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3.2. Aristoteles’ Begriffsanalyse der Tugend

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Eine der aussagekräftigsten Definitionen des Tugend-Begriffs stammt immer noch von Aristoteles [384-322 v. Chr.] und steht in seiner „Nikomachischen Ethik“ (2. Buch). Seine Ausführungen sind zwar 2300 Jahre alt, aber in vielen wesentlichen Einzelheiten immer noch klarer als vieles, was später über das Thema geschrieben worden ist. Die aristotelischen Tugenden [aretái] umfassten auch andere als rein moralische Eigenschaften – Gewandtheit und Besonnenheit zum Beispiel. In der Neuzeit ist der Tugendbegriff allerdings vermehrt auf die moralische Dimension eingeengt worden. Ein Großteil der nach-aristotelischen Tugenddefinitionen bis in die Gegenwart knüpft direkt oder indirekt, meistens über Thomas von Aquin, an Aristoteles an und übernimmt auch treu einen Teil seiner Beispiele (z.B. Foot 1997; Brantschen 2005), obwohl sich inzwischen auch ganz andere Beispiele nahelegen. – Die Tugend-Definition des Aristoteles umfasst vier Aspekte:

1. Eine Tugend ist eine Haltung oder Willensdisposition [héxis]. Unter einer Haltung versteht man eine erworbene, also nicht angeborene, Verhaltensgewohnheit. Man erwirbt sie, indem man sich immer wieder in entsprechender Weise verhält. Man kann sich angewöhnen, anderen, die uns um Hilfe bitten, diese Hilfe nach Möglichkeit zu gewähren, bei Verabredungen pünktlich zu erscheinen usw. Die Nachahmung passender Vorbilder unterstützt diesen Gewöhnungsprozess. Die Aneignung einer Haltung ist aber nicht zuletzt auch eine Frage des Willens: Der Charakter einer Person zeigt sich vor allem am Ensemble ihrer Haltungen.

2. Die Haltungen, die Aristoteles in seiner Tugend-Lehre diskutiert, beziehen sich auf den Umgang mit Affekten und Leidenschaften. Wir können auch sagen: auf den Umgang mit unseren Gefühlen und Emotionen. Vorrangig geht es bei Aristoteles um den Umgang mit Lust und Unlust. Eine Tugend ist also nicht etwa selbst eine Emotion oder Leidenschaft [páthos]; ebenso wenig ist sie eine Quelle aktiver Tätigkeit [dýnamis]. Am besten kann man sie als einen Mechanismus der Emotionsregulierung und in zweiter Linie der Verhaltens-Regulation bezeichnen. Da die Emotionen im zwischenmenschlichen Umgang eine entscheidende Rolle spielen, sind auch die Tugenden hier von entsprechender Bedeutung (vgl. dazu Smith 1759).

3. Eine Tugend [areté] ist eine Haltung, die positive soziale Wertschätzung erfährt. Das Gegenteil, das Laster [kakía], stößt auf Tadel und Kritik. Die Frage nach dem Maßstab dafür, welche Haltungen positiv und welche negativ sind, beantwortete Aristoteles mit dem Hinweis auf die Natur des Menschen. Positiv sind Haltungen, die sich förderlich auf die menschliche Gemeinschaft und auf den Einzelnen auswirken, negativ solche mit entsprechend schädlichen oder unerfreulichen Auswirkungen.

4. Eine Tugend liegt zwischen zwei entgegen gesetzten Extremen. Diese Extreme sind ebenfalls Haltungen, und zwar solche, die eher Kritik als sozialen Applaus hervorrufen. Die „Tugend“ muss nicht genau in der Mitte liegen, häufig ist sie einem der beiden Extreme näher als dem anderen.

Tabelle 3.1.: Tugend als mittlere Haltung. Vier aristotelische Beispiele

Das eine Extrem: „zu wenig“ Die Mitte, das richtige Maß: „Tugend“ Das andere Extrem: „zu viel“
Feigheit Tapferkeit Tollkühnheit
Geiz, Kleinlichkeit Großherzigkeit, Freigiebigkeit Prunksucht, Verschwendungssucht
Initiativlosigkeit, Schlaffheit Besonnenheit Zügellosigkeit
Liebedienerei (umgangssprachl.: „Arschkriecherei“) Persönliche Zurückhaltung Streitsucht (vgl. umgangssprachlich: „Querulant“)

Den Erwerb sozial wertgeschätzter Haltungen bringt Aristoteles mit zwei Fähigkeiten in Verbindung – der Urteils- und der Willenskraft. Die erste ist rein kognitiv, die zweite liegt der Motivation zu sozialen Lernprozessen zugrunde:

• Das richtige Urteil [orthós lógos], d.h. die Fähigkeit, den „goldenen Mittelweg“ zu finden; man könnte hier auch von „Augenmaß“ sprechen.

• Willensstärke oder Selbstbeherrschung [enkráteia] oder die Entschlusskraft, wirklich so zu handeln, wie es allgemein als wünschenswert gilt (und wie man es sich selber wünscht).

Es gibt also unterschiedliche Wege, auf denen man sich eine Tugend erwirbt: Der eine ist, wie bereits kurz erwähnt, die Gewöhnung: Ein Kind eignet sich eine Reihe von Verhaltensweisen an, die es in seinem gesellschaftlichen Milieu beobachtet, und verbindet mit ihnen eine Einstellung der Wertschätzung. „Éthos“ bedeutet bei Aristoteles auch „Gewohnheit“. Von hier aus ergibt sich unmittelbar die Bedeutung des Wortes „ēthiké“ – Charaktererziehung, Lehre von der Aneignung der richtigen Haltungen. Der andere Weg ist die Belehrung [didaskalía]. Sie kommt zur Gewöhnung unterstützend hinzu. Durch Gewöhnung und Belehrung werden auch die intellektuellen Tugenden [aretaí dianoēthikaí] erworben, zu denen etwa Klugheit, Einsicht, Wahrhaftigkeit und Weisheit gehören (Aristoteles diskutiert diese Tugenden im 6. Buch der Nikomachischen Ethik).

Das Gegenteil einer Tugend, die Untugend oder das Laster [kakía], beruht entsprechend entweder auf Willensschwäche [akrasía] oder auf Unkenntnis, Unwissenheit [ágnoia]. Willensschwache Personen sind unbeherrscht und haben ihre Emotionen nicht im Griff. Sie handeln, als ob sie durch äußere Gewalt [bía] getrieben wären.

Aristoteles vertrat die Auffassung, der Maßstab dafür, welche Haltungen positiv und welche negativ seien, liege in der Natur des Menschen; denn der Mensch sei ein von Natur aus mit Vernunft begabtes Lebewesen, und die Vernunft weise ihm bei der Frage nach dem richtigen Verhalten den Weg. Die Fähigkeit, seine Handlungen an vernünftigen Entscheidungen auszurichten, sei im Übrigen selbst eine Tugend…

Fasst man die Essentials der aristotelischen Tugendlehre zusammen, so klingt dies etwa so: Tugend ist eine erworbene Haltung, die soziale Wertschätzung erfährt; sie bezieht sich auf die Art und Weise, wie wir uns zu unseren Emotionen und Affekten verhalten, und liegt ungefähr in der Mitte zwischen zwei Extremen. Selbstbeherrschung bzw. Willenskraft und klarer Verstand sind für den Aufbau von Tugenden die wichtigsten Voraussetzungen.

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