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Die Eidgenossen erfinden ihre Geschichte
ОглавлениеNicht mehr selbstständig, sondern in französischen Diensten fanden weiterhin viele Schweizer Söldner den Weg in die Lombardei. Bei Bicocca unterlagen sie 1522 den kaiserlichen Truppen Karls V., Maximilians Enkel und Nachfolger als Kaiser, dank Heiratspolitik aber zugleich der erste Habsburger auf dem spanischen Thron. Bei Bicocca fiel einer der Hauptleute, ein Überlebender von Marignano, Arnold Winkelried aus Unterwalden. Ein gleichnamiger Held tauchte 1563 in Aegidius Tschudis Chronicon Helveticum auf. Hier bezeichnete der Name aber den «getreuen Mann unter den Eidgenossen», der nach einer erst um 1470 greifbaren Überlieferung durch seinen Opfertod den Sieg von Sempach ermöglicht haben soll und 1533 im «Halbsuterlied» erstmals mit dem Nachnamen «Winkelried» identifiziert worden war. Im Mittelalter ehrten die Chronisten immer wieder Zeitgenossen oder ihre Familien, indem sie deren gleichnamige Vorfahren in historischen oder mythischen Schlachten als Ritter neben Caesar oder Karl dem Grossen auftreten liessen. Wenn Tschudi (nicht nur) hier dieses Vorgehen wählte, dann zeigte er auch, dass sich die Schweizer an adligen Vorbildern orientierten, als sie sich historiografisch in die Weltgeschichte einzuordnen begannen, die noch als eine christliche Heilsgeschichte gedacht wurde.
Diese Notwendigkeit ergab sich recht eigentlich erst mit den Burgunderkriegen, als mit den Eidgenossen gleichsam ein neues Volk auf die europäische Bühne drängte. Bis dahin war die seltene Geschichtsschreibung weitgehend einzelörtisch und städtisch gewesen. Überlokale Gemeinsamkeiten betonten dagegen zuerst die Landorte, die in ihrer unstaatlichen Struktur mehr darauf angewiesen waren. Wegweisend dafür war die geschilderte Umdeutung der alten Bünde nach dem Alten Zürichkrieg. Gemäss dem Schwyzer Landschreiber Hans Fründ ging es im Krieg darum, die Zürcher «mit unser macht ze wysen, den pünden nach ze gan». Die alten, unauflösbaren Bünde, und zuerst diejenigen der Waldstätte, hätten also den Kern einer von Anfang an gegen Habsburg gerichteten Eidgenossenschaft ausgemacht. Diese Privilegierung der Innerschweizer Bünde (und Sichtweise) gegenüber den vielen anderen, die es auch gegeben hatte, ergab erst in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts Sinn: Nun hatten sie sich als so dauerhaft und erfolgreich erwiesen, dass selbst Berner Chronisten wie Diebold Schilling Fründs Sichtweise übernahmen.
Sie zählte ebenso zu den verschiedenen Überlieferungen, die in die erfolgreiche Dichtung eingingen, die der Obwaldner Landschreiber Hans Schriber um 1474 einer Sammlung von Urkunden voranstellte. Dieses Weisse Buch von Sarnen vereinte die Herrschaftsrechte der Obwaldner, die das Römische Reich ihnen, den Urnern und den Schwyzern gewährt habe. Die drei Orte verteidigten, so das Weisse Buch, ihre ursprüngliche Freiheit gegen die Habsburger Vögte und schlossen dann den Bund von Brunnen, um später die ähnlich hilfsbedürftigen weiteren fünf Orte in ihren erfolgreichen Bund aufzunehmen. Damit war die wirkungsmächtige Gründungsgeschichte um einen Innerschweizer Kern geschaffen. Die Vorgeschichte zum Brunnener Bund von 1315 bestand im Weissen Buch aber nicht in der Schlacht bei Morgarten, die auffälligerweise nicht erwähnt wird, sondern in den verschiedenen Elementen der hier erstmals greifbaren Befreiungssage: Landvogt «Gijssler», Burgenbruch, Rütlischwur und Tellenschuss. Letzterer ist eine Adaption der Toko-Sage aus den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (12. Jahrhundert) und zeigt, dass Schriber belesen war. Der Text war noch ungedruckt, wurde aber vermutlich im Umfeld der Konzilien in der Region zugänglich. Der Schwyzer «Stoupacher» hat im Weissen Buch eine «wise frowen» und folgt ihrem Rat. In einer Zeit, in der wenig über Frauen und zumal ihr politisches Handeln überliefert wurde, überrascht diese Urfigur der Stauffacherin. Schribers Schöpfung war auch sonst originell und, vor allem, äusserst wirkungsmächtig. In ihrer Entstehungszeit bekämpfte die Schilderung eines Freiheitskampfs gegen Habsburger Tyrannen die Ewige Richtung von 1474. Tatsächlich besiegelte Unterwalden das Abkommen nie, und Obwaldens Führungsgruppe um Hans Schriber blieb ein entschiedener Gegner Österreichs.
Unter Legitimationsdruck standen die (Inner-)Schweizer aber schon länger, und das hatte der Zürcher Chorherr Felix Hemmerli, ein Anhänger Habsburgs im Zürichkrieg, 1451 in seinem Dialog De nobilitate et rusticitate festgehalten. Schon im Titel ist die Gegenüberstellung von bäuerischen Rebellen und naturgegebener Adelsherrschaft greifbar. Hemmerli verspottete die «Schweizer», die Kuhschwänze so auf dem Kopf trügen wie (habsburgische) Adlige Pfauen- oder Straussenfedern an ihren Helmen. Diese Verleumdung war insofern nicht aus der Luft gegriffen, als die eidgenössischen Führungsschichten versuchten, in einer Art von Selbst-Nobilitierung, wozu auch das Tragen von Straussenfedern zählte, der Einordnung als adelmordendes «Bauernvolk» zu entgehen. Dieses Bild hatte sich bei ausländischen Autoren seit Morgarten und Sempach entwickelt und war besonders prominent im Manifest Maximilians I. nachzulesen. Wohl auf Hemmerlis Behauptung, alle deutschen Adligen kämen von Rom her, reagierte auch der Anfang des Weissen Buches und bereits das ältere, dort aufgenommene Herkommen der Schwyzer und Oberhasler. Die vornehmen, mit Rom verbundenen Ursprünge waren das pure Gegenteil des Sodomievorwurfs an Alpenhirten, der im Namen «Kuhschweizer» steckte. Er hatte nicht nur zum Ausbruch des Plappartkriegs geführt, sondern 1499, als Landsknechte Kälbergemuhe nachahmten, auch zum Krieg gegen die «Sauschwaben» beigetragen.
Zur «Antwort der Bauern» (Guy Marchal) gehörte auch das Idealbild des frommen und ritterlichen Bauern, der dank seinem Tugendadel in Notwehr über den verkommenen, pflichtvergessenen Geblütsadel obsiegte, wobei die Schlachtensiege als Gottesurteile für sein auserwähltes Volk, ein neues Israel, gedeutet wurden. Solche Vorstellungen wurden auch für die städtischen Eliten anschlussfähig, die zumal in Zürich anfangs erhebliche Mühe damit bekundeten, dass sie als Verbündete von Schwyz den Namen «Sviceri» erhielten. Um 1500 war dies anders: Auch in der Chronistik wurde «Schweizer» zu einem anderen Wort für «Eidgenossen». Zwar versuchten gleichzeitig reichstreue Humanisten wie der Elsässer Jakob Wimpfeling nachzuweisen, dass die Frankreich hörigen Schweizer gar kein Recht zur selbstständigen Kriegsführung hatten und schon gar nicht gegen den Kaiser und die deutsche Nation. Doch Maximilian, der sich selbst 1507 als «ein geborener, guter Eidgenosse» bezeichnete, folgte dieser Linie nur kurz, und das Instrument etwa der «Erbeinung» zeigte, dass die Schweizer als Kollektiv selbst mit dem Kaiserhaus Verträge auf einer Ebene eingehen konnten, wie sie zwischen Adelsgeschlechtern üblich waren. Galten die Schweizer als bündnisfähig, so waren auch ihre Kriege im Sinn der mittelalterlichen Lehre vom Bellum justum gerecht; und sie zugleich legitime Obrigkeiten.