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Humanisten entdecken Helvetien
ОглавлениеDie Konfliktlinie des Kriegs von 1499 war trotz der humanistischen Polemik denn auch eine innerdeutsche, eben ein Schwabenkrieg, aus dem die Eidgenossen gleichsam als Stammesherzogtum wie früher Bayern oder Sachsen hervorgingen – ohne Herzog zwar, aber mit einem «Volk», was dieser Bund bisher nicht gewesen war. Diese Ethnisierung und auch Territorialisierung der Eidgenossenschaft verdankte Entscheidendes den Humanisten. In einem europaweiten Kampf um – im vormodernen Sinn von Abstammungsgemeinschaft – «nationale» Ehre, bei dem es nicht mehr um erdichtete adlige Stammbäume, sondern um antike Wurzeln ging, entdeckten sie bei Caesar die Helvetii und leiteten daraus ein Land Helvetia ab, das es nie gegeben hatte. Der Name passte aber gut zu dem Gebiet, das 1479 der Humanist Albrecht von Bonstetten auf der ersten Karte der Eidgenossenschaft erfasst hatte, mit noch acht Orten um die Rigi als Zentrum und klaren natürlichen Grenzen. Aegidius Tschudi schuf 1538 nicht nur eine umfassende Karte des Landes, sondern benutzte erstmals überhaupt in der Geschichte der Kartografie gepunktete Linien, um Helvetia vom Umland abzugrenzen. Das war keine Gelehrtentaktik: Ein Schulser, also nicht einmal ein Bürger der 13 Orte, schrie 1524 provokativ vor dem (bis 1803) zu Habsburg gehörenden Schloss Tarasp: «Hie Sweitz Grund und Boden.» Unter Berufung auf die Helvetier als Vorfahren konnte man nicht nur die Herrschaft in einem Land rechtfertigen, das sich ab 1536 vom Bodensee zum Genfersee erstreckte, also das einst burgundische Welschland einschloss. Für Autoren wie Tschudi war selbstverständlich, dass diese antiken Helvetier frei gewesen waren, bevor sie freiwillig unter die Herrschaft der Kaiser und unfreiwillig unter die habsburgischen Vögte gelangt waren. In dieser Deutung hatte der Rütlischwur der Eidgenossen, den er mit vorschützender Genauigkeit auf Mittwoch, den 8. November 1307 datierte, bloss dieses «land Helvetia (jetz Switzerland genant) wider in sin uralten stand und frijheit gebracht». Damit erwiesen sich die Eidgenossen als Stamm von deutschsprachigen Galliern, die von jeher, wenn auch unter anderem Namen, im selben, eigenen Land gelebt hatten. Johannes Stumpf, ein Korrespondent Tschudis in Zürich, machte daraus als Erster ein «Alpenvolck» im «Alpenland».
Insofern kann man sagen, dass nicht historische Taten die Schweiz als politische Einheit begründet haben, sondern die um 1470 einsetzende Geschichtsschreibung darüber. Sie schuf aus vielfältigen lokalen Überlieferungen eine auf den Innerschweizer Kern zentrierte Erinnerungsgemeinschaft und exportierte diese. In der ersten gedruckten Schweizerchronik, die der Luzerner Petermann Etterlin 1507 vorlegte, konnte man die Befreiungssage nicht nur nachlesen, sondern auf Druckgrafiken auch etwa den Apfelschuss bestaunen. Der Tellenstoff floss bald auch in Lieder und Schauspiele ein. Tschudis Chronicon, die geniale Summe der bisherigen Historiografie, blieb zwar vorerst ungedruckt, wirkte aber durch Abschriften, Auszüge und über zwei Zürcher Druckwerke: Stumpfs erwähnte Chronik (1548) und Josias Simlers Regiment gemeiner loblicher Eydgnoschafft (1576), das dank zahlreichen Auflagen und Übersetzungen auf Lateinisch und Französisch die sagenhafte wie die reale Landesgeschichte einem internationalen Publikum eröffnete. Es entsprach dieser Leserschaft und dem Selbstverständnis der Autoren, wenn die Polemik konkret nur noch auf die Habsburger zielte, während der «gute» Adel im Land die gerechte Sache unterstützt habe. Gerade in und dank den fremden Diensten orientierten sich Potentatengeschlechter wie die Glarner Tschudi bis hin zum Ritterschlag und Erwerb von Adelsbriefen ebenso an der Nobilität wie das «Verwaltungspatriziat», das in Zürich und anderen Städten seit dem 15. Jahrhundert dominierte.
