Читать книгу Die mittelalterlichen Stadtbefestigungen im deutschsprachigen Raum - Thomas Biller - Страница 14
1.6. Archäologie und Historische Bauforschung
ОглавлениеWie einleitend gesagt, war in der älteren Literatur die vertiefte Auseinandersetzung mit einer Stadtmauer als Bauwerk die seltene Ausnahme. Erst in den letzten Jahrzehnten, mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg und der zunehmenden Verbreitung akademischer Bildung, entwickelten sich Forschungszweige, die auch diesen Bautypus bis ins Detail zu untersuchen begannen: Mittelalterarchäologie und Historische Bauforschung. Beide bilden in gewisser Weise einen gemeinsamen Gegenpol zum Vorgehen der traditionellen Kunstgeschichte, indem sie zunächst gerade nicht stilistische Merkmale einordnen und den Gesamtüberblick suchen, sondern mit letztlich technischer Methodik Schichten, Entwicklungen und Brüche erfassen, um der späteren Interpretation auf historischer Ebene ein verbessertes Fundament zu schaffen. Diese verbesserte Interpretation kann natürlich nur auf lange Sicht entstehen, gegenwärtig sehen wir uns noch einer beständig wachsenden Menge von Einzelergebnissen gegenüber, die im topographischen Band II dieses Buches bereits eine wichtige Rolle spielen, und auch dort, wo die Archäologie die einzige Erkenntnismöglichkeit bietet, vor allem bei den frühen Befestigungen aus Holz und Erde (vgl. 2.2.1.3.). Trotz der zeitraubenden Verdichtung zu übergreifenden Erkenntnissen haben Mittelalterarchäologie und Historische Bauforschung jedenfalls eine neue Phase der Forschung eingeleitet, in der gesichertes Wissen von bisher unbekannter Detailliertheit und Konkretion an die Stelle einer bisher eher oberflächlichen Betrachtung der Bauten zu treten beginnt; als Beispiel seien etwa die bereits zusammenfassend ausgewerteten Grabungen im Land Brandenburg genannt, die zeigen, dass die Mauern relativ häufig über vorher schon genutztes bzw. bebautes Gelände geführt wurden. Dass freilich auch in Zukunft Interpretationsprobleme auftreten werden, wenn das Faktenmaterial sich stärker verdichtet hat, kann etwa Duderstadt belegen, wo etliche Einzeluntersuchungen an der Mauer zu recht unterschiedlichen Ergebnissen und Deutungen führten, sodass erst deren nachträgliche Gesamtauswertung ein halbwegs geschlossenes Bild der lokalen Entwicklung ermöglichte.
Zu den grundlegenden Rahmenbedingungen von Archäologie und Bauforschung gehören neben der Finanzierung der zeitaufwendigen Arbeit auch der vorgefundene Zustand und die Zugänglichkeit der Areale und Bauten. (Alt-)Städte sind kleinteilig parzelliert, dicht und vielphasig bebaut und Objekte intensiver Interessen ihrer Bewohner und Nutzer. Genaue Untersuchungen des Bodens oder erhaltener Bauten haben es daher nahezu immer mit vielfach veränderter, schwer analysierbarer Substanz zu tun und sie kommen nur unter günstigen Bedingungen zustande. So wird man heute nur ganz selten ein Stadttor oder einen Turm finden, der nicht jahrhundertelang als Gefängnis oder Armenwohnung gedient hat, der vom Abbruch der Zinnen oder gar der Obergeschosse und vom Einbruch größerer Fenster verschont blieb – was „echter“ aussieht, ist in der Regel restauriert und damit unter dem Aspekt der Bauforschung eher noch schwerer zu analysieren. Wenn in diesem Buch eher wenig über die mittelalterlichen Nutzungen von Innenräumen gesagt werden kann, so liegt das also nicht nur an der schweren Zugänglichkeit der weit überwiegend nicht öffentlich zugänglichen Bauten, sondern auch daran, dass fast immer nur intensive Bauforschung den Urzustand klären könnte, nicht aber reine Betrachtung.
Außerdem ist es von regionalen Traditionen abhängig, wie stark die neuen Forschungsansätze in Ländern und Städten zum Zuge kommen; so ist die Archäologie im norddeutschen Flachland ab dem frühen 20. Jahrhundert stets recht einflussreich gewesen, während die Möglichkeiten der noch jungen Bauforschung von Land zu Land und Ort zu Ort bisher sehr verschieden sind, vor allem wohl deswegen, weil die Möglichkeiten zu einem sinnvolleren Umgang mit der denkmalwerten Substanz, die sie eröffnet, in Bauwesen und Verwaltung erst langsam begriffen werden.
Aber regionale Sonderbedingungen prägten den Zustand der Mauern schon weit früher, und damit auch den methodischen Ansatz und Aufwand, der zu ihrem Verständnis nötig ist. So führte der Mangel an Steinmaterial im glazial geprägten Flachland – in Norddeutschland, aber auch in weiten Teilen Bayerns – nicht nur zu verspäteter Errichtung relativ weniger Mauern, sondern auch dazu, dass sie nach dem Verlust ihrer Funktion bald und weitgehend wieder abgetragen wurden. Der Effekt, der auch von Burgen bekannt ist, führt zu einer deutlich eingeschränkten Kenntnis der Mauern solcher Regionen – bis es zu einer breit angelegten Forschung mit archäologischen Mitteln kommt, die dann sogar zu Erkenntnissen führen kann, die in Regionen mit besser erhaltenen Mauern noch fehlen.
Abb. 7 Amberg (Oberpfalz) als Beispiel einer Stadtmauer, die wegen der fehlenden Mauergasse später zu Hausfassaden um genutzt werden konnte. Nur die durchlaufende Flucht und die beiden verbauten Rundtürme lassen noch ahnen, dass es sich um die Stadtmauer handelt.
Ein bisher nirgends beschriebener, aber eng verwandter Effekt betrifft das Vorhandensein von Mauergassen (vgl. 2.2.3.6.). In ganz Süddeutschland sind Mauergassen die Ausnahme, die Parzellen stoßen dort meistens direkt an die Mauer. Die städtische Bebauung wurde dort spätestens ab dem 15./16. Jahrhundert, in der Schweiz manchmal schon beim Mauerbau, bis an die Mauer herangeführt, worauf diese sich allmählich zur vielfach durchbrochenen und veränderten, oder gar ganz erneuerten Hausfassade wandelte. Kommt dazu noch ein Bruchsteinmauerwerk, das gegen Witterungseinflüsse Verputz erfordert, so sind unmittelbare Analysen der Bausubstanz heute nur im Falle größerer Baumaßnahmen möglich. In manchen Fällen ist die Mauer auf diese Weise so vollständig aus dem Bewusstsein verschwunden, dass die Bewohner und manchmal sogar Wissenschaftler unter „der“ Stadtmauer die vorgelagerte Zwingermauer verstehen und die verbaute Hauptmauer schlicht übersehen (Abb. 7). Dagegen hat das Vorhandensein einer Mauergasse – in Norddeutschland, aber auch in großen Städten und bei späteren Mauern des Südens – die Mauer in der Regel vor allzu starker Verbauung und Veränderung geschützt, falls sie nicht systematisch beseitigt wurde. Zwar wurden auch hier manchmal Häuser an die Mauer gelehnt, aber das waren in der Regel kleine Fachwerkhäuser, die sie als Stütze benötigten und sie schon deshalb weniger veränderten.
Ein wichtiger Aspekt der jüngeren Archäologie und Bauforschung ist das Aufkommen naturwissenschaftlicher Datierungsmethoden, die die Einordnung auch von Stadtmauern schon hier oder dort auf zuverlässigere Grundlagen gestellt haben. Dies gilt vor allem für die Dendrochronologie, die etwa in Baden-Württemberg schon für eine Reihe von wichtigen Mauern angewendet wurde (unter anderen durch Burghard Lohrum in Schwäbisch Gmünd, Villingen, Konstanz). Wie diese ein mit historischen Mitteln gewonnenes Bild nicht nur festigen, sondern zugleich stark verändern können, zeigt etwa Kaiserslautern. Schon 1253 als „oppidum“ erwähnt, ab 1276 Reichsstadt, würde man hier, mitten im Sandsteingebiet mit seinem optimalen Baumaterial, durchaus eine Mauer des 13. Jahrhunderts annehmen, aber die an zwei Stellen ergrabenen Fundamentpfähle der Mauer wurden erst 1330–33 geschlagen.