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A. Zum Titel der Neubearbeitung. Aufbau. Satzmodell
ОглавлениеDie letzte Bearbeitung des Mengeschen ›Repetitoriums der lateinischen Syntax und Stilistik‹ durch Andreas Thierfelder liegt fast ein halbes Jahrhundert zurück. Eine den Bedürfnissen unserer Zeit angepasste und angemessene erneute Überarbeitung des ›Menge‹ bedarf sicherlich keiner längeren Rechtfertigung, für eine völlige Neubearbeitung und Umstrukturierung, wie sie hier vorgelegt wird, ist sie dagegen unerlässlich. Was ursprünglich eine Modernisierung des Layouts, eine Verbesserung des didaktischen Konzepts und eine gliedernde Straffung des Inhalts sein sollte, wurde unmerklich unter den Händen der beiden Bearbeiter zu einem Werk, das sich immer mehr von dem ursprünglichen Konzept des Mengeschen Lehrbuchs entfernte und dem wissenschaftlichen Handbuch näher kam. Da es zu weit führen würde, die einzelnen Phasen dieser Umgestaltung nachzuzeichnen, seien im Folgenden lediglich der Ausgangspunkt (das Mengesche Werk) und die wichtigsten Richtlinien der Neubearbeitung skizziert:
Hermann Menge (1841–1939) veröffentlichte sein ›Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik‹ 1873 als Lehrkompendium für die oberen Klassen des Gymnasiums; erst nach einigen erweiterten Auflagen wurde es zu dem ›Menge‹, wie wir ihn heute kennen. In der Gestalt, die ihn berühmt gemacht hat, erschien das um den Untertitel ›Ein Lernbuch für Studierende und Vorgeschrittene, zugleich ein praktisches Repertorium für Lehrer‹ erweiterte Werk erstmals 1885 in 5. Auflage. Wie aus dem Vorwort zur sechsten Auflage von 1890 hervorgeht, war das Ziel nun nicht mehr nur eine Lernhilfe für den Schüler und Studenten, sondern ein Buch, „welches dem praktischen Schulmanne eine […] vielseitige und zuverlässige Auskunft über den Sprachgebrauch der klassischen Latinität bietet“. Das Werk wuchs immer weiter und erfuhr zu Menges Lebzeiten noch fünf weitere Auflagen. Die Zusätze und Berichtigungen, die Thierfelder in der 11. Auflage 1953 vornahm, änderten nicht allzu viel an der Substanz. Thierfelder griff damals auf die 7. Auflage von 1900 zurück. Dagegen legt diese Neubearbeitung die detail- und materialreichere 10. Auflage von 1914 zugrunde.
Der neue Titel ist eine Modernisierung des alten Titels (Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik). Das veraltete Wort ‘Repetitorium’ musste natürlich ersetzt werden. Mit ‘Stilistik’ bezeichnete man im 19.Jh. v.a. die unterschiedlichen Verwendungen von Syntagmen im Lateinischen und im Deutschen. Der Terminus wird auch heute noch in Grammatiken so verwendet.3 Da es aber um Erscheinungen geht, die für das Lateinische typisch sind, ist der Terminus ‘Stilistik’ nur verwirrend und streng genommen viel zu hoch gegriffen. Im 19.Jh. bedeutete dieser Begriff ungefähr das, was wir heute mit dem Begriff der Semantik bezeichnen würden – mit einem Begriff, der bis weit in unser Jahrhundert hinein ungebräuchlich war.4 So erklärt sich der neue Titel des Werks. Mit ‘Stil’ sollte man ein innersprachliches Phänomen bezeichnen, daher vermittelt auch der Begriff ‘Kontrastive Stilistik’ ein falsches Bild:
