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Der Fundort befand sich nicht weit von einem Winkel, den ich ganz besonders liebte. Am Rande einer kleinen Lichtung führte ein Wanderweg vorbei, und etwas dahinter lag im Wald ein mannshoher Felsbrocken, den Wind und Wetter zu einem natürlichem Sessel ausgehöhlt hatten. Die Füße konnte man auf eine Abbruchkante stellen; sie war durch Absplitterung eines Felsstücks infolge winterlicher Eisbildung in den Ritzen entstanden. So hatte die Natur eine Sitzgelegenheit mit einer etwa sechzig Zentimeter hohen Rückenlehne geschaffen, die angenehmer nicht hätte sein können, besonders wenn man die Sitzfläche mit einer Decke auslegte. In der warmen Jahreszeit ging ich jede Woche dorthin, anfangs nur der schönen Umgebung wegen, dann um die Kräfte der Natur zu studieren, die sich bei der Betrachtung des Steines offenbarten. Schon bald kam ich auch an kühleren Tagen, aber nur der Himmel weiß, mit welchen Erwartungen ich es wenige Tage nach Carolinas Verschwinden tat. Vielleicht war es die Hoffnung, in diesem Sammelbecken heiterer Gedanken und wunderbarer Empfindungen jetzt, da nichts mehr davon übrig zu sein schien, ein klein wenig von der verlorenen Freude am Leben zurückzugewinnen.

Sogleich erinnerte ich mich der Stunden, die ich mit Carolina hier verbracht hatte, wie wir Pilze suchten und sie mich auf dem steinernen Thron zum König des Waldes ausgerufen hatte. Einen Kranz aus Reisig hatte sie geflochten und mit Eichenblättern besteckt; zum Zwecke des Regierens zudem ein ordentliches Zepter – es war ein schöner Weidenstock – aus einem Strauch herausgebrochen. Dann hatte sie mich von Kopf bis Fuß mit Erde eingerieben, sodass ich vor Dreck nur so starrte, und wir lachten und tollten wie junge Füchse durch den Wald.

Wenn im Herbst die Berge im Feuer der sinkenden Sonne erglühten, hatten wir da nicht Schönheit in Vollendung geschaut? In Ehrfurcht und Wonne die Erhabenheit der Schöpfung gespürt, dann, wenn die Mücken wie durch Zauber sich in Schwärmen zusammenfanden – so, als ob lebendige Kohlen die Luft durchstießen, nur um nach Sekunden sich im Nichts zu verlieren?

Immer wenn der Tag zur Neige ging, begann der große Zauber, eine Zeit für märchenhafte, schaurig-schöne Erfahrungen: Knorrige Buchen entließen Trolle in die nahende Nacht, Dryaden entstiegen den Stämmen windgebeugter Eichen und der Ginsterbusch am Rande der Lichtung war in Wahrheit das Tagkleid einer schlafenden Elfe.

Ach, wie hatten diese Stunden uns mit süßem Schaudern erfüllt! Alles war so lebendig, so greifbar und konkret, kein Augenblick glich dem anderen. Mit kindlicher Verzückung hatten wir die Wunder der Natur geschaut und waren glücklich.

Doch nun tat alles nur weh. Die Erinnerungen an Liebe und Zugehörigkeit waren wie Messer, die in mein Fleisch schnitten. Ich stand am Felsen und weinte, und in meinen Tränen ertranken die Wunder der Natur. Die sagenhaften Gewächse des Waldes, das sanfte Braun der weichen Erde, die Lichtung mit der Blumenwiese und die tausend Farben des Frühlingslichts – all dies war nur ein Schatten, eine blasse Erinnerung an die jäh vergangene Zeit.

Der Wald war fahl und grau, der stolze Hirsch in der Ferne todgeweiht, der Spatz auf dem Ast Katzenfutter von morgen. Am Boden wucherte modriges Fichtenholz, feuchter Morast und kalte Erde waren die Vorboten des nahenden Todes. Der halb verweste Kadaver eines Perlhuhns lag im halbhohen Gras und stank abscheulich. Ich blickte hilfesuchend zum Himmel, der schwer war und trüb wie meine Seele. Eine Zeitlang stand ich reglos da. Da blähte und wölbte sich plötzlich die Erde unter mir, und unter dumpfem Grollen gebar sie eine Gestalt, so scheußlich und furchterregend, dass ich am ganzen Leib erschauderte; ich fürchtete, es wäre Grendel, der gekommen war, mich in sein dunkles Reich zu holen. Und ich spürte, wie all meine Liebe, meine Hoffnung und mein Glaube an das Gute in seinem schwarzen Schlund erstickten.

Der Schlitten

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