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e) Ausnahmen von der Anhörung

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Absehen als Ermessensentscheidung. § 28 Abs. 2 Nr. 1 bis 5, Abs. 3 VwVfG regelt die Voraussetzungen, unter denen die Behörde nach ihrem Ermessen („kann abgesehen werden“) von einer Anhörung absehen kann. Die Begründung des Verwaltungsakts sollte erkennen lassen, dass der Behörde das Absehen von der Anhörung als Ermessensentscheidung bewusst war.[44] Eine darüber hinausgehende Begründungspflicht[45] wird unter Hinweis darauf abgelehnt, dass die Begründungspflicht in § 39 Abs. 1 Satz 3 VwVfG nur für den erst zu erlassenden Verwaltungsakt, nicht aber für den ihm vorhergehenden verfahrensgestaltenden Verwaltungsakt gilt.[46]

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Absehen bei Gefahr im Verzug (Nr. 1, 1. Alt.). Bei Gefahr im Verzug kann von einer Anhörung abgesehen werden, wenn auch bei Gewährung kürzester Fristen oder einer telefonisch geforderten Stellungnahme der durch eine vorherige Anhörung eintretende Zeitverlust mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die durch den Verwaltungsakt zu treffende Regelung zu spät käme.[47] Stellt sich später heraus, dass die von der Behörde angenommene Gefahrenlage tatsächlich nicht gegeben war, berührt das nicht die Rechtmäßigkeit des – ohne Anhörung erlassenen – Verwaltungsaktes, weil es allein auf eine „ex-ante“-Sicht der Behörde ankommt, wie die Formulierung „notwendig erscheint“ zeigt.[48] Gefahr im Verzug ist nicht schon bei jedem Verwaltungsakt anzunehmen, dessen sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet worden ist; für jeden Einzelfall ist zu prüfen, ob trotz der Gefahrenlage noch Zeit für die Durchführung einer Anhörung besteht.[49]

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Absehen bei öffentlichem Interesse (Nr. 1, 2. Alt.). Dieser Grund, von einer Anhörung abzusehen, enthält einen vom zeitlichen Moment des Merkmals „Gefahr im Verzug“ zu unterscheidenden Auffangtatbestand, der nur bei Vorliegen bedeutsamer Gemeinschaftsgüter in Frage kommt, bloße Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte, Kosten- oder Rationalisierungsgründe reichen nicht aus.[50]

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In Frage stellen einer maßgeblichen Frist (Nr. 2). Die Vorschrift hat durch die Einführung der Genehmigungsfiktion in § 42a VwVfG bzw. in Fachgesetze des besonderen Verwaltungsrechts (z.B. § 22 Abs. 5 BauGB, § 15 Abs. 1 PBefG) erheblich an Bedeutung gewonnen. Die Einhaltung einer Frist kommt als Grund für ein Absehen von der Anhörung nur in Betracht, wenn die Behörde damit nicht lediglich eine von ihr verschuldete Fristversäumnis umgehen will.[51]

Beispiel:

Einer Behörde sind alle entscheidungserheblichen Tatsachen bekannt, die sie zur Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes ermächtigen, § 48 Abs. 1 Satz 2 VwVfG. Entschließt sie sich erst kurz vor Ablauf der Jahresfrist (§ 48 Abs. 4 VwVfG) zur Rücknahme, kann von der nötigen vorherigen Anhörung nicht deshalb nach § 28 Abs. 2 Nr. 2 VwVfG abgesehen werden, weil sonst die Jahresfrist verstreichen würde.[52]

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Kein Abweichen von tatsächlichen Angaben als Grund für ein Absehen von der Anhörung (Nr. 3). In diesen Fällen ist der Beteiligte nicht schutzwürdig, weil er der Behörde die Entscheidungsgrundlagen selbst geliefert hat, sie ihm also bekannt sind.

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Absehen bei Allgemeinverfügungen, gleichartigen oder automatisierten Verwaltungsakten (Nr. 4). Bei Allgemeinverfügungen wird eine Anhörung oft schon daran scheitern, dass der durch den Verwaltungsakt betroffene Personenkreis nur schwer überschaubar ist.

Beispiel:

Nicht absehbar ist, welche Verkehrsteilnehmer von einem Verkehrsschild betroffen sind.

Bei den mit Hilfe automatischer Einrichtungen erlassenen Verwaltungsakten handelt es sich vielfach um Massenverwaltungsakte, die durch eine gleichartige rechtliche oder tatsächliche Ausgangslage gekennzeichnet sind.

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Absehen bei Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung (Nr. 5). Dies wird oft die Effektivität der Vollstreckung[53] erfordern; zudem wird den Interessen des Beteiligten dadurch in hinreichendem Maße Rechnung getragen, dass ihm beim Erlass des Grundverwaltungsaktes Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben ist. Aber auch dann, wenn dem Vollstreckungsakt kein vollziehbarer Grundverwaltungsakt vorangegangen ist, wie in den Fällen der unmittelbaren Ausführung (vgl. § 6 Abs. 2 VwVG), ist auf die Vollstreckungsmaßnahme § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG anwendbar.[54]

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Absehen bei zwingendem öffentlichen Interesse (Abs. 3). Bei zwingendem öffentlichen Interesse ist die Behörde – anders als in den im Ermessen stehenden Fällen des Abs. 2 – verpflichtet, von einer Anhörung abzusehen. Aus dem Zusammenhang mit den Regelungen des Abs. 2 folgt, dass „zwingende öffentliche Interessen“ i.S.d. Vorschrift nur solche sind, die über die in Abs. 2 bezeichneten öffentlichen Belange hinausgehen; im Hinblick darauf ist dieser Ausnahmegrund restriktiv auszulegen.[55]

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Folgen einer unterlassenen Anhörung. Unterbleibt eine nach § 28 Abs. 1 VwVfG gebotene, nicht nach Abs. 2 oder 3 entbehrliche Anhörung führt dies grundsätzlich zur formellen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Jedoch kann dieser formelle Fehler nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG in den zeitlichen Grenzen des § 45 Abs. 2 VwVfG[56] durch Nachholung „geheilt“ werden. Wurde früher nach weit verbreiteter Rechtsprechung in der Durchführung des Widerspruchsverfahrens – soweit noch erforderlich – bei Kenntnisnahme und Würdigung durch die Behörde eine Nachholung der Anhörung gesehen[57], ist an dieser Auffassung aufgrund neuerer Entwicklungen der Judikatur nicht mehr festzuhalten. Das Bundesverwaltungsgericht fordert nunmehr ein formales Nachholungsverfahren innerhalb des Widerspruchsverfahrens oder des gerichtlichen Verfahrens und eine entsprechende inhaltliche Befassung und Würdigung der gegebenenfalls eingegangenen Stellungnahme des Betroffenen.[58] Mit dieser Aufwertung der Anhörungspflicht in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist auch explizit der Auffassung die Grundlage entzogen, dass Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren die Nachholungsvoraussetzungen des § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG erfüllen könnten.[59] Unterbleibt eine Nachholung der Anhörung nach § 45 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2 VwVfG, kann nur noch nach § 46 VwVfG von einer Aufhebung des Verwaltungsakts abgesehen werden, dessen hohe Voraussetzungen bei Ermessensentscheidungen kaum zu bejahen sein dürften.

B. Allgemeine Grundsätze, Subjekte und Ablauf des Verwaltungsverfahrens › I. Allgemeine Grundsätze des Verwaltungsverfahrens › 6. Das Recht auf Akteneinsicht

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