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Die Städte bilden Territorien
ОглавлениеFür das Mittelalter und generell für die vorstaatliche Zeit war allerdings bezeichnend, dass solche und weitere hoheitliche Rechte keineswegs zwingend in einer Hand vereint und auf einem grösseren Gebiet vereinheitlicht waren. Auf eine solche Landeshoheit und später Staatlichkeit steuerte aber langfristig die Territorienbildung der Städte hin, die angesichts der eher anarchischen Folgen der ländlich-kommunalen Selbstbestimmung – etwa im Fall Appenzells – zusätzlich daran interessiert waren, eine klare Herrschaftsordnung aufzubauen. Die Räte wollten nicht mehr jede Massnahme mit einem konkreten, bestehenden Rechtstitel begründen müssen, sondern aus umfassender Befugnis als «oberste herrschafft» Entscheidungen treffen auch in Bereichen, die bisher noch nicht obrigkeitlich gestaltet waren; und diese Entscheidungen sollten für alle Beherrschten gleichermassen gelten. Sprachlich zeigte sich das darin, dass Zürich herkömmlich aneinanderreihend von «ünser grafschaften, herrschaften, gerichte und gebiet» sprach, seit den 1430er-Jahren aber zusammenfassend von «allen unsern gerichten und gebieten» und schliesslich über «unser ganzes Gebiet». Parallel dazu ersetzte seit der Mitte des 15. Jahrhunderts «Untertanen» das freundlichere «die unsern» oder gar «unsere eydtgnossen». Dieser Sprachgebrauch verriet den etwa für Weggis und Vitznau bereits erwähnten Prozess, dass oft aus wechselseitigen Bündnissen und Schutzbeziehungen Abhängigkeit und, als die (habsburgische) Bedrohung wegfiel, Untertänigkeit wurde.
Wie erfolgte die städtische Expansion? Neben dem Pfahlbürger- und Burgrecht diente dazu der Ankauf von zumeist adligen Rechtstiteln und Pfandschaften, anfangs durch stadtsässige Adelsgeschlechter, später auch durch Bürgerliche und durch den städtischen Rat selbst. Immer wichtiger wurde die Abhängigkeit der Bauern von Krediten, die sie in der Stadt erhielten. Kriegerische Eroberungen, wie sie 1415 Bern in grossem, Zürich und Luzern in kleinem Umfang tätigten, waren eher die Ausnahme. Doch der Burgenbruch, im 15. Jahrhundert erleichtert durch die aufkommende Artillerie, war durchaus ein Mittel der Städte, um adlige Bastionen zu zerstören. Wie für den Aargau geschildert, wurden auch im eigenen Territorium die herkömmlichen und vielfältigen Privilegien und Autonomierechte der Landstädte und Dörfer weitgehend geduldet, sodass sich die Stadt ihre obrigkeitlichen Kompetenzen mit den jeweiligen Kommunen, Gerichtsherren oder oft auch geistlichen Institutionen (Klöstern, Stiften) teilen musste, was regelmässig zu Reibungen führte. Soweit die Stadt nicht einfach die bestehenden Vogteien – also in der Regel die bewährte habsburgische Verwaltungseinteilung – übernahm, richtete sie auf ihrem Gebiet neue ein: Die stadtnahen Vogteien wurden direkt von mächtigen Ratsmitgliedern verwaltet, die entfernteren von Landvögten. Sie residierten auf einem Schloss und trieben die hohen Kosten für den Erwerb des Amtes wieder ein, indem sie ihren Anteil an Abgaben wie Zehnten, Steuern oder Zöllen einbehielten und die Güter bewirtschafteten, die ihnen zur Nutzniessung überlassen wurden.
