Читать книгу Handbuch Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozess - Thomas Elwell Jacob - Страница 57
aa) Tatsächliche Voraussetzungen der Wiedereinsetzung
Оглавление40
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nach § 32 VwVfG[91] ebenso wie für prozessuale Fristen nach § 60 VwGO[92] möglich, wenn jemand ohne sein Verschulden gehindert war, eine gesetzliche (nicht: behördliche, vertragliche[93]) Frist einzuhalten. Unverschuldete Fristversäumnis erfordert, dass dem Betroffenen nach den gesamten Umständen kein Vorwurf daraus zu machen ist, dass er die Frist versäumt hat und ihm die Einhaltung der Frist zumutbar war. Über das Kriterium der “Zumutbarkeit“ berücksichtigt die Rechtsprechung das vom Gesetz nicht geregelte schuldhafte Verhalten der Behörde an der Fristversäumnis zugunsten des Bürgers.
Beispiel:
Ein Antrag auf Verlängerung der Zulassung eines Arzneimittels wurde von der Behörde erst nach mehr als vier Jahren beschieden, der Verlängerungsbescheid enthielt zudem eine unklare Angabe, wie lange die Verlängerung gelten solle. Die Behörde berief sich auf die Versäumung der Sechs-Monats-Frist des § 31 Abs. 3 AMG. Das OVG NRW gewährte die Wiedereinsetzung in die durch schuldhaftes Verhalten der Behörde versäumte Antragsfrist zur erneuten Verlängerung der Zulassung des Arzneimittels.[94]
41
Ausschlussfristen. Keine Wiedereinsetzung ist möglich, wenn es sich um eine so genannte Ausschlussfrist im engeren Sinn handelt. In diesen Fällen soll eine Fristversäumnis nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Wann dies der Fall ist, ist dem Fachgesetz entweder ausdrücklich oder seinem Sinn und Zweck nach zu entnehmen.[95] Eine ausdrückliche Regelung findet sich in § 32 Abs. 3 VwVfG. Dem Sinn nach ausgeschlossen sein dürfte eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei der Versäumung der Antragsfrist für eine Subvention[96]; hier muss die Behörde so schnell wie möglich Klarheit über den Kreis der Antragsteller haben.[97]
42
Verschulden bedeutet, dass der Betroffene diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen hat, die für einen gewissenhaft und sachgerecht handelnden Verfahrensbeteiligten im Hinblick auf die Fristwahrung geboten ist und ihm nach den gesamten Umständen zumutbar war. Maßstab sind die konkreten Verhältnisse des Betroffenen.[98] Schuldhaft handelt in diesem Sinne, wer eine Sendung ohne ausreichende Frankierung in den Postlauf im Vertrauen darauf gibt, die Behörde werde die Annahme nicht verweigern oder in Kenntnis eines gerade begonnenen Poststreiks eine Sendung in den Briefkasten gibt.
43
Das Ausschöpfen gesetzlicher Fristen darf dem Betroffenen nicht beschnitten werden. Selbst wer von Anfang an entschlossen ist, Widerspruch einzulegen, darf dies bis zum Ende der gesetzlichen Frist überdenken. Allerdings ist der Betroffene gehalten, bei der Einlegung eines Rechtsbehelfs kurz vor Ablauf der Rechtsbehelfsfrist darauf zu achten, dass die Sendung bei normalem Beförderungslauf den Empfänger noch rechtzeitig erreichen kann. Gegebenenfalls muss er sich beim Postamt nach den Postlaufzeiten erkundigen. Hat er dies getan, sind nicht vorhersehbare Verzögerungen im Beförderungsverlauf dem Betroffenen nicht anzulasten.[99]
44
Verschulden des gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertreters ist dem Vertretenen zuzurechnen, vgl. für § 32 Abs. 1 Satz 2 VwVfG und bei Anwendung der §§ 60, 70 Abs. 2 VwGO, § 173 VwGO in Verbindung mit § 51 Abs. 2 und § 85 Abs. 2 ZPO. Für das Verschulden anderer Personen hat der Betroffene dagegen nicht einzustehen. Das Verschulden einer Hilfsperson des Beteiligten ist aber diesem zurechenbar, wenn er die Hilfsperson nicht ausreichend unterwiesen und beaufsichtigt hat.[100]
Beispiele:
a) | Der Anwalt überlässt die Kontrolle von Fristsachen einer gerade eingestellten Auszubildenden ohne hinreichende Erfahrung; kommt es zu einem Fristversäumnis, wird das Organisationsverschulden des Anwalts dem Vertretenen zugerechnet. Gegenbeispiel: Die langjährige, stets zuverlässig arbeitende Fachkraft eines Anwaltes versäumt es, die Tagespost zur Post zu bringen, weil sie von einem plötzlichen Trauerfall in der Familie überrascht wird und deshalb überstürzt die Kanzlei verlässt. Mit diesem außergewöhnlichen Ereignis brauchte der Anwalt nicht zu rechnen. |
b) | Bei einem elektronisch geführten Fristenkalender ist der Rechtsanwalt jedenfalls für die Verwaltung von Not-, Rechtsmittel- und Rechtsbehelfsfristen gehalten, durch hinreichende Kontrollen sicherzustellen, dass die eingegebenen Daten auch vom Programm gespeichert und durch entsprechende Benachrichtigungen umgesetzt werden.[101] |
45
Geltung bei höchstpersönlichen Rechten? Das Verschulden von gesetzlichen oder bevollmächtigten Vertretern im Verwaltungsverfahren (und Verwaltungsprozess) wird dem Betroffenen selbst dann zugerechnet, wenn es um für den Betroffenen wichtige höchstpersönliche Rechte geht, wie beispielsweise um die Anerkennung als Asylberechtigter,[102] Kriegsdienstverweigerer[103] oder Vertriebener resp. Spätaussiedler.