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3.3. Einwände gegen eine Tugend-Ethik

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Aus moderner Sicht lassen sich gegen eine an Tugenden orientierte Ethik vier Einwände formulieren:

1. Was ist das, was Aristoteles als „die Natur des Menschen“ bezeichnet? – Wir würden heute sagen, der Begriff „Natur“ verweise auf das Bild, das man sich vom Menschen macht. Nun finden wir in unterschiedlichen Epochen und in unterschiedlichen Gesellschaften recht unterschiedliche Menschenbilder. Schon Aristoteles hat beobachtet, dass die Tugendkataloge in Sparta und Athen nicht genau übereinstimmten. Im christlichen Mittelalter wurden zum Teil andere Tugenden hochgehalten als in der vorchristlichen Antike, und nochmals andere in der Moderne. In der griechischen Antike waren Tapferkeit und Weisheit hoch angesehene Haltungen, im christlichen Mittelalter Frömmigkeit und Demut, in frühkapitalistischen Gesellschaften Fleiß und Pünktlichkeit. Heute, in der spätkapitalistischen Moderne, stehen Anpassungsfähigkeit und Flexibilität hoch im Kurs. Rasch zu Reichtum zu kommen, gilt in modernen Gesellschaften als ein Zeichen der Tüchtigkeit, in den meisten traditionellen Gesellschaften Afrikas hingegen als ein Indiz für eine unsoziale Haltung. Was dort eine Tugend ist, ist hier ein Laster. Ob eine Haltung als Tugend, als Laster oder als etwas zwischen diesen Extremen gilt, hängt von der Gesellschaft ab, in der wir leben. Tugenden und Laster spiegeln gesellschaftliche Wertungen, und diese sind veränderlich. So haben menschliche Gesellschaften im Verlauf der Geschichte recht unterschiedliche Tugendkataloge aufgestellt (MacIntyre 1981). – Führt eine Tugendethik also nicht in einen ethischen Relativismus (vgl. Kapitel 10)?

2. In einer Gesellschaft, die raschem sozialem Wandel unterworfen ist, sind Tugenden fehl am Platz; der Begriff der „Tugend“ klingt antiquiert:

„Solche Ethiken, die Ideale menschlichen Verhaltens in konkreten Situationen, in Freundschaft, Ehe und Familie, in unterschiedlichen Berufen und sozialen Rollen, in den verschiedenen Lebensaltern, in Gesundheit und Krankheit usw. darstellen, sind heute fast ausgestorben. Es gibt zwar hie und da Wiederbelebungsversuche, die aber wohl wenig aussichtsreich sind, denn Tugenden können sich nur in relativ wohldefinierten und dauerhaften Sozialstrukturen ausbilden und Vorbildfunktion haben. Unser Leben wandelt sich jedoch heute so schnell, dass die Ideale von gestern morgen schon wieder antiquiert sind“ (von Kutschera 1999, S. 224).

3. Der Appell an Tugenden provoziert leicht eine Doppelmoral. Der Theologe und Philosoph Romano Guardini schrieb anfangs der sechziger Jahre in diesem Zusammenhang:

„Ich nehme an, wenn Sie das Wort [„Tugend“] hören, haben Sie das gleiche Gefühl wie ich, wenn ich es ausspreche: ein Unbehagen, einen Anreiz zum Spott… Dieses Gefühl ist verständlich. In ihm steckt eine Opposition gegen den moralischen Anspruch (…), im Guten gefestigt, sittlich überlegen zu sein. Darüber hinaus das Misstrauen, der Anspruch enthalte Heuchelei, weil gegen das Gutsein in Wahrheit doch immer wieder gefehlt, hier aber das Fehlen nicht zugegeben bzw. versteckt wird… In dieser Opposition ist auch etwas sehr Schönes; jene Scham, die sich überhaupt gegen die Betonung des Ethischen wehrt.“ Das Ethische „soll wirksam sein, aber von innen her. Es soll in allem das Wichtigste sein, sich aber nicht direkt und als solches vordrängen“ (Guardini 1993 I., S. 316).

4. Ein weiterer Einwand stammt, wie der erste, vom amerikanischen Philosophen Alisdair Macintyre (1981): Tugend-Ethiken sind mit modernen Gesellschaften grundsätzlich unvereinbar. Sie passen nicht zum Individualismus, wie er für die moderne westliche Gesellschaft charakteristisch sei. Man kann ergänzen: Eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich anhand eines Kataloges von Tugenden gegenseitig beurteilen, ist eine Gesellschaft mit starker Sozialkontrolle. Im griechischen Stadtstaat [pólis], den Aristoteles vor Augen hatte, wurde von den einzelnen Personen erwartet, dass sie ihr Verhalten auf die von der Gemeinschaft gesetzten Maßstäbe ausrichteten. Das galt ähnlich auch noch im christlichen Mittelalter und gilt bis heute in den schwach oder gar nicht industrialisierten Gesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas. In diesen Gesellschaften ist der Individualismus schwächer ausgeprägt als in den modernen westlichen Gesellschaften. Somit drängt sich die Vermutung auf, dass der Individualismus der Moderne, zumindest in seinen exzessiven Formen, unvereinbar ist mit der Forderung, der Einzelne müsse sich an den Erwartungen der Gesellschaft, in der er lebt, orientieren. Inwiefern diese Vermutung zutrifft, ist nun im Folgenden zu diskutieren.

Handbuch Ethik für Pädagogen

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