Dass man im Lateinischen Puto deum esse, im Deutschen aber ‘Ich glaube daran, dass es Gott gibt. Ich glaube an die Existenz Gottes’ sagt, hat mit Stilistik nichts zu tun, sondern mit den unterschiedlichen Konstruktionsmöglichkeiten der beiden Sprachen, also mit der Syntax. Stilistik setzt immer die Möglichkeit voraus, von einer Norm abzuweichen. Der Denkfehler der Kontrastiven Stilistik ist, dass sie das Deutsche zur Norm erhebt, von der das Lateinische abweicht. Das Lateinische hat aber im zitierten Fall überhaupt nicht die Möglichkeit, die deutsche Ausdrucksweise (an die Existenz Gottes glauben) nachzuahmen; das Wissen darüber gehört in den Bereich der Syntax, nicht in den der Stilistik. Durch den Verzicht auf das komplexe Feld der Sti listik fiel auch der Mengesche Überblick über die Stilmittel weg. Im Sachverzeichnis sind jene Stilmittel zu finden, die im Hinblick auf die Syntax relevant sind.5
Der Begriff ‘Semantik’ soll nicht suggerieren, dass hier (wie es bei der Behandlung der Wortarten zum Teil geschieht) systematisch die Bedeutungen einzelner Wörter oder Wortgruppen besprochen werden. Es geht da rum, dass man eine Sprache nicht nur unter dem Aspekt der Syntax betrachten kann; auch im sog. Syntaxteil der Grammatik, z.B. in der Kasus- und Gliedsatzlehre, kann man die Semantik nicht entbehren: Bestimmt man einen Ablativ als instrumental, so ist das eine semantische Aussage (anderenfalls ist die traditionelle Klassifizierung der Kasus überhaupt nicht mehr anzuwenden), nennt man einen Gliedsatz kausal, so ist das eine semantische Aussage (sonst kann man cum causale von cum concessivum, faktisches quod von kausalem quod nicht unterscheiden). Syntax und Semantik sind die beiden Ebenen einer Grammatik: eine Sprachlehre muss sich immer darüber im Klaren sein, auf welcher Ebene sie sich gerade bewegt, da es gefährlich ist, von der einen Ebene auf die andere zu schließen.6 Der Sprung von der Syntax zur Semantik ist ebenso gewagt wie der Übergang von der Diachronie zur Synchronie (vgl. u. C.) Daher wurden auch des öfteren Aussagen Menges, die entsprechend den damaligen Erklärungs mustern bei gleichwertigen Konstruktionen von syntaktischer Differenz auf eine semantische Differenz schlossen, einer gründlichen Überprüfung unterzogen und, falls die Quellenlage einen solchen Schluss nicht stützen konnte, verworfen.7
Der Ausschluss der beiden anderen Teile der Grammatik, der Morphologie und Phonologie, erklärt sich mit dem Ausgangspunkt des vorliegenden Werkes (der ›Menge‹ hatte weder Laut- noch Formenlehre).
Da textgrammatische und pragmatische Phänomene nur dort behandelt werden, wo es nicht mehr sinnvoll ist, nur Syntax oder nur Semantik zu untersuchen, erscheinen beide Begriffe nicht im Titel, sind aber nicht aus prinzipiellen Erwägungen von der Betrachtung ausgeschlossen.
Der Aufbau der ›Syntax und Semantik‹ weicht von der heute ungewöhnlich wirkenden8 Gliederung des ›Menge‹ ab (vgl. Konkordanz), indem sie dem inzwischen üblichen Schema folgt: von den Wortarten (Teil A) über die Funktionen im Satz einschließlich der Kasuslehre (Teil B) und den einfachen Satz (Teil C) gelangt sie schließlich zu den Gliedsätzen (Teil D). Da (echte) Gliedsätze durch Partizipialien (Nominalformen des Verbs) ersetzt werden können (und umgekehrt), wurden diese in Teil D unter der Bezeichnung ‘Unechte Gliedsätze’ behandelt.
Die ›Syntax und Semantik‹ geht von folgendem, der syntaktischen Valenzgrammatik entstammenden Satzmodell aus. