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2.3.2. Das sogenannte Böse – Bosheit ohne Freiheit

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Mit dem Ausdruck „das sogenannte Böse“ hat Konrad Lorenz [1903-1989] tierische Verhaltensweisen bezeichnet, die man auf den ersten Blick als böse einstufen möchte, auf die diese Charakterisierung aber nicht zutrifft, weil sie sich nicht auf eine freie Entscheidung zurückführen lassen (Lorenz 1963). Der Fuchs, der in den Hühnerstall eindringt, handelt nicht aus freiem Willen.

Tabelle 2.6.: Wie weit reicht die Analogie zwischen Tierwelt und menschlicher Gesellschaft?

Biologie: Lebewesen stehen untereinander in einem Wettbewerb um knappe Ressourcen. Fressen und Gefressenwerden sind in der Natur omnipräsent. Fast alle Organismen verdanken ihr (Über-) Leben dem Untergang anderer Organismen. → Sind Raubtiere böse? Und die Ziegen, die Weidegründe in Wüsten verwandeln? → Sind umgekehrt die eiszeitlichen Jäger, die das Aussterben des Großwilds in Amerika und Australien herbeigeführt haben, böse gewesen? Und die heutigen Hochseefischer? Gesellschaft: Jede organisierte Gesellschaft verlangt von ihren Mitgliedern, dass sie ihre Triebe domestizieren. Wer ihnen freien Lauf lässt, eckt an. Ein Freibrief für aggressives Verhalten würde Mord und Totschlag fördern. → Sind ungebändigte menschliche Triebe böse? → Ist umgekehrt die Gesellschaft böse, die uns durch Auferlegung von Triebverzicht eine Dauerfrustration zumutet und womöglich, wie Freud behauptet hat, neurotisch macht?

Das Problem der Rechtfertigung einer Welt, in der Lebewesen einander Leiden zufügen (Theodizee-Problem), stellt sich nicht erst angesichts der menschlichen Bosheit, sondern bereits angesichts des durch das „sogenannte Böse“ verursachten Leidens. Das Fressen und Gefressenwerden führt dazu, dass die große Mehrheit der Lebewesen vor Erreichen des für ihre Spezies maximalen Alters stirbt. Und obwohl man darüber nichts mit Sicherheit aussagen kann, deuten viele Beobachtungen darauf hin, dass zumindest für höhere Lebewesen die Momente des Gejagt-, Gefangen- und Gefressenwerdens mit akutem Stress und Leiden verbunden sind.

Die Evolution kennt keine Moral, keine Ethik, keine Gerechtigkeit. Diese keimen erst mit der menschlichen Zivilisation. Vermutlich deswegen, weil es ohne geregelte Kooperation zwischen den Gesellschaftsmitgliedern kein Ende der ungezügelten Gewalt, kein friedliches Zusammenleben und wahrscheinlich eine viel weniger weit entwickelte Kultur gäbe – kurz weil ein dauerhaftes Kooperationsgefüge ohne moralische Normen nicht möglich wäre.

Handbuch Ethik für Pädagogen

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