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ОглавлениеEin großes, hoffnungsvolles Talent! Ben Abraham ist Juniorenweltmeister im Zeitfahren. Der Sächsische Anzeiger wusste es bereits vor langer Zeit: „Von dem dürfen wir viel erwarten. Die großen Rundfahrten rufen, der Vergleich mit den Besten steht an.“
War es diese unscheinbar schlichte, fast schüchterne Notiz, die einen neuen Stern aus der Wiege hob? Man wollte, man musste es einfach glauben. Der Stern schoss zum Himmel und leuchtete von nun an am Firmament der deutschen Sportlandschaft. Hell und klar vergoss er sein Licht über die Welt, und doch wusste niemand, woher der Stern seine Leuchtkraft nahm. Mehr als für die Tatsachen des Aufstiegs, die, für sich genommen, einem glücklichen Gemisch aus Talent und harter Arbeit entsprangen, interessierte man sich für die Begleitumstände. Einige sagten, es müsse am Geburtsjahr liegen (Abraham wurde im Zeichen des Feuer-Hasen geboren). Als nicht minder einflussreich wertete man den Zwillingsmonat Juni, der Tatkraft wegen, die Zwillingsmännern zu eigen ist, ebenso wie nachgerade den Tag sechzehn des besagten Monats, an dem die universale Konstellation sich so günstig fügte, dass dieser Stern geradezu mit Notwendigkeit hatte entstehen müssen.
Zweifel? Aber nicht doch! Auch wennʼs unwahrscheinlich scheint, so könnte es doch wahr sein. Lassen Sie uns in aller Kürze festhalten, dass unser Himmelsbote im Juni 1987 in die Familie eines Elektrofachmeisters im Rostocker Industrieviertel hineingeboren wurde, der in zweiter Ehe mit einer Angestellten des städtischen Wasserwerks verheiratet war, lassen Sie uns dabei nicht verschweigen, dass er mit einer jüngeren Schwester und einem älteren Halbbruder in der kleinen Plattenbauwohnung am nördlichen Stadtrand ein einziges winziges Zimmerchen teilte; dass ihm infolge der bescheidenen räumlichen Verhältnisse wenig mehr als fünf Quadratmeter Territorium blieb, worüber er hoheitlich verfügen konnte. Anders ausgedrückt: Die materiellen Verhältnisse des jungen Hoffnungsträgers waren bescheiden. Man lebte wie viele andere Familien in Deutschland, man lebte durchschnittlich. Durchschnittlich, was Vergangenheit, durchschnittlich, was Gegenwart, und durchschnittlich, was Zukunftsperspektiven betraf. 550 Mal Zähneputzen, 2.500 Stunden Schlaf, 220 Arbeitstage, zehn Haarschnitte und 110 Mal durchschnittlichen Sex im Jahr – das Einzige, was nicht in einem Atemzug mit dieser farblosen Durchschnittlichkeit genannt werden kann, ist die Neigung der Mutter zu einer das übliche Maß deutlich übersteigenden körperlichen Aktivität.
Bens Mutter liebte das Schwimmen. Sie schwamm nicht schnell, aber technisch gut. Meistens tat sie es am Ostseestrand bei Warnemünde, wo man früher eigentlich immer hinging. In wirtschaftlich ergiebigeren Zeiten wurde die Ost- gegen die Nordsee getauscht, und schließlich setzte sie einen teuren Urlaub an der Adria durch. Und einmal fuhr die Familie sogar nach Spanien, wo die Mutter, die warmen Fluten wie ein Marlin durchkreuzend, prompt eine persönliche Bestleistung in fünfhundert Metern Meeresschwimmen aufstellte.
Von der Mutter zurück zum Sohn. Die Entwicklung zum Weltstar begann an der Ostsee, an einem trüben, wolkenverhangenen Augusttag. Es wehte eine steife ablandige Brise und das Meer schlug hohe Wellen, sodass an lustige Badestunden gar nicht zu denken war. Drinnen regierte der Missmut und man blies Trübsal, bis Mutter den Vorschlag machte, man könne doch Fahrräder mieten, Wind hin oder her. Die Kinder waren Feuer und Flamme, der damals achtjährige Ben glühte vor Aufregung, denn was gibt es Größeres für einen gesunden und lebensfrohen Jungen, als sich den Unbilden der Natur entgegenzuwerfen? Der mürrische Vater hatte bald ein Einsehen, was blieb ihm außer Essen und Biertrinken – was der frühen Morgenstunde wegen nicht infrage kam – auch anderes übrig?
Um die Ecke gab es einen Fahrradverleih. Die Räder waren nicht schlecht, der Verleiher uneigennützig. Der Mann gab die Räder für die Hälfte her, wohl ahnend, dass er mit dieser Familie die einzige Kundschaft des Tages bediente.
Seiʼs drum, die Fahrt begann und es dauerte nicht lange, da hingen sie wie aufgeblähte Segel im Wind, Vater und Mutter voraus, die Kinder hintendrein. Letzteren wurde es im Schlepptau der Eltern bald langweilig und was lag da näher, als ein Wettrennen zu veranstalten. Ein Sprint sollte es sein, bis zum Leuchtturm, der sich in der Ferne schemenhaft im Hochnebel zeigt. Die arme Schwester fiel bald zurück, doch Ben hielt lange mit, erst auf den letzten Metern musste er den älteren Bruder vorlassen. Tatsächlich ist fraglich, ob er es wirklich „musste“; Fakt ist, dass der große Bruder den Leuchtturm als Erster erreichte. Gleich am nächsten Tag fand wieder ein Wettbewerb statt: Der Sieger im Wettstreit um die Krone des schnellsten Inselumrunders musste ermittelt werden. Fünfzehn Kilometer waren das, davon die eine Hälfte gegen, die andere mit Seitenwind, was stets aufs Gleiche kommt. Man hat Mühe, die Spur zu halten, so oder so.
Zur Erklärung seines bescheidenen Resultats mag man dem Vater Lustlosigkeit unterstellen, mit etwas Wohlwollen war es kalkulierte Nachsicht den Jungen gegenüber; festzuhalten bleibt, dass der Vater bei Kilometer acht beinahe vom Rad fiel, sich fünfhundert Metern weiter völlig entkräftet auf einer feucht bemoosten Bank niederließ und wie ein Ackergaul die Nüstern blähend beleidigt aufs Meer starrte. Thilo und Ben klebten indes bis rund vier Kilometer vor dem Ziel Rad an Rad. Dann ließ der frustrierte Ältere, dem man im Moment der Niederlage leider keine große Geste zugutehalten kann, den stolzen Kleinen ziehen; aber das Erstaunliche ist, dass Ben es nicht einmal merkte, wie die Mitstreiter hinter ihm zurückblieben. Seine Beine traten wie von selbst im Rhythmus eines gut gewarteten Uhrwerks, der Atem ging ruhig und tief im Takt des surrenden Zahnrads. Mit leuchtenden Augen flog er dem Turm entgegen, der sich schnell aus dem trüben Dunst herausschälte.
Die Unterlegenen genossen bereits ihr Abendbrot, als Ben, dem man angesichts der eindrücklichen Ereignisse für die restliche Tagesplanung freie Hand gelassen hatte, mit noch immer leuchtenden Augen ins Zimmer trat.
Nicht selten kommt Bens Mutter noch heute auf diesen Moment zu sprechen. Nie wird sie das Feuer in den Augen ihres Jungen vergessen, die sonnenhelle Aura dieses Achtjährigen, der seine Bestimmung gefunden hatte. Ein neuer Stern war geboren.