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ADSTRINGENZ
ОглавлениеEine Besonderheit unter den trigeminalen Wahrnehmungen ist die Adstringenz. Ein Lebensmittel wirkt adstringierend, wenn es Mund und Zunge „zusammenzieht“, wie man es am ehesten wohl von Rotwein, Tee oder auch Rhabarber kennt. Manchmal wird das adstringierende Gefühl irrtümlicherweise als „bitter“ beschrieben, da sich beide Effekte oft überlagern und viele Gemüse sowohl bitter als auch adstringierend wirken. Betrachtet man die molekularen Vorgänge genauer, wird auch deutlich, warum.
CHEMOSENSORISCHE ADSTRINGENZ Für den Bittergeschmack in Lebensmitteln sind unter anderem nichtflüchtige phenolische Verbindungen verantwortlich. Diese Moleküle bestehen aus einem oder mehreren hydrophoben Phenolringen (Benzolringen), sind aber durch eine hohe Anzahl von OH-Gruppen (und ein größeres Molekulargewicht) wasserlöslich. Sie verbleiben auf der Zunge und lösen auf den Bitterrezeptoren entsprechende Geschmacksreize aus.
Die Empfindung der Adstringenz wird ebenfalls durch Phenole ausgelöst, die jedoch nicht an den Bittergeschmacksrezeptoren andocken, sondern den Trigeminusnerv reizen. Der Unterschied liegt in der Anzahl der benachbarten OH-Gruppen an den Phenolringen: Während für den Bittergeschmack jeweils lediglich zwei (oder vier) OH-Gruppen maßgeblich sind, müssen für die adstringierende Trigeminusstimulation genau drei OH-Gruppen an mindestens einem Benzolring vorhanden sein.
PHYSIKALISCHE ADSTRINGENZ Neben dieser „chemisch-physiologisch“ wahrnehmbaren Adstringenz gibt es noch einen zweiten, physikalischen Aspekt, der das zusammenziehende Gefühl im Mundraum auslöst: Phenole und Tannine treten in unmittelbare Wechselwirkung mit den Proteinen im Speichel. Speichel enthält Proteine, die quasi als „Verdickungsmittel“ den Speichel lange auf der Zunge und damit die Reibung zwischen Zunge und Gaumen angenehm gering halten. Ist durch verminderten Speichelfluss der Mund „trocken“, äußert sich dies in einer höheren Reibung zwischen Zunge und Gaumen. Speichel wirkt somit als viskoses „Schmiermittel“ im Mund. Daran sind im Wesentlichen zwei Proteintypen beteiligt, sogenannte Mucine und prolinreiche Proteine. Mucine sind hochmolekulare Glycoproteine, die aus einer langen Aminosäurenhauptkette und Seitenketten aus Zuckern (Kohlenhydraten) bestehen. Indem sich Wassermoleküle an die Zuckerketten binden, erhöht sich die Viskosität des Wassers. Mucine im Speichel sind somit der Garant für eine ausgewogene Reibung im Mund, solange sie gleichmäßig im Speichel verteilt sind. Kommen nun OH-Gruppen von nichtflüchtigen Phenolen und Tanninen ins Spiel, bilden diese Wasserstoffbrückenbindungen zu den Mucinketten. Es werden rasch Cluster gebildet, die in größeren, 10–30 Mikrometer großen Molekülaggregaten enden. Diese schweren Mikronetzwerke sind deutlich langsamer in der Diffusion, da die Diffusionskonstante mit zunehmendem (hydrodynamischem) Radius abnimmt. Durch die Aggregatbildung der Speichelproteine und die damit verbundene starke Änderung der Wasserbindung verliert der Speichel seine „Schmierfunktion“, die Reibung im Mund ist deutlich erhöht, die Zunge wird „physikalisch rau“. Diesen Effekt kann man beim Genuss von Wein, Tee und Schokolade erfahren, aber auch von Cardy und manchen (Winter-)Portulak.
Bittergeschmack – chemische und physikalische Adstringenz von Phenolen. Die Moleküle im inneren Kreis sind chemisch adstringent. Gleichzeitig sind sie in der Lage, Speichelproteine zu binden und auszuflocken, ebenso die in Grün eingekreisten Phenole. Glycoside oder phenolische Säuren flocken Speichelproteine nicht aus. Die Phenole im äußeren Kreis sind noch bitter, aber nicht chemosensorisch adstringierend. Das Verhältnis der „inneren“ und „äußeren“ Phenolen bestimmt das Bitter-Adstringenz-Verhältnis im Gemüse (chem. Adstringenz nach Schöbel et al.).
Adstringenz ist also Zusammenspiel und die Folge von zwei Effekten: stark chemosensorisch über das Stimulieren trigeminaler Sensoren, sprich: Phenole mit Dreier-OH-Gruppen, sowie die physikalische Veränderung der Reibung, die Ausfällung der Speichelproteine im Mund, ausgelöst durch „zuckerfreie“ und „säurefreie“ Phenole, die über das Stimulieren über Mechanorezeptoren der Fadenpapillen auf der Zunge wahrgenommen werden. Diese physikalische Adstringenz können nicht nur die Phenole mit 3 OH-Gruppen, sondern auch einige mit 2 OH-Gruppen verursachen. In diesem Punkt lässt sich dann Adstringenz und Bitterkeit tatsächlich nicht trennen, weil sie womöglich durch dasselbe Molekül ausgelöst werden, wobei der trigeminale Effekt direkter und stärker ist.