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3.4. Passen Tugenden in die moderne Gesellschaft?

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Trotz der erwähnten Kritiken feiert der Tugend-Begriff heute eine kleine Renaissance. Man begegnet immer häufiger der Überzeugung, der moderne Individualismus sei keineswegs ein Hindernis für eine Tugendethik (Bollnow 1959). Tatsächlich unterscheiden auch wir als Bürger moderner Gesellschaften klar zwischen Haltungen, die Applaus, und solchen, die Kritik verdienen. Auch in pluralistischen Gesellschaften herrscht in diesen Dingen anscheinend keine grenzenlose Beliebigkeit. Es lassen sich im Gegenteil zahlreiche Beispiele von Haltungen nennen, die in zeitgenössischen Gesellschaften von einer Mehrheit der Menschen, vielleicht von praktisch allen, wertgeschätzt sind, wie etwa Toleranz, Zivilcourage, Flexibilität (drei typisch moderne Tugenden!) oder – ein etwas zeitloserer Wert – Humor. Und es gibt andere, die mit Kritik belegt sind, wie Intoleranz, Unflexibilität, Humorlosigkeit. Keines dieser Beispiele ist von Aristoteles genannt worden, vermutlich weil sie im Alltag der altgriechischen Gesellschaften keine nennenswerte Rolle gespielt haben.

Bei einer Theorie, die über 2000 Jahre alt ist, stellt sich dennoch die Frage, was sie uns heute noch zu bieten hat. Auf die genannten Beispiele von Haltungen, die in unserer zeitgenössischen Gesellschaft wertgeschätzt werden, treffen immerhin die ersten drei Aspekte der aristotelischen Definition zu: Sie werden erworben, haben direkt oder indirekt mit der Regulierung unserer Affekte und Emotionen zu tun, und sie erfahren soziale Wertschätzung. Wie steht es mit dem vierten Kriterium, demzufolge eine Tugend nicht nur einer Untugend, sondern gleich zweien gegenübersteht? Von ihm ist in der einschlägigen Literatur heute praktisch nirgends die Rede, weshalb die Vermutung naheliegt, es handle sich um eine Spezialität von Aristoteles. – Und doch zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass auch dieses letzte Kriterium nicht der Aktualität entbehrt. Man kann dies leicht an ein paar Haltungen überprüfen, die sich einer ziemlich verbreiteten Wertschätzung erfreuen, obwohl Aristoteles nie auf die Idee gekommen wäre, sie in seine Tugend-Liste aufzunehmen (vgl. Tabelle 3.3).

Offensichtlich verhindert der ausgeprägte Individualismus, der unsere Gesellschaft im Unterschied zu vorindustriellen Gesellschaften prägt, nicht, dass wir uns immer noch an Haltungen orientieren, die soziale Wertschätzung erfahren, und eigenartiger Weise gilt auch für die meisten zeitgenössischen Beispiele wertgeschätzter Haltungen, dass ihnen nicht eine einzige, sondern zwei Haltungen gegenüberstehen, die einen negativen Ruf haben. Es gibt sie also heute noch, die Tugenden – auch wenn sie im deutschen Sprachraum kaum noch mit diesem Begriff bezeichnet werden. Und das vierte Kriterium, das Aristoteles nennt, trifft auf die Haltungen, die wir heute besonders wertschätzen, in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle ebenfalls immer noch uneingeschränkt zu (Tabellen 3.1 und 3.2).

Kasten 3.2.: Ist der Tugend-Begriff noch zeitgemäß?

