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Die Einsicht der Nacht hielt der Prüfung bei Tageslicht stand. Ich korrigiere: Von standhalten kann gar keine Rede sein, denn ihre Wirkung wuchs von Stunde zu Stunde. Im Bestreben, meiner Überzeugung höchstmöglichen Nachdruck zu verleihen, fasste ich den Entschluss, den Richter persönlich aufzusuchen. Bei Gericht fand ich ihn zunächst nicht vor, was weiter nicht verwunderlich war; ich hatte versäumt, einen Termin zu vereinbaren. Ich bat die Sekretärin um telefonische Benachrichtigung, die zwei Tage später tatsächlich erfolgte. Ich eröffnete dem Richter in wenigen Worten, dass ich am Schuldspruch des Mörders meiner Tochter und an der Bestimmung des Strafmaßes lenkend teilzuhaben beabsichtigte. Der Richter schwieg einen Moment, räusperte sich, wie manche Menschen dies unter angestrengtem Nachdenken zu tun pflegen, und entgegnete freundlich, aber bestimmt, dass er um meine emotionale Notlage wisse, mein Anliegen unter menschlichen Aspekten durchaus nachvollziehen könne, dass Privatpersonen das Recht, zu richten, jedoch nicht zustünde, sondern nur dem Staat allein. Er machte sich sogar die Mühe, mir die Grundzüge moderner Rechtsnormen zu erläutern, verwies dabei auf die römische Rechtsordnung um 450 v. Christus und das Zwölftafelgesetz, und erwähnte mehrfach die Constitutio Criminalis Carolina von 1532, das erste deutsche Strafgesetzbuch. Unbeeindruckt von dem rund zwanzigminütigen Vortrag über europäische Rechtsgeschichte, den ich seiner rührenden Absurdität wegen willig über mich ergehen ließ, wiederholte ich mein Anliegen. Hierauf entgegnete der Richter, es sei weder formal noch moralisch rechtens, mich in irgendeiner den Ausgang beeinflussenden Weise am Prozess teilhaben zu lassen. Er könne einen Täter-Opfer-Ausgleich anregen, halte dies aber angesichts meines außergewöhnlichen Verhaltens – in Anspielung auf meine unbelehrbare Starrsinnigkeit – für verfrüht. Ich beendete das Gespräch mit einem freundlichen Dank für die Zeit und Mühe, die er mir hatte zuteilwerden lassen. Schließlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich mich andernfalls in eine Position gebracht hätte, die man als befremdlich einordnen musste. Dies lag nicht in meinem Interesse.

Aber viel stärker noch als die Sorge um das Ansehen meiner Person bewegte mich etwas anderes: Es war ein glühender Pfeil, der aus den Tiefen meiner Seele in mein Bewusstsein drang: Niemand, absolut niemand würde mich daran hindern, das begangene Unrecht zu sühnen, koste es, was es wolle.

Der Schlitten

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