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2.2. Werte
ОглавлениеTagtäglich unterscheiden wir zwischen wertvolleren und weniger wertvollen (bzw. wertlosen) Dingen – Erlebnissen, Erfahrungen, Fähigkeiten, Handlungen, Beziehungen, menschlichen Beziehungen usw.
Wir sind beständig „mit Wertvollem wie Wertwidrigem konfrontiert“ und sehen uns „dabei aufgefordert (…), durch unser Handeln Positives zu erhalten oder zu fördern, und Negatives zu beseitigen oder zu verhindern, soweit es uns möglich ist“ (von Kutschera 1999, S. 221).
Werte sind selber keine konkreten Gegenstände. Sie lassen sich nicht direkt wahrnehmen oder beobachten. Vielmehr messen wir bestimmten Gegenständen, Situationen, Handlungen, Leistungen usw. bestimmte Werte bei. Was ich an einer Goldkette sinnlich wahrnehme, sind ihre Größe, Gestalt und Farbe, ihr Gewicht und ihre Feinheit. Ihren Wert hingegen kann ich nicht ertasten, erfühlen oder erblicken – den ökonomischen Wert so wenig wie den emotionalen, den die Kette für ihre Besitzerin darstellt.
Wenn wir einer Sache (einem Gegenstand, einer Erfahrung usw.) einen besonderen Wert zusprechen, bedeutet dies, dass wir sie gegenüber Anderem für vorzugswürdig halten. Diese Vorzugswürdigkeit ergibt sich aus dem Wert, den wir der betreffenden Sache beimessen. Werte setzen also die Existenz vernünftiger Wesen voraus, die imstande sind, ein Ding einem anderen mit Gründen vorzuziehen – also Wesen, die zur Urteilsfindung fähig sind.
Am besten bekannt sind uns Werte aus dem Bereich der Wirtschaft. Wir haben uns angewöhnt, teure Güter für wertvoller zu halten als billige (obwohl wir manchmal mit einem teureren Gegenstand einen geringeren emotionalen Wert verbinden als mit einem billigeren). Viele Dinge verdanken ihren ökonomischen Wert ihrer Seltenheit – Elfenbein zum Beispiel. Steigt die Nachfrage nach einem Gut im Verhältnis zum Angebot, so zieht auch sein Preis an, und wir neigen dazu, es dementsprechend für wertvoller zu halten (ein allerdings oft vorschneller Schluss).
„Wir wissen von allem den Preis, aber von nichts mehr den Wert“, hat Oscar Wilde einmal festgestellt. Man kann den Wert eines Dings also nicht von seinem Preis her erklären. Denn dieser schwankt nach den Marktverhältnissen. Die ersten Computer, die in den siebziger Jahren noch als Wundermaschinen galten und praktisch unbezahlbar waren, haben heute den Wert von Museumsstücken. Ein Gut, das niemand mehr kaufen will, hat keinen ökonomischen Wert.
Heute werden nicht mehr nur materielle Güter, sondern auch zwischenmenschliche Serviceleistungen kommerzialisiert – mit der Folge, dass selbst menschliche Beziehungen zunehmend nach ihrem Marktwert beurteilt werden. Schon im 17. Jahrhundert hat Thomas Hobbes geschrieben: „Die Geltung oder der Wert eines Menschen ist wie der aller anderen Dinge sein Preis. Das heißt, er richtet sich danach, wie viel man für die Benützung seiner Macht bezahlen würde“ (Hobbes 1751, 10. Kap.; S. 67) – eine frostige, aber erstaunlich hellsichtige Analyse…
Neben den ökonomischen Werten spielen in unseren Entscheidungen auch Werte anderer Natur eine Rolle: Wir orientieren uns an ästhetischen Werten (schönen Landschaften, ansprechenden Kunstwerken, leckeren Mahlzeiten usw.), an theoretischen Werten (Wahrheit, Verständlichkeit, Eleganz von Theorien oder Beweisen), an sentimentalen Werten (von Dingen, die uns „ans Herz gewachsen“ sind) und von ethischen Werten (Gerechtigkeit, Unparteilichkeit, menschliche Güte usw.). Doch wenn irgendein Gut einen inneren, nicht über den Marktpreis zu ermittelnden Wert hat, woher bezieht es diesen? Was liefert einem Wert seine Grundlage (vgl. Kasten 2.2.)?