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat der Pädagoge Otto F. Bollnow über den paradoxen Sachverhalt nachgedacht, dass einerseits der Tugend-Begriff antiquiert und nicht mehr zu gebrauchen ist, dass aber andererseits der Sache selbst nach wie vor ungebrochene Aktualität zugesprochen werden muss. Es lohnt sich, diesen Gedanken in extenso zu zitieren:

„[…] die Abwertung und Auflösung hat sogar diesen allgemeinsten Begriff [der Tugend] ergriffen. Wenn man auf einem alten Friedhof die Inschriften verwitterter Grabsteine liest, dann findet man oft: Hier ruht der tugendhafte Jüngling, die tugendhafte Jungfrau und so weiter. (…) Noch um die Zeit der deutschen Klassik konnte sich ein Kreis besonders ernsthaft um ihre Vollendung ringender junger Menschen als ‚Tugendbund‘ bezeichnen. Es ist ganz undenkbar, dass sich eine heutige Jungendorganisation unter demselben Namen zusammenfinden würde. Sie würde dem Fluch der Lächerlichkeit verfallen. Und ich glaube, kein junger Mensch würde sich heute gern als tugendhaft bezeichnen lassen. Worauf beruht dieser Eindruck der Lächerlichkeit, der heute dem Wort anhaftet? (…)

So wie die Tugendhaftigkeit heute verstanden wird, besteht sie in einem äußerlich korrekten Lebenswandel. Der Tugendhafte ist derjenige, der keines der geltenden Sittengebote übertritt oder von dem wenigstens keine Übertretung dieser Gebote bekannt wird. Das geht dann leicht hinüber zum Ängstlichen und Leisetreterischen, zum Mangel an Unternehmungsgeist und Zivilcourage. Ja, es nimmt darüber hinaus leicht etwas Scheinheiliges und Musterschülerhaftes an, einen Zug der Bravheit, die nur aus der Schwäche entspringt. Und damit verbindet sich dann leicht noch etwas Scheinheiliges und Eingebildetes. Der Tugendhafte hält sich etwas zugute auf seine Tugend.“

Vergleicht man die heutige Bedeutung des Wortes „Tugend“ mit derjenigen, die sie in der Antike bei den Griechen und Römern hatte, so stellt man mit Verwunderung fest, „dass dieser unser moderner Tugendbegriff keineswegs so selbstverständlich ist, wie er zunächst schien, dass er sich vielmehr als das Spätprodukt einer bestimmten geschichtlichen Entwicklung aus ursprünglich sehr andersartigen und sehr viel kräftigeren Auffassungen entwickelt hat“ (Bollnow 1959, S. 11-13).

„Man kann bei einer behutsamen Betrachtung der Wörter, mit denen der heutige Mensch im unbefangenen Sprachgebrauch sein Verhalten im Guten wie im Bösen kennzeichnet, viel über die sich neu ausbildenden, spezifisch modernen Tugenden erfahren.

(…) Da ist z.B. die fairness, halb noch ein Fremdkörper in unsrer Sprache, aber heute schon lange über den engeren Bereich des Sports hinausgedrungen, als Kennzeichen der menschlichen Beziehungen überhaupt, wie sie sich aus dem geregelten Zusammenspiel gleichberechtigter Partner ergeben, als Ausdruck einer ritterlichen Gesinnung, die einen zufälligen Vorteil nicht ausnutzt, sondern dem andern immer die gleiche Chance zubilligt. Aus dem sportlichen Spiel ist ein in Regeln kaum fassbares und dennoch ungeheuer fein reagierendes Kriterium menschlichen Verhaltens geworden“ (a.a.O., S. 14).

Tabelle 3.3: Moderne Haltungen, die der aristotelischen Tugenddefinition entsprechen

Untugend: Haltung des Zuwenig Tugend: mittlere Haltung Untugend: Haltung des Zuviel
Unsicherheit, Schüchternheit/Duckmäuserei Zivilcourage, Selbstsicherheit Selbstüberschätzung, Geltungssucht, Vorwitzigkeit
Unflexibilität Flexibilität Wankelmütigkeit, Unberechenbarkeit
Intoleranz Toleranz Indifferenz
Pedanterie Zuverlässigkeit, Korrektheit Unzuverlässigkeit, Schludrigkeit
Humorlosigkeit Humor Unernst
Handbuch Ethik für Pädagogen

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