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Eine Woche vor Beginn der Tour brachte Ben eine dreiviertel Stunde lang 6,7 Watt pro Kilogramm Körpergewicht auf die Pedale. (Zur Klärung: Bezogen auf eine halbe Stunde leisten Hobbysportler durchschnittlich 2,5 bis 3,5 Watt pro kg Körpergewicht, gute Amateurfahrer schaffen um fünf, Profis sechs Watt. Werte um 6,5 Watt und darüber hinaus sind auch für Profis außerordentlich hoch. Auf Bens Körpergewicht von siebzig Kilogramm gerechnet ergaben sich 470 Watt.) Angesichts der guten Leistungsdaten ging das Problem der anhaltenden Informationsflaute aus dem gegnerischen Lager, die trotz intensivster Spionagetätigkeit nicht enden wollte, in der allgemeinen Euphorie unter, vor der die Vorsichtigen im Team zwar mahnend den Finger hoben, ihr im Grunde aber ebenso erlagen wie alle anderen. Es war an der Zeit, den König wieder auf Thron zu setzen. Das sah man im Volk so und im Team war es nicht anders.

Die gute Stimmung sollte noch eine ganze Weile anhalten, denn das Rennen begann ausgesprochen gut. Drei Etappensiege noch vor den großen Bergen, das konnte sich sehen lassen. Ben hatte beim Anziehen der Sprints mitgeholfen, und es stand außer Zweifel, dass seine Selbstlosigkeit einer ausgezeichneten Form zuzurechnen war. Weder Mulligan noch Pellegrini oder Carlos waren bis dahin sonderlich in Erscheinung getreten. Auch sie hatten ihre Sprinter fahren lassen, es siegten andere, die Unauffälligkeit der Stars nahm man für ein gutes Omen.

Irgendwann begann die Tour langweilig zu werden. Niemand wollte sich eine Blöße geben. Schließlich gewannen Leute, die dem Papier nach nicht hätten gewinnen dürfen, und alle fieberten dem Augenblick entgegen, wenn es endlich losgehen würde und die Favoriten zeigten, was sie wirklich draufhatten.

Mont Ventoux, 17 Kilometer, 1600 Höhenmeter. Einer der berühmtesten Anstiege der Welt. Was waren an diesem Berg nicht für Schlachten geschlagen worden! Hier wurden Könige gemacht. Diesmal fand das Rennen an einem achtzehnten Juli statt, und gekrönt wurde der Mann, der als Drittplatzierter an den Start gegangen war: Johnny Mulligan. Die Art und Weise, wie Johnny diesen Anstieg behandelte, sollte Radsportfans noch auf Jahre feuchte Träume bereiten. Mit pfeilschnellem Tritt wuchtete er sein Sportgerät den Berg hinauf, hinein in die Spitzkehren, aus denen er sich herauskatapultierte und an den steilsten Stellen weiter beschleunigte, wo alle anderen Federn lassen mussten. Er erreichte das Ziel mit 75 Sekunden Vorsprung vor Ben, der nach einer sehr guten Leistung erneut Zweiter wurde. Zweiter, Zweiter, immer nur Zweiter! Es war erschütternd, denn Ben hatte sich völlig verausgabt, ja geradezu entäußert. Der Mannschaft blieb nichts anderes übrig, als die Überlegenheit des Gegners anzuerkennen. Die Götterdämmerung hatte endgültig eingesetzt, das Requiem für den Altmeister war angestimmt. Dabei war Ben kein Vorwurf zu machen. Sein Tritt war rund und flüssig und kraftvoll, wie immer war er im Sattel geblieben, und wäre da nicht Mulligan gewesen, man hätte der Kraft dieses Jungen einen Schrein gewidmet. Im Ziel blieb Ben nichts übrig, als mit unbeholfenen Worten seine Niederlage zu kommentieren, eine Niederlage, die unerklärlich war. Unerklärlich wie die Bitterkeit, die er mit vielen Zuschauern teilte. Woher aber kam die Bitterkeit, was war ihre Quelle? Trauer, Niedergeschlagenheit, Scham? Das alles trifft es nur zum Teil. Im Teamwagen und abends im Hotel war Schweigen, und das allzu offenkundige Fehlen von Auflehnung, die uns am Leben erhält, damit aus Hoffnung Zuversicht entsteht, ergriff als Offenbarungseid einer tiefen Hilflosigkeit das gesamte Team. Waitz und Liebermann waren wie gelähmt. Fassungslos starrten sie auf die Leistungsanalyse Mulligans, die kurz nach dem Abendessen hereingekommen war. Im letzten Drittel des Anstiegs hatte er durchschnittlich 485 Watt getreten, eine geradezu übermenschliche Leistung. Den Fahrern verging die Lust am Weiteressen, die Ärzte spielten mit nervösen Fingern an ihren Stiften, dann steckten sie die Köpfe zusammen, palaverten im Kriegsrat. Man räusperte und kratzte sich, brummte und raunte und ergab sich schließlich, in offener Bewunderung und Ergebenheit für den neuen Meister.

Ben zog sich unterdessen auf sein Zimmer zurück. Die Massage erfolgte in aller Stille, nach Reden war keinem zumute. Nachdem der Masseur gegangen war, knipste Ben das Licht aus und sank binnen Sekunden in die Tiefen eines traumlos weltverlorenen Märchenschlafs, der, wäre es nur möglich gewesen, hundert Jahre hätte anhalten dürfen.

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