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Das Leben mit Natalie war voll Leidenschaft gewesen. Bereits bei der ersten Begegnung in der Kneipe des Studentenwohnheims, in dem wir beide winzige, fast wie Gefängniszellen auf das Notwendigste eingerichtete Zimmer bewohnten, hatte sich eine magnetische Kraft zwischen uns gebildet. Wenn ich behaupte, dass ich mir mit diesem Mädchen schon am ersten Abend eine gemeinsame Zukunft vorstellen konnte, ist das nicht übertrieben. Nach der zweiten Begegnung in der Universitätskantine entschlossen wir uns zu einer Bahnfahrt in den nahe gelegenen Schwarzwald. Natalie war dort aufgewachsen, sie kannte sich gut aus. Der Wald war ihr nie so licht und weich vorgekommen wie an jenem Tag, sagte sie mir später einmal, und der Duft der Bäume nie so zart und mild wie auf dem Saumpfad an meiner Seite. Für mich war der Tag wie Weihnachten und Silvester in einem; Momente der inneren Einkehr im Wechsel mit der ungestümen Leidenschaft einer frischen Verliebtheit mündeten in Tränen der Glückseligkeit. In meiner Verzückung glaubte ich zu schweben und zu tanzen wie das Laub auf dem Wasser des Bächleins, an dessen Ufer wir entlangschlenderten.

Wir gelangten zu einem Bauernhof. Es war einer der vielen für den Schwarzwald typischen Höfe aus dem neunzehnten Jahrhundert, die in den Fluren am Waldrand liegen. Der Wohnraum befindet sich im vorderen Teil, hinter der allseits berühmten, von Lauben eingefassten Holzfassade; hinten schließen Viehställe und strohbedeckte Scheunen an, die sich zum Hang hin öffnen.

Das Tor stand einen Spalt weit offen und heraus drang der würzige Duft von frisch geschnittenem Stroh. Eine leise Erregung erfasste mich, und ich sah, wie Natalies Augen meine Erregung spiegelten. Der Reiz des Verbotenen verschmolz mit der körperlichen Lust, die nun stark und mächtig über uns hereinbrach und, mit der köstlichen Angst vor Entdeckung sich vermengend, in unwiderstehlicher Leidenschaft entbrannte.

Das Erlebnis im weichen Stroh der Scheune hat sich, in ähnlicher Form, noch einige Male wiederholt. Erst ganz allmählich geriet auch diese Beziehung unter das Mühlrad der Zeit. Aber noch heute trage ich die Gewissheit im Herzen, dass es uns gelungen ist, den Moment der ersten Verliebtheit zur reifen Liebe zu entfalten, einer Liebe, die nie stärker war als an jenem Tag, da unsere Tochter zur Welt kam. Diese Liebe war wie ein seltenes Juwel, das wir im Herzen trugen, als wir eine Familie waren.

Doch nun, wo Carolina fehlte, war alles anders. Der Tod unserer Tochter trieb einen Keil zwischen uns. Das Gift der Entfremdung wirkte langsam, sodass wir nach Natalies Rückkehr und einer ernst gemeinten Versöhnung zunächst noch fest an die Heilsamkeit geteilten Leides glaubten.

Natalie bemühte sich jedenfalls um Verständigung, und ich bilde mir ein, dass ich es auch tat, doch in Wahrheit saßen wir schon längst nicht mehr im selben Boot. Wir waren Schiffbrüchige, die beide der Rettung bedurften. In unserer Hilflosigkeit schlugen wir Wege ein, die wie zwei Parallelen nicht mehr zueinander fanden.

Natalie begann, aus Carolinas Kinderzimmer eine Art Tempel zu machen. Fotos lagen auf dem Schreibtisch, die dort nicht hingehörten. Auf dem Stuhl thronte Carolinas Lieblingspuppe mit der Bürste in der einen und dem Spiegel in der anderen Hand. Der Einkaufsladen, den Carolina bereits ein Jahr zuvor eigenhändig in den Keller verfrachtet hatte, fand sich plötzlich vor dem Bücherregal wieder. Die Märchenbücher der Gebrüder Grimm und von Hans Christian Andersen verschwanden aus der Wohnzimmerbibliothek. Jetzt lagen sie in Carolinas Nachtkästchen.

Das alles war sehr sonderbar. Ich sprach Natalie darauf an, aber sie ertrug es nicht. Da riet ich ihr, professionelle Hilfe aufzusuchen, worauf sie lapidar entgegnete, dass wir das beide nötig hätten. Während ich mir immer sicherer war, dass es niemanden gab, der mich auf meinem Weg begleiten könnte, ging Natalie tatsächlich zum Psychologen. Einmal verbrachte sie im Anschluss an eine Sitzung den ganzen Nachmittag damit, mir Satz für Satz auseinanderzusetzen, was der Therapeut gesagt hatte. Hatte ich anfangs noch verständnisvoll auf ihre zunächst vernünftig klingenden, dann aber zunehmend mythologisch verbrämten und pathetisch vorgetragenen Äußerungen reagiert, wich die ursprüngliche Zugewandtheit bald einem dumpfen Ärger, den ich im Zuge der gebotenen Höflichkeit nur mit viel Mühe zu beherrschen wusste.

Bald darauf wurde ich all dessen überdrüssig. Ich machte mich gewissermaßen aus dem Staub. In dem Maße, in dem Natalie meine Nähe suchte, verweigerte ich sie ihr, denn der Gedanke, dass sie nicht meine Nähe suchte, und es nicht mein Mitleid war, das sie zu erregen hoffte, ich also lediglich als Projektionsfigur für ihren grenzenlosen Schmerz herhalten sollte, war mir unerträglich. Überwältigt von der Wucht meiner eigenen Bitterkeit gab es in mir keinen Platz für den Schmerz eines anderen. Natalie erkannte schnell, was dies zu bedeuten hatte. Ich hatte das Band unserer Liebe durchschnitten und einer verhängnisvollen Kraft, die sich in meinem Herzen zu entfalten begann, die Erlaubnis erteilt, in unsere Geschicke einzugreifen.

Der Schlitten

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