Allerdings hatten nur wenige Schweizer das Geld und die Lesefähigkeit, um sich Bücher zu leisten. Für viele Männer unter ihnen war die Eidgenossenschaft dennoch eine erfahrbare Realität geworden, als sie in den Kriegen oder in fremden Diensten gemeinsam Lager bezogen und kämpften. Trotz allen Differenzen zwischen den Orten zeigte sich dabei Zusammenhalt und Verlässlichkeit in Lebensgefahr. So war es auch kein Zufall, dass das weisse Kreuz im 15. Jahrhundert als gemeinsames Feldzeichen auftauchte, bei offiziellen Truppen wie Reisläufern, die es sich als Amulett an das Wams hefteten, in die Hellebarden stanzten und damit die Ecken der kantonalen Fahnen schmückten. Den Kriegsdiensten für Papst Julius II. verdankten die Orte eigene und gemeinsame Banner und den gemeinsamen Ehrentitel als «Beschützer der Freiheit der Kirche». In Verhandlungen und (Sold-)Verträgen verwendeten die ausländischen Partner ausserdem nicht nur Kollektivbezeichnungen wie «Svizzeri», sondern sie nahmen diese als Einheit in die Pflicht, um die stets drohenden Sondertouren zu vermeiden. Ebenfalls auf gemeinsame Militärdienste gingen die Schlachtjahrzeiten zurück, an denen man der gefallenen Angehörigen oder Vorfahren gedachte. Die Luzerner und Glarner feierten (und feiern bis heute) ihre unerwarteten Siege von 1386 und 1388 mit Dankgottesdiensten für die Gottesurteile jeweils jährlich in der Sempacher Schlachtfeier und der «Näfelser Fahrt». Bei «der eidgnossen jarzit» konnten sie – offizielle wie individuelle – Besucher aus den anderen Orten empfangen. Diese trafen auch zur Fasnacht, bei Kirchweihen (Chilbi) oder Prozessionen ein, aber auch bei rein weltlichen Veranstaltungen wie den Schützenfesten, an denen die Gastgeber und Tausende von Besuchern aus den verbündeten Orten sich dem Wettkampf und dem gemeinsamen Trinken widmeten.
Der Glaube an einen besonderen göttlichen Schutz kam auch in einer eigentümlichen und vom Adel heftig angefeindeten Form des Betens zum Ausdruck, nämlich mit «zertanen» (ausgebreiteten) Armen. Auch die Erneuerung der Bundesbriefe, die gemeinsam mit Abgesandten der anderen Orte beschworen wurden, gehörte zu den (religiösen) Riten, deren gemeinsame Feier über die zwischenörtischen Grenzen hinweg ein Zusammengehörigkeitsgefühl schuf. Im Zürcherbrief 1351 erstmals festgelegt, geschah dies anfangs in unregelmässigen Jahresabständen, nach dem Zürichkrieg regelmässiger und ab 1481 in einem Fünfjahresturnus. Die Erinnerung an gemeinsame und erfolgreiche Kämpfe unter himmlischem Schutz hielt also dieses uneinheitliche Defensivbündnis ebenso zusammen wie Herrschaftsinteressen über eigene und gemeinsame Untertanen. Um 1515 mussten aber viele Eidgenossen feststellen, dass sie ihren in alle Himmelsrichtungen wirkenden Eroberungsdrang überdehnt hatten. Bei Marignano gesiegt hatte der dynastische Herrscher eines grossen Territoriums, das zusehends zentral, mithilfe von speziell ausgebildeten Verwaltungsbeamten und einer einheitlichen Nationalkirche regiert wurde und wachsende Steuererträge abwarf, um eine Armee aufzurüsten und in einem Verdrängungskampf die Ausbildung der europäischen Staatenwelt voranzutreiben. Alle diese Elemente fehlten in der Eidgenossenschaft. Wie konnte sie Bestand haben, wenn zudem diejenigen Bande rissen, die gemeinsame Kriegszüge, Schwörakte und geteilte Glaubenspraxis für Gottes «volks usserkorn» geschaffen hatten?