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1. Forschungsstand und Methodik 1.1. Probleme und Ziele der Stadtmauerforschung

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„Ueber das Alter der Stadtmauern lässt sich nichts Bestimmtes sagen; sie mögen die ursprüngliche Palisadenbewehrung allmählich ersetzt haben, und Erneuerungsarbeiten kamen jedenfalls häufig vor.“

G. Voss, Stadt Meiningen und die Landorte, Jena 1909

(Bau- u. Kunstdenkmäler Thüringens, Sachsen-Meiningen, Bd. I, 1. Abth.), S. 235

Diese Formulierung des thüringischen Inventarisators Anfang des 20. Jahrhunderts brachte die architekturgeschichtliche Problematik der Stadtmauern schon vor einem runden Jahrhundert auf den Punkt. So eindrucksvoll manche Mauern erhalten sind, so schwer fällt es, ihre Entstehungszeit im Einzelnen zu fassen. Dieses Problem teilen die Mauern mit einem Großteil der mittelalterlichen Architektur, und zwar aufgrund der zeittypischen Seltenheit von Schriftquellen; sie sollten in der Regel Rechtsverhältnisse dokumentieren, während Bauvorgänge nur ausnahmsweise, zum Spätmittelalter hin zunehmend, Erwähnung fanden. Bei Profanbauten und gar Befestigungsanlagen kommt erschwerend hinzu, dass das weitgehende Fehlen von Schmuckformen auch die kunsthistorische Stildatierung erschwert, die sonst den Schriftquellenmangel wenigstens teilweise ausgleichen kann. Und wenig hilfreich ist auch, wie Voss schon skizzierte, die Tatsache, dass ausgedehnte und jahrhundertelang funktionierende Bauten wie Stadtmauern schon durch normale Maßnahmen der Instandhaltung und Modernisierung eine Fülle von „Bauabschnitten“ aufweisen, die eine Betrachtung und Datierung der Mauer als einheitliches Bauwerk gar nicht zulassen, und dies umso mehr, als kaum eine Mauer lückenlos erhalten ist (Abb. 4). Und als ein zentrales Problem der Sachlage bleibt schließlich anzuführen, wiederum mit Voss, dass die Anfänge der meisten Befestigungen schon deswegen außerhalb einfacher Erkenntnismöglichkeiten liegen, weil es sich um recht bald ersetzte Anlagen aus Holz und Erde gehandelt hat.

Jede Gesamtdarstellung eines Bautypus wird grundsätzlich zwei miteinander verbundene Ziele anstreben. Zunächst geht es darum, die Entwicklung des Typus als solche zu klären, und dann auf dieser Grundlage um das Verständnis, welche historischen Bedingungen diese Entwicklung vorangetrieben und geformt haben.

Angesichts der beschriebenen Schwierigkeiten kann es nicht überraschen, dass selbst das erste dieser beiden Ziele für die Stadtbefestigungen noch in weiter Ferne liegt. Weit über 90 Prozent dessen, was seit dem 19. Jahrhundert über Stadtmauern publiziert wurde, bezieht sich auf die Mauer nur einer einzelnen Stadt, aber unter diesen Hunderten von Veröffentlichungen sind jene viel zu selten, die Forschung im strengeren Sinne vorgelegt haben, also Auswertung der Schriftquellen, Bauforschung am aufgehenden Bestand oder archäologische Erfassung – oder gar Datierung verschwundener Teile. Gerade unter den älteren, selten von Bau- oder Kunsthistorikern geschriebenen Monographien überwiegen vielmehr solche, die nur summarisch die Reste beschreiben bzw. den ehemaligen Verlauf der Mauer zu rekonstruieren suchen. Gerade bei kleineren Städten und dort, wo Zerstörung die Befestigung aus dem Bewusstsein schwinden ließ, fehlen Darstellungen der Mauern außerdem oft gänzlich und Datierungsversuche beschränken sich allzu häufig auf die methodisch unhaltbare Gleichsetzung der Ersterwähnung als Stadt mit der Bauzeit der erhaltenen Teile – jede Stadt hatte dieser simplifizierenden Denkweise zufolge von Anfang an eine Mauer und alle Reste gehören zu ihr, die man sich dabei als Bau „aus einem Guss“ denkt (vgl. 1.4.). Dass solche Simplifikationen in der Tourismuswerbung gängig sind, liegt auf der Hand, aber leider findet man sie auch oft auf den an sich verdienstlichen Informationsschildern vor Ort, wo man doch mehr Sachverstand einfordern dürfen sollte.


