Читать книгу Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik - Thorsten Burkard - Страница 10
C. Synchrone Darstellung unter Verzicht auf Diachronie
ОглавлениеDiese synchrone Einheitlichkeit geht Hand in Hand mit einem Verzicht auf diachrone Beschreibungen und Erklärungen. Dies hat sowohl mit Platz- als auch Kompetenzmangel zu tun, ist aber auch das Resultat einer methodischen Überlegung. Eine diachrone Tatsache leistet entweder nichts zur Erklärung eines synchronen Phänomens und stiftet nur Verwirrung oder aber die diachrone Sprachgegebenheit ist synchron noch wirksam und somit auch ein synchrones Phänomen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Morphologie: Schon dem Fünftklässler fällt die Unregelmäßigkeit in der Flexion des Indikativ Präsens von amare auf. Der Lehrer ‘erklärt’ diese Tatsache damit, dass das a in erschlossenem *amao von dem o verschlungen worden sei, der Schüler ist zufrieden – zu Unrecht. Der Lehrer hat ihm nämlich keine Erklärung gegeben, sondern lediglich zwei Sprachzustände genannt, wie wenn er auf die Frage ‘Warum steht der Läufer auf c4?’ geantwortet hätte ‘Weil er vorher auf f1 stand.’ Die Form *amao ist die Bedingung für das Entstehen der Form amo, aber nicht deren Erklärung. Um diese Abweichung der ersten Person in der a-Konjugation wirklich zu erklären, müsste man sprachgeschichtlich viel weiter ausholen, müsste allgemeine Gesetzmäßigkeiten namhaft machen, auf psycho-physische Vorgänge eingehen – und nach all diesem in der Diachronie zu leistenden Aufwand würde der synchrone Wissenschaftler fragen: ‘Wozu? Sagt mir diese Erklärung irgend etwas über die Verwendung der Form im 1. Jh. v. Chr.?’ Es ist gewiss eine interessante Feststellung, dass die deutsche Subjunktion ‘weil’ von einem temporalen Nomen stammt (‘Weile’), beein flusst diese mithilfe der Diachronie eruierte Sprachtatsache unseren Gebrauch von ‘weil’ (etwa im Gegensatz zu ‘da’)? Und wenn dem so wäre: dann wäre diese Sprachtatsache nicht mittels der Diachronie zu ermitteln, sie müsste im System feststellbar sein, weil nur dasjenige Element im System wirksam sein kann, das an einem Punkt im System vorhanden ist: Der Deutsche spürt noch den Zusammenhang zwischen ‘weil’ und der Zeitdauer, aber nicht, weil vor langer Zeit ‘Weile’ ein temporales Nomen war, sondern weil das (temporale) Wort ‘Weile’ durchaus noch lebendig ist. Der Fall ist ein Paradebeispiel für eine scheinbar (rein) diachrone Erklärung, die in Wirklichkeit (auch) synchron ist. (Hierher gehört auch das Zurückgehen auf die Grund bedeutung oder gar ‘eigentliche’ Bedeutung eines Wortes: Wenn man jemanden einen Parasiten schimpft, kann sich der gebildete Besserwisser nur schlecht damit herausreden, das Wort bezeichne ja ursprünglich und somit eigent lich jemanden, mit dem man gemeinsam eine Mahlzeit einnimmt: Das Wort wird nicht mehr in diesem Sinne verwendet, die sog. Grundbedeutungen haben nur etwas in etymologischen Lexika verloren, aber nicht in der aktuell gebrauchten Sprache.)