Als einzige und nicht unbedingt sesshafte Stadtbürger in einem manchmal grossen Gebiet waren die Vögte darauf angewiesen, mit den dörflichen Führungsgruppen zusammenzuarbeiten. Grossbauern, Müller oder Wirte stellten die Amtsträger, gewählt zum Teil von der Gemeinde selbst (Säckelmeister, Geschworene) oder vom städtischen Rat, aber meist auf Vorschlag des Dorfes (Ammann, Meier, Weibel, Untervogt). Entsprechend standen sie wiederholt zwischen den Fronten, aber auch an der Spitze von Protestbewegungen von Untertanen, die sich meist zuerst friedlich, durch Beschwerden, gegen obrigkeitliche Willkür oder Forderungen wehrten (Steuern, Kriegsdienst). Auch wenn Widerstand gewalttätig wurde, verteidigten Bauern bloss das Herkommen oder versuchten, das «alte Recht» wiederherzustellen. Das zielte manchmal auf vermehrte Mitsprache, aber nicht auf Umsturz der gesellschaftlichen oder politischen Verhältnisse. Die Veränderungsdynamik ging vielmehr von der Territorienbildung der Städte aus, die ein unmittelbares und strenges Regime führten, wenn man es mit den Habsburgern vergleicht, die mit ihren weit gestreuten Interessen jeweils viele Bereiche der lokalen Selbstverwaltung überliessen. Daher waren ländliche Unruhen im 15. Jahrhundert und bis in die Reformationszeit hinein ein verbreitetes Phänomen: in Zürich der Grüningerhandel (1441) und der Wädenswilerhandel (1467/68), der Böse Bund im Berner Oberland (1445-1451), der Luzerner Amstaldenhandel (1478). Verbrüderungen mit städtischen Bürgern oder Unterschichten ergaben sich fast nie, doch konnten die Landleute wiederholt auf Verständnis und Rückhalt in den Landorten zählen. Nicht selten wirkten diese deshalb im Sinn der eidgenössischen Bünde als für beide Seiten vertrauenerweckende Vermittler und Schiedsrichter, die sowohl den obrigkeitlichen Herrschaftsanspruch als auch das ländliche Gewohnheitsrecht achteten.
Auf solche Vermittlung war Bern bei seiner Ausdehnung gegen Westen nicht angewiesen. Die Expansion erfolgte aber seit dem Laupenkrieg zumeist im Einvernehmen mit Savoyen. Schon davor, 1322, geriet mit dem Erwerb von Thun das Berner Oberland ins Visier. Das Bündnis mit Obwalden sicherte die Grenzen am Brünig, wodurch auch reichsfreie Gebiete (Hasli, Frutigen) in Berner Hand gelangten. Der Burgdorferkrieg von 1384 öffnete den Weg nach Norden, während Gugler- und Sempacherkrieg dazu führten, dass Österreich und Freiburg ihre Stellungen im Seeland und Oberland räumten; 1403 fiel Saanen an Bern. Mit der Eroberung des Aargaus besass er bis 1798 das grösste städtische Territorium nördlich der Alpen. Im Unterschied dazu kam Luzern, das seit 1415 überall an eidgenössische Orte grenzte, nicht mehr über das Gebiet hinaus, das es nach dem Sieg von Sempach in kurzer Zeit erlangt hatte und das bis heute den Kanton bildet.
Dem Ausbau des Zürcher Territoriums stand im Westen und Osten lange das mächtige Habsburg entgegen, im Süden das selbstbewusste Schwyz. Doch auch der innenpolitische Machtgewinn der Handwerkerzünfte prägte die Expansion: Im Unterschied zu den bis ins 14. Jahrhundert dominierenden Kaufleuten, die wichtige Handelswege möglichst weithin kontrollieren wollten, trachteten sie danach, in einem kompakten Hinterland Rohstoffe und Nahrung zu erwerben und dort ihre gewerblichen Produkte abzusetzen. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelangten erst einige stadtnahe Gebiete vor allem am See an Zürich, im frühen 15. Jahrhundert dann das heutige Zürcher Oberland und im Westen Regensberg und das Knonauer Amt. Der entscheidende Schritt erfolgte 1424: Mit der Übernahme der Grafschaft Kyburg verdoppelte sich das Zürcher Territorium. Sie hatte früher dem gleichnamigen Grafengeschlecht und dann den Habsburgern gehört, die sie aber nach der Ächtung Friedrichs IV. von Tirol den Zürchern als Reichspfand aushändigen mussten. Dass sich die Habsburger mit diesem weiteren Verlust nicht abfanden, sollte sich schon bald weisen.