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Der Entschluss zur Tötung des Mörders war ein Befreiungsschlag – mein Befreiungsschlag. Die folgenden Tage lebten sich leichter, freilich nicht so arglos wie früher, aber auf eine gewisse Weise heller, zarter, luftiger. Ich kehrte an meinen Arbeitsplatz zurück, tat aber nur das Allernötigste. Das Telefon ließ ich klingeln, Kundenanfragen beantwortete ich per E-Mail, die Forschungsergebnisse anderer Arbeitsgruppen nahm ich kaum zur Kenntnis, Produktentwürfe lagen auf Eis und die Korrespondenz mit meinen Arbeitskollegen erledigte ich unregelmäßig. Ich rechnete damit, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis mein „Kredit“ aufgebraucht sein würde; und noch länger würde es dauern, bis man die Konsequenzen zog. Schließlich wussten alle Bescheid, und selbst Kunden, die nach etlichen erfolglosen Kontaktversuchen bei den Kollegen landeten, hielten sich mit Klagen zurück, wenn sie erfuhren, dass ich der Vater des ermordeten Kindes war, das ganz Deutschland aus den Medien kannte.

Ich hätte also ganz beruhigt sein können, war es aber nicht. Nicht der Arbeit wegen. Die interessierte mich längst nicht mehr und man hätte mich auf der Stelle hinauswerfen können, es hätte keinen Unterschied gemacht. Das Problem war – Zeit. Ich brauchte Zeit, um einen Aktionsplan auszuarbeiten, wusste aber nicht, wie viel. Darüber hinaus hatte ich keine rechte Vorstellung von der Größe des Zeitfensters, das mir nach einer gelungenen Entführung zur Verfügung stehen würde, dann, wenn die Polizei fieberhaft nach dem Entflohenen fahndete. Der Mörder war in Untersuchungshaft, die Beweisaufnahme vor Gericht abgeschlossen, psychiatrische Gutachten in Auftrag gegeben. Es gab Richtwerte über die Dauer eines solchen Verfahrens, aber darüber wusste ich nichts Genaues.

Ich entfaltete ein Szenario mit zwei Hauptachsen; erstens, ein schnelles Verfahren. Dies würde innerhalb weniger Wochen, vielleicht nach Tagen schon, zum Abschluss kommen. Man würde den Mörder zu einer Gefängnisstrafe verurteilen, die wahrscheinlich, aber nicht mit Sicherheit, in Ravensburg, gegebenenfalls auch in Freiburg abzuleisten wäre, wo die meisten Gewalttäter mit langen Haftstrafen einsitzen. Stellte das Gericht jedoch Schuldunfähigkeit fest, was absurd, aber dennoch möglich war, kam die in unmittelbarer Nachbarschaft zu Konstanz liegende psychiatrische Klinik als Unterbringungsoption infrage. Möglich, wenn auch weniger wahrscheinlich war die Unterbringung in einer anderen, vom Wohnort des Täters weiter entfernten Einrichtung. Bereits bei dieser einen Variante ergab sich also eine Gleichung mit mehreren Unbekannten.

Hauptachse zwei: Ein langsames Verfahren könnte Monate in Anspruch nehmen. In Anbetracht der Schwere des Verbrechens musste das Tatgeschehen detailliert aufgearbeitet werden, eingehender noch als in weniger öffentlichkeitswirksamen Fällen. Da die Frage der Schuldfähigkeit ohnehin schon aufgeworfen war, müsste man mit der Erstellung weiterer psychiatrischer Gutachten rechnen, ein zeitintensiver Vorgang, der sich im Falle widersprüchlicher Ergebnisse unter Einbeziehung von Dritt- oder Viertgutachten über Monate hinziehen konnte.

Wieder mündete eine einzige Variante in eine Gleichung mit mehreren Unbekannten.

Hinzu kam, dass die Frage, wie ich des Mörders habhaft werden konnte, noch immer nicht beantwortet war. Und wenn ich dies endlich wüsste, welche Vorkehrungen wären in Abhängigkeit von den Hauptvarianten zu treffen? Und was käme danach?

Ich zwang mich, die Bearbeitung der letzten Frage erst einmal beiseite zu lassen. Ein Schritt nach dem anderen. Es sollte nicht laufen, wer noch nicht gehen kann. Variante eins oder zwei, welche war die wahrscheinlichere, auf welche sollte ich setzen? Um nicht plötzlich in Zugzwang zu geraten, musste ich mich festlegen, und zwar sofort!

Ich überlegte und traf die Entscheidung: Variante eins. Die Erwartungshaltung der Bevölkerung sprach für ein schnelles Verfahren, ebenso der Druck der Medien, die den Mörder hinter Schloss und Riegel wissen wollten, bevor in Vergessenheit geriet, wessen er überhaupt beschuldigt wurde. Das waren starke Motive. Der Druck der Öffentlichkeit würde bei Gericht Wirkung zeigen. Folglich war Eile geboten.

Der Schlitten

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