulesen ist. Auch wenn man in der historischen oder der Heimatliteratur nicht selten die Akzentuierung findet, eine Stadtbefestigung sei besonders „stark“ gewesen – oder die Stadt eben eine „Festung“ oder „Bastion“ –, so wird man diese Metaphorik aus dem Baubefund heraus kaum je bestätigt finden. Sicher waren die Befestigungen der Städte verschieden stark ausgebaut, insbesondere im Spätmittelalter, nach langer Entwicklung, aber in aller Regel wird man eher feststellen, dass sich darin Größe, Alter und Wirtschaftskraft der Stadt ausdrückt und dass eine allzu starke Betonung des Strategischen gegenüber dem Wirtschaftlichen bei der Stadtgründung später eher zu einer Stagnation führte.

Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum

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