Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 15
2. Die Entwicklung der Stadtbefestigung 2.1. Vorbilder und Vorläufer 2.1.1. Spätrömische Befestigungen
ОглавлениеStädte gehen als Phänomen, einschließlich ihrer Befestigungen, bis in die Jungsteinzeit zurück; Jericho im Jordantal gilt gemeinhin als das älteste Beispiel, mit ergrabenen Mauerresten und einem Turm der Zeit um 7000 v. Chr. Die Blüte des antiken Städtewesens erreichte den späteren deutschen Raum in römischer Zeit und brachte vom 1. bis 4. nachchristlichen Jahrhundert im Westen und Süden, vor allem an Rhein und Donau, einige hervorragende Beispiele von Stadtmauern hervor. Daneben entstand, vor allem im 3./4. Jahrhundert, eine erhebliche Anzahl von Kastellen zur Sicherung der Grenzen und Verkehrswege, deren Größe und starke, turmreiche Mauern durchaus schon den Dimensionen einer kleinen mittelalterlichen Stadtmauer entsprachen oder sie übertrafen.
Die Stärke und technische Qualität dieser römischen Befestigungen sicherten ihnen auch nach dem Zusammenbruch des Imperiums und der Verödung der Städte und Militäreinrichtungen ein langes Überleben, und als im Frühmittelalter neue Machtkonzentrationen und Handelsmittelpunkte heranwuchsen boten sie diesen weitaus mehr Sicherheit, als es sonst mit den begrenzten Mitteln der Zeit möglich gewesen wäre. Voraussetzung dafür war natürlich die örtliche Kontinuität, die in den meisten Fällen über christliche Kultstätten bzw. Bischofssitze zustande kam, aber natürlich auch mit der Verkehrslage zu tun hatte. So sicherten sich bedeutende Städte wie Köln, Trier, Mainz, Straßburg oder Regensburg noch bis ins 12. Jahrhundert im Wesentlichen hinter römischen Mauern, die nur in Köln und Regensburg schon vor 1000 durch befestigte Vorstädte ergänzt worden waren. Beispiele für kleinere Städte, die in römischen Kastellmauern entstanden, finden sich westlich des Rheins (Zabern/Saverne, Boppard (Abb. 8), Koblenz, Andernach, Bitburg), oft mit noch imposanten Resten, aber auch in Österreich, wo etwa das 1517 restaurierte Doppelturmtor von Traismauer (Abb. 280) einen römischen Vorgänger hatte.
Abb. 8 Boppard (Rheinland-Pfalz), das Kastell aus dem mittleren 4. Jahrhundert ist eine der besterhaltenen spätrömischen Befestigungen im deutschen Raum. Vorbilder für mittelalterliche Stadtmauern wurden derartige Anlagen aber nicht (A. Freiherr von Ledebur), Kunstdenkmäler Rheinland-Pfalz, Bd. 8, St. Boppard, 1988).
Die Vorstellung, dass die römischen Mauern für die Stadtmauern des Mittelalters vorbildhaft geworden seien, liegt unter diesen Umständen nahe – noch mehr, wenn man bedenkt, dass im 12./13. Jahrhundert fraglos noch viel mehr von ihnen als heute erhalten war. Aber obwohl im Nachbargebiet der Burgenforschung die Ableitung von römischen Kastellen und „burgi“ im 19. Jahrhundert zeitweise stark propagiert wurde, fehlt Entsprechendes für die Stadtmauern weitgehend. Lediglich die in der Tat ungewöhnlichen und frühen Doppelturmtore von Köln, deren Ähnlichkeit mit römischen Bauten beachtlich ist – man vergleiche das „Hahnentor“ (zweites Viertel des 13. Jahrhunderts) mit der „Porta Ostiensis“ in Rom (im Wesentlichen Mitte des 4. Jahrhunderts n. Chr.) –, haben früh zu der Idee römisch-imperialer Einwirkung geführt. Da Köln selbst einen älteren Tortypus ohne vorspringende Rundtürme besaß (1. Jahrhundert n. Chr.), wird hier nicht ohne Grund das Vorbild des Brückenkopfkastells Deutz angenommen, und auch die Trierer „Porta Nigra“ als besterhaltenes römisches Stadttor in Deutschland dürfte hier mitspielen. Die Kölner Mauer aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts hatte im Rheinland eine vielfältige Nachfolge, die deshalb mindestens zum Teil als indirekte antike Einwirkung verstanden werden darf; dabei bleibt freilich zu beachten, dass um 1200 auch im benachbarten Frankreich eine eigenständige Befestigungstradition mit Rundtürmen und Doppelturmtoren entstand, die im Laufe des 13. Jahrhunderts auch in die Regionen am Rhein eindrang und das Kölner Vorbild überlagerte.
Von dieser wichtigen Ausnahme abgesehen, fehlen aber in Deutschland Hinweise auf ein Weiterwirken der (spät)antiken Mauern und ihrer Formen so gut wie völlig. Man kann zwar auf die voll vorspringenden Rundtürme der um 1000 entstandenen Domburg in Hildesheim („Bernwardsmauer“) verweisen, der Türme an der karolingischen Pfalz Ingelheim ähnelten, und auch einzelne Türme an dieser oder jener frühen Burg des 10./11. Jahrhunderts, aber dies sind seltene Ausnahmen in einem frühmittelalterlichen Gesamtbild, das zunächst lange durch Holz-Erde-Anlagen und Trockenmauerwerk, dann durch turmlose Mauern und erst ab dem 13. Jahrhundert wieder durch Türme geprägt wurde – und auch dann zunächst fast nie durch runde Türme und noch weniger durch solche, die sowohl innen wie außen wie die römischen vorsprangen.
Und auch andere Hauptmerkmale der spätantiken Befestigungen sind an den mittelalterlichen Mauern in aller Regel nicht wiederzufinden. So sind für die Kastelle des 3./4. Jahrhunderts im Rheinland neben den Rundtürmen auch extreme Mauerdicken zwischen 2 m und 3 m üblich, dabei aber schlichte Tordurchlässe. Im Mittelalter wird man ganz im Gegenteil kaum je Mauern finden, die 2 m dick sind oder mehr (vgl. 2.2.3.1.), und die Tore sind als Tortürme fast immer die entscheidenden Akzente der Mauern; man darf also bei grundsätzlich gleicher Bauaufgabe von absolut gegensätzlicher Gestaltung sprechen.
Die Erklärung für dieses Auseinanderklaffen liegt im Grunde auf der Hand. Hinter den Bauten des späten Imperiums standen ein durchorganisiertes Staatswesen, ein effektives Militär und eine funktionierende Finanzverwaltung. Damit konnten sich die entstehenden Städte des 12./13. Jahrhunderts noch lange nicht messen, auch wenn sie Zentren eines Wirtschaftssystems waren, das sich langsam wieder formierte. Ihr kulturelles und ökonomisches Bezugssystem war vergleichsweise rudimentär und gewann erst über Jahrhunderte hinweg langsam an Solidität, was sich auch in der Entwicklung der Befestigungen zeigte. Ein Staat von der Stärke des Imperium Romanum entstand bis über die frühe Neuzeit hinaus nicht mehr, und dementsprechend sind erst die Festungen des entwickelten Absolutismus in ihrem Bauaufwand wieder mit den Städten und Kastellen der Spätantike zu vergleichen.