Kasten 2.2.: Worauf beruhen Werte?
Auf die Frage nach der Herkunft ethischer, ästhetischer oder künstlerischer Werte (von Dingen, Handlungen, Personen, Charaktereigenschaften usw.) gibt es mehrere Antworten:
Etwas hat für mich einen Wert, weil es sich zur Befriedigung eines Bedürfnisses eignet. Je durstiger ich z.B. bin, desto größer ist mein Interesse an einem Glas Wasser, und desto leichter bin ich bereit, dafür einen übersetzten Preis zu bezahlen. Doch lassen sich Werte nicht allgemein auf subjektive Interessen zurückführen: Die Romane Dostojewskis haben nicht deswegen künstlerischen Wert, weil viele Menschen sie gerne lesen, sondern umgekehrt: Viele Menschen lesen gerne Dostojewski, weil seine Romane von hoher künstlerischer Qualität (ein Wert!) sind.
Manchen Dingen schreiben wir aufgrund einer Konvention einen Wert zu. Oder bloß, weil sie in Mode sind. Soziale Gewohnheiten, Traditionen, kollektive Vorlieben erklären aber nicht jede Art von Werten. Es gibt auch ethisch fragwürdige Moden – das Tragen von Pelzmänteln beispielsweise. Rücksichtnahme auf Tiere repräsentiert einen höheren Wert als das Tragen ihrer Pelze.
Einigen Dingen schreiben wir einen Wert an sich oder in sich zu – der Artenvielfalt zum Beispiel. Es wäre eigenartig, wenn wir der Biodiversität nur deswegen einen Wert zuschrieben, weil sie so und so vielen Menschen ein Anliegen ist. Analoges gilt für ethische Werte: Aufrichtigkeit, Aufmerksamkeit, Dankbarkeit sind nicht deswegen wertvolle Haltungen, weil die meisten Menschen sie schätzen, sondern die Menschen schätzen sie, weil sie ethisch wertvoll sind.
Auch manchen Konventionen und Bräuchen sprechen wir Werte zu: Festen, Riten, nationalen Symbolen usw. Der Umstand, dass es besser (= wertvoller) ist, sich an bestimmte Konventionen zu halten, als sich darüber hinwegzusetzen, hängt seinerseits nicht nochmals von einer Konvention ab. Nicht zufällig stufen wir Konventionen und Regeln, die dem friedlichen Zusammenleben und der Kooperation zwischen Menschen dienlich sind, gewöhnlich als besonders wertvoll ein.
Viele Wertungen sind subjektiv. Manche Menschen empfinden etwas als schön, was andere als hässlich empfinden. Manche finden das Muster auf einer Kreuzspinne ansprechend, bei anderen schlägt der Abscheu vor Spinnen jedes Gefühl für ihren ästhetischen Reiz tot. Über den Geschmack, heißt es, kann man nicht streiten. Und doch gibt es Beispiele von Werten, über die ein breiter Konsens besteht. Ein Kristall ist nicht deshalb schön, weil er uns gefällt, sondern er gefällt uns, weil er schön ist.
Die meisten Menschen ziehen den Frieden dem Krieg und höfliches Verhalten einer Gemeinheit vor. Doch auch Werte, die im großen Ganzen als unstrittig gelten, sind nicht in der „Natur“ begründet. Dies anzunehmen, liefe auf einen Fehlschluss hinaus – den sogenannten „naturalistischen Fehlschluss“ (vgl. unten Abschnitt 2.4).