Mit dieser Ablehnung der Diachronie steht diese Grammatik nicht nur in der Tra dition des synchron arbeitenden Strukturalismus,14 sondern trifft sich auch mit der von der Valenzgrammatik ausgehenden Funktionalen Grammatik, wie sie v.a. H. Pinkster für das Lateinische ausgearbeitet hat.15 Da v.a. dieser Aspekt von Pinksters Werk der Kritik ausgesetzt war, sei hier noch etwas dazu bemerkt. In einer ansonsten sehr kenntnisreichen und ausgewogenen Rezension wurde Pinkster vorgeworfen: „Natürlich ist die Unterscheidung eines Ablativs [sic] instrumenti in der Kernprädikation [d.h. als Ergänzung] (etwa bei utor, potior etc.) und in der Peripherie [als freie Angabe] (z.B. instrumental […]) eine wichtige syntaktische Präzision. Gegen das Konzept der Kasusgrundbedeutung kann diese Unterscheidung nichts ausrichten […] Klarheit verschafft hier nur die diachrone Erklärung […] (vgl. Szantyr 123f.): potior hat z.B. neben dem Akk. einen ererbten Abl. instr. (Herr sein vermittels), bei fungor und vescor ist der Abl. instr. ebenfalls ererbt, bei fruor und utor dagegen sind die Verhältnisse unklar, weil die Etymologie der Verben nicht ermittelt ist. Dieser diachrone Befund spricht jedenfalls eher für eine gleiche Grundbedeutung des Kasus unabhängig von der syntaktischen Position.“ Wäre das nur eine vereinzelt anzutreffende Äußerung, könnte man sie übergehen, da es sich aber um einen häufig vertretenen Standpunkt handelt, verdient diese Argumentation eine eingehendere Besprechung. Abgesehen davon, dass bereits der erste Satz ein Nichtverstehen der Argumentation von Pinkster darstellt: Was ist unter der „Kasusgrundbedeutung“ zu verstehen? Handelt es sich um eine nicht mehr überall vorhandene Bedeutung eines Kasus, so ist es unsinnig, sie immer zu postulieren (ebenso wenig hat das Präfix con-in jedem Kompositum die Bedeutung ‘zusammen’). Oder ist die Grundbedeutung die mit der ursprünglichen Bedeutung übereinstimmende Bedeutung? Dann müsste sie im synchronen System nachweisbar sein. Für welche der beiden Möglichkeiten der Rezensent votiert, wird erst im Folgenden deutlich. Es ist dann von „Klarheit“ die Rede: Klarheit worüber? Offensichtlich über die Auffälligkeit, dass ein Ablativ als Objekt fungiert. Diese soll nun mittels einer „diachronen Erklärung“ beseitigt werden, diese „diachrone Erklärung“ lautet: „potior hat z.B. neben dem Akk. einen ererbten Abl. instr. (Herr sein vermittels).“ Was ist an dieser Erklärung diachron? Vielleicht ist Folgendes gemeint: potior ist Teil des zu untersuchenden synchronen Systems und kann innerhalb dieses Systems den Ablativ regieren, z.B.: Omni Macedonum gaza potitus est Paulus (off. 2,76). Dieser Ablativ wird vom Re zen senten als instrumental bezeichnet, was durch eine Paraphrase verdeutlicht wird („Herr sein vermittels“). Versucht man nun diese Paraphrase auf den Beispielsatz anzuwenden, kommt offensichtlicher Unsinn heraus: Gemeint ist doch nicht, dass Paulus aufgrund der von Perseus erbeuteten Schätze eine herausragende Machtstellung hatte (durativ), sondern dass er sich dieser Schätze bemächtigen konnte (ingressiv). Will man die zitierte Analyse retten, muss man Folgendes annehmen: hier wird offenbar eine viel frühere Sprachstufe beschrieben, als potiri noch die (durative) Bedeutung ‘Herr sein, herrschen’ haben konnte – ob dies zutrifft oder nicht, dies zu entscheiden, liegt jenseits unserer Kompetenz. Als Erklärung, die für das zu untersuchende synchrone System „Klarheit verschafft“, kann diese Analyse offensichtlich nur dann dienen, wenn weitere Zusatzannahmen hinzutreten.16 Definiert man ‘instrumental’ semantisch, was u. W. allgemein üblich ist (und die aus HSz 122 stammende Paraphrase des Rezensenten deutet darauf hin), so ist es unmöglich, den Ablativ nach potiri in einem Cicero-Corpus als instrumental aufzufassen. Das Missverständnis des Rezen senten entspringt also nicht nur der Vermischung von Syn- und Diachronie, sondern auch von Syntax und Semantik.
Es wäre noch viel zu sagen zu dieser Manier, Synchronie und Diachronie zu vermischen (Meixochronie), abschließend sei nur noch einmal betont, dass es hier nicht um eine Desavouierung der Diachronie geht (eher ist das Gegenteil der Fall), sondern lediglich um eine Trennung der beiden Bereiche, um Missverständnisse und Fehlurteile zu vermeiden.17 Will man eine Sprachtatsache mit diachronen Mitteln erklären, muss das sehr gründlich und präzise geschehen, sonst wirft man mehr Fragen auf als man beantwortet. Ein letztes Beispiel soll das veranschaulichen. Es ist üblich, die Hypotaxe mit parataktischen Sätzen zu erklären, die im Laufe der Sprachentwicklung allmählich untergeordnet wurden. Diese Erklärung wird z.B. bei den Finalsätzen nach den Verba timendi angewendet. Der Satz Timeo, ne veniat wird auf die ursprüngliche Parataxe zurückgeführt: Ne veniat; timeo ‘Möge er nicht kommen; ich befürchte es aber.’ Auch in der nun folgenden Kritik geht es nicht darum, die Richtigkeit dieser Erklärung in Zweifel zu ziehen (das sei dem kompetenten Indogermanisten überlassen), sondern darum, darzulegen, welche Schwierigkeiten mit einer solchen Art von Erklärung verbunden sind: Erstens verbirgt sich hinter solchen Erklärungen ein ganz bestimmtes Bild von der Sprache, nämlich die Vorstellung, Sprache entwickele sich aus einfachen Anfängen zu immer komplizierteren Gebilden. Zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt habe man in einer Art Kleinkindlatein gesagt: Ne veniat. Timeo. ‘Er soll nicht kommen. Ich habe aber Angst.’ Dabei wäre timere absolut verwendet worden, der morphologische Bestand der damaligen Sprachstufe wäre identisch mit dem uns bekannten klassischen Latein. Schwer vorstellbar, aber wohl kaum unmöglich. Zweitens ist es offenbar zu einer Inversion gekommen: Die Parataxe kann man sich kaum anders als in der zitierten Reihenfolge gesprochen vorstellen, in den meisten Belegen aus klassischer Zeit steht aber das regierende Verbum timendi vor dem Gliedsatz. Drittens ist die interne Struktur und Semantik des Gliedsatzes auffällig: Müsste nicht entsprechend der Struktur der Wunschsätze ut viel häufiger sein als ne non? Das Gegenteil ist der Fall. Was ist mit Sätzen wie Vereor, ne laborem augeam (leg. 1,12)? Soll man hier wirklich von einem ursprünglich unabhängigen Wunschsatz ausgehen, so unwahrscheinlich das hier und in vielen anderen Fällen klingen mag? Zuletzt: Im Gliedsatz kann die Coniugatio periphrastica stehen, im Wunschsatz nie. Ließen sich auch viele dieser Bedenken mit dem Hinweis auf eine Grammatikalisierung erledigen, so bleibt doch festzuhalten, dass der in vielen Grammatiken übliche Verweis auf diachrone ‘Tatsachen’ fast immer zu knapp gehalten ist (natürlich aus Platzgründen) und damit mehr Probleme schafft, als er löst, dass der Usus, einen früheren Sprachzustand mit nicht belegten Beispielsätzen, die nur eine Zerlegung des zu untersuchenden Sprachzustands sind, vor Augen zu führen, kei nerlei Rechtfertigung besitzen kann.18