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I. 3. Wertgeschätzte Haltungen: Tugenden

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Im ersten Kapitel wurde Moral als ein Ensemble oder System von Regeln bzw. von Pflichten und Rechten definiert. Ist Moral aber immer und zwingend an ein solches Regelsystem gebunden? Gibt es nicht auch wechselseitige soziale Erwartungen, die keinen Verpflichtungscharakter haben? – Doch, es gibt sie, und sie beziehen sich nicht auf das konkrete Verhalten, sondern auf Haltungen und Einstellungen oder, anders ausgedrückt, auf Handlungsgewohnheiten oder Haltungen. – Diese sind Gegenstand des vorliegenden Kapitels.

Wir beurteilen nicht nur konkrete Verhaltensweisen, sondern werten oft auch die ihnen zugrunde liegende Einstellung oder – noch weitergehend – den Charakter einer Person bzw. die Person selber. Es gibt Menschen, die nicht bloß ihre Pflichten erfüllen, sondern mehr tun, als sie unbedingt müssten. Dieses „mehr tun“ lässt sich in einer Pflichtenethik nicht erfassen (es ist, mit einem lateinischen Wort, „supererogatorisch“).

Die Wertung der Haltungen bzw. des Charakters von Personen ist gewöhnlich nicht einfach subjektiv, sondern entspricht einem kollektiven Konsens. Es handelt sich um eine Art kollektiver Wertung: Gegenüber Haltungen wie Hilfsbereitschaft, Toleranz und Pünktlichkeit fällt sie in der Regel positiv und gegenüber Egoismus, Intoleranz und Unpünktlichkeit negativ aus …

Eine Haltung ist nicht dasselbe wie eine Regel, und noch weniger ist sie eine Aktivität. Wer sich Ehrlichkeit angewöhnt hat, wird meistens die Wahrheit sagen, aber vielleicht doch nicht immer. Und wer zur Unpünktlichkeit neigt, kann ausnahmsweise auch einmal pünktlich erscheinen.

Mit moralischen Emotionen reagieren wir auf konkrete Handlungen, die andere Personen schädigen, nicht auf Haltungen. Wer nicht freigiebig ist, erntet deswegen keine Empörung; wer sich hingegen großzügig zeigt, wird gelobt und erntet Dankbarkeit. Eine positive Haltung, die gewissermaßen als Standard gilt, hat Beispiel- oder Vorbildcharakter. Eine Vorschrift an andere ist sie deswegen nicht. Wer umgekehrt durch Haltungen wie Aufdringlichkeit und Geschwätzigkeit auffällt, tut damit nichts Verbotenes, macht sich aber gleichwohl unbeliebt. Sozial wertgeschätzte Haltungen sind also etwas anderes als Normen oder Verbote – sie gehen über den Bereich dessen, was wir voneinander fordern, hinaus. Es gibt Haltungen mit eindeutig ethischem Gehalt – Ehrlichkeit, Toleranz, Hilfsbereitschaft, andere Haltungen aber sind nicht selber ethischer Natur. Von ethischer Bedeutung ist hingegen wieder, welche Haltungen wir uns überhaupt aneignen. Humor und Zivilcourage z.B. sind ethisch wertvoller als Humorlosigkeit und Duckmäuserei. Eine Haltung kann auch Verhaltensweisen begünstigen, die je nach Kontext bald ethisch wertvoll und bald unethisch sind: Eine gewisse Unsensibilität, ja Kaltblütigkeit schützt den Notfallarzt bei einem Katastropheneinsatz davor, sich von seinem Mitgefühl mit den Verletzten lähmen zu lassen. Anders bei einem Raubmörder: Die Unsensibilität ist hier eher eine psychische Begleiterscheinung seiner Brutalität, die er ohne sie womöglich gar nicht entwickelt hätte.

Die Ausbildung von Haltungen mit Exzellenzcharakter ist in der Pädagogik ein zentrales Thema. Im parallelen Kapitel des II. Teils wird es wieder aufgenommen – allerdings geht es dort nicht mehr direkt um individuelle Haltungen, sondern um Standards im Zusammenhang mit menschlichen Fähigkeiten und ihrer Ausbildung allgemein.

Handbuch Ethik für Pädagogen

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