Abb. 4 Worms (Rheinland-Pfalz), steinrechte Ansicht eines Stadtmauerabschnitts beim Stift St. Andreas als Beispiel eines mehrpha sigen Befundes mit Befundnummern; hochmittel alterlich sind nur die grau unterlegten Teile (vgl. Abb. 37; O. Wagner/A. de Filippo in: Wormsgau, 30, 2013).

Angesichts solch grundsätzlicher Probleme, eine Mauer „per se“ zu interpretieren, darf man a priori einige Erwartungen auf den Vergleich zwischen den Stadtmauern einer Region richten – Typisches könnte im Vergleich erkannt werden und das an einem Ort Undatierbare besser einzuordnen sein.

Leider aber fehlen solche vergleichenden Untersuchungen bisher so gut wie völlig. Im Grunde sind für den gesamten deutschen Raum nur drei größere Arbeiten zu nennen, die dieses Ziel methodisch sinnvoll angestrebt haben. Die Dissertation von Udo Mainzer behandelte 1973 die Stadttore des Rheinlandes, dabei stand die Rezeption der großartigen Kölner Mauer des frühen 13. Jahrhunderts im Zentrum, und Heinrich Trost hat schon 1959 die besonders schmuckreichen Stadttore im Backsteingebiet insbesondere von Brandenburg und Mecklenburg thematisiert. Beide Arbeiten verfolgten einen dezidiert kunsthistorischen Ansatz und griffen daher aus dem Gesamtzusammenhang der Mauern die Tore heraus, also deren schmuckreichste Einzelbauten, die am ehesten Aussagen über die Entwicklung von Formen und den symbolischen Gehalt zulassen. Einer gänzlich anderen Methodik verpflichtet ist dagegen das jüngste der drei vorliegenden Überblickswerke, das erst 1995–99 dreibändig die Stadt- und Landmauern (= Stadtmauern und Landwehren) der Schweiz zu erfassen sucht. Hier handelt es sich um das (mit geringen Lücken) flächendeckend angelegte Inventar aller Stadtmauern eines Landes, das vor allem Untersuchungsergebnisse zusammenstellt, die mit den Mitteln von Archäologie und Bauforschung erzielt wurden. Damit spiegelt es den Eintritt in eine neue, noch recht junge Phase der Forschung, die – über das Betrachten und Interpretieren hinaus – zum ersten Mal „untersucht“, das heißt auch ins stratigraphische und technische Detail geht, um das Bauwerk, seine Bauphasen und Funktionen möglichst umfassend zu verstehen. Der kunsthistorische Formenvergleich spielt in den Stadt- und Landmauern zwar eine geringere Rolle, weil zusammenfassende Betrachtungen der Initiative der Autoren überlassen blieben. Dafür aber zeigen die Stadt- und Landmauern, warum solche Vergleiche bisher nur begrenzt möglich sind, weil nämlich wenige Mauern gut untersucht sind und es methodisch inakzeptabel ist, sich auf jene zu beschränken, die durch die Zufälle der Jahrhunderte besser erhalten sind. Nicht nur wegen seiner Sorgfalt, sondern auch wegen dieser korrekten Widerspiegelung eines noch bruchstückhaften Wissensstandes ist der Schweizer Ansatz vorbildhaft und wird hoffentlich Nachfolge auch in anderen Ländern und Regionen finden.

Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum

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