Читать книгу Gelbfieber - Thomas Ross - Страница 13
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ОглавлениеUnd genau so kam es. Am 24. Juli 2009 fuhr Ben in Gelb nach Paris. Der erste deutsche Toursieger! Es war ein rauschendes Fest, viel schöner noch, als Ben es sich je vorgestellt hatte. Auf den Champs-Élysées jubelten Tausende, sie waren gekommen, um ihn zu sehen, den neuen Imperator des Radsports, und vor ihm, dem Sohn des kleinen Handwerkers und der Hausfrau aus Ostdeutschland, neigten sie die Häupter und beugten die Knie. Das Fahrrad war sein Streitross, der Helm sein Lorbeerkranz. Heil dem Cäsar, heil dem Herrscher der Welt, heil der süßen Wonne dieses unvergleichlichen Augenblicks. Welch Labsal war dies nach den Wochen des Leids und der Entbehrung!
Drei Etappen hatte Ben gewonnen: das Zeitfahren, eine Pyrenäenetappe und die Königsetappe nach Alpe dʼHuez. Seinen ärgsten Widersachern hatte er widerstanden, Zeitverluste stets in Grenzen gehalten. Neun Minuten Vorsprung waren es am Ende, es war eine Welt, in der er nun König war, und die Sportgazetten in aller Welt huldigten dem neuen König, dem großen gelben König.
In der Folge tingelte Ben durch unzählige Fernsehshows und Nachrichtensendungen. Seine Popularität erreichte einen Höhepunkt und im Kielwasser dieses Erfolges erlebte Deutschland einen Radsportboom von nie gekanntem Ausmaß.
Im ganzen Land sprossen Vereine und Radsportzirkel wie die Frühlingsblumen hervor, Fahrradhändler verdienten sich goldene Nasen. Ben war ein Popstar. Jeder Junge wollte sein wie Ben Abraham, jedes Mädchen ihn heiraten, selbst die Krankenhäuser hatten Hochkonjunktur: Die Zahl der Fahrradunfälle verdreifachte sich.
Das Management von Team Germatel reorganisierte sich. Eine Reihe finanzstarker Investoren, darunter zwei daxnotierte Großkonzerne, stiegen ein. Die Zugkraft der Marke Abraham war unwiderstehlich geworden. Das Team ging auf Einkaufstour, man konnte es sich leisten. Neue leistungsstarke Fahrer kamen hinzu, und alle bedienten die Bedürfnisse des neuen Königs. Welche Bedürfnisse? Das lässt sich schwer sagen, denn Ben hatte kaum Schwächen, allenfalls leichte Leistungsschwankungen in den Bergen. Also verpflichtete man zwei starke Bergfahrer, die ihren Boss die Berge hinaufziehen, und zwei weitere, die man zur Kontrolle von Ausreißern mitfahren lassen wollte. Die Stimmung im Team war gut, jeder wusste um seine Stellung und seine Aufgabe.
Auch unterhalb der Managementebene gab es Veränderungen. Die Zusammenarbeit mit drei Ärzten wurde intensiviert, und die bislang eher seltenen Kontakte zu ausländischen Ärzten und Sportfunktionären wurden ausgebaut. Der Teamchef unterhielt Beziehungen zu den Hauptakteuren der höchsten Radsportgremien; solche Kontakte hatten übrigens alle, die oben mitmischen wollten.
Ben fuhr einmal pro Woche nach Heidelberg, zur Ermittlung von Leistungsdaten, wie es offiziell hieß. Weitere Tests wurden im Sechswochenturnus in Rom und in Sevilla vorgenommen. Bens Teamkollegen verfuhren in ähnlicher Weise; nur ab und zu konnte man es sich leisten, berufliche Reisen in den sonnigen Süden mit einem Urlaub zu verknüpfen, zumal die Mannschaftsleitung längere Aufenthalte der Fahrer in unkontrolliertem Gelände missbilligte. Man sah es nicht gern, wenn die Fahrer aus dem Blickfeld gerieten. Junge Männer neigen bekanntlich zu Übertreibungen, wenn man sie an der langen Leine lässt. Also bestand man auf ständiger Erreichbarkeit; kontaktfreie Zeiten von mehr als 24 Stunden bedurften besonderer Vereinbarungen, waren also nur in Ausnahmefällen erlaubt und führten, ohne rechtzeitige Rückmeldung beim Teamchef, zu erheblichen disziplinarischen Maßnahmen, wozu auch hohe Geldstrafen zählten. Mehr als das Geld schmerzte die Fahrer übrigens die Ächtung im Team. Wollte man ein Exempel statuieren, so tat man es wirkungsvoll.
Nachdem Ben vor Jahren am Nufenenpass seine erste schlimme Niederlage erlitten hatte, erhielt er ein Rezept für ein Asthmamittel. Ben wusste zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht, wie man „Asthma“ buchstabiert, geschweige denn, dass er irgendwelche Symptome aufgewiesen hätte.
Asthma ist jedoch, wie jeder weiß, eine der häufigsten Grunderkrankungen von Leistungssportlern und kommt besonders häufig bei Ausdauerathleten vor. Unter Tourfahrern liegt der Anteil therapiebedürftiger Asthmatiker, die von Ausnahmeregelungen zur Einnahme gefäßerweiternder Medikamente profitieren, bei fünfzig Prozent.
Die geringste Belastung, und die Bronchien verengen sich, dann rasselt die Lunge. Wenn es schlimm kommt, bringt das respiratorische System gerade noch die Hälfte der normalen Leistung. Mehr als ein paar Meter in schnellem Schritt sind da nicht drin, für den Normalkranken jedenfalls. Aber Gott seiʼs gedankt, im Radsport stirbt die Hoffnung zuletzt. Zu welchen Leistungen Asthmatiker in der Lage sind, können wir Jahr für Jahr bezeugen, wenn wir am Straßenrand stehen und vor den Fernsehern kleben, wenn wir jubeln, staunen und bewundern; denn das, was sich vor unsren Augen abspielt, ist tatsächlich ein Wunder.
Ben war also Asthmatiker. Er erhielt Medikamente. Hinfällig die Frage, auf welche Weise er seine Leistungsfähigkeit wiedererlangte. Entscheidend war, dass sie wiederhergestellt wurde. Und dabei zuzusehen, wie das vor sich ging, war eine reine Freude. Bens (nicht selten aus dem Melancholischen schöpfende) Grundstimmung verbesserte sich zusehends, Entzündungsherde aller Art wurden eingedämmt, dazu kamen eine kräftigere Kontraktion des Herzens und mehr Erythrozyten und Glucose im Blut. All dies war spürbar, und weil es so schön war, vertraute Ben den Ärzten blind. Alle Fahrer taten dies. Wer nicht mitspielte, war bald nicht mehr mit von der Partie, aber die in ihrem süßen Geheimnis verschworene Gesellschaft merkte davon kaum etwas. Wenn ein Kollege es nicht draufhatte, musste er gehen, das war nur recht und billig. Nebenwirkungen nahmen die Fahrer in Kauf wie gewöhnliches Volk den Kater nach einer durchzechten Nacht. Es ging ja vorbei, der Grund des gelegentlichen Unwohlseins war wohlbekannt und man befand sich in guter Gesellschaft. Außerdem bedeutete dies nichts im Vergleich mit dem Elend der Fahrer auf schweren Bergetappen. Das waren Schmerzen! Es war die Hölle! Dass die Leiderprobten so vieles erduldeten, machte den Ärzten das Leben leichter. Sie konzentrierten sich weiter auf die Maximierung der Medikamentenwirkung und sie taten es nach bestem Wissen und Gewissen. Die Strukturen dieses seit vielen Jahren etablierten internationalen Großunternehmens, das sich einzig und allein dem Ziel der Leistungsoptimierung verschrieben hatte, funktionierten reibungslos wie eine gut geölte Maschine. Alle Rädchen surrten an ihrem vorgesehenen Platz, nur in seltenen Fällen hakte und stockte es einmal, hier und da verlor das Getriebe etwas an Geschmeidigkeit, aber dem Gesamtsystem tat das keinen Abbruch. Ben und seine Kollegen waren Teil des Systems. Sie waren die Blüten, das glänzende Resultat unzähliger Vorgänge innerhalb des riesigen Baumes, der Wasser zieht und Borke ansetzt, Knospen ausbildet, Blätter entfaltet und Photosynthese macht, um dann seinen Samen in die Welt zu werfen. Aber Blüten sind nicht für die Ewigkeit bestimmt. Sie kommen und gehen, haben ihr Verfallsdatum, nur der Baum als Ganzes bleibt. Er ist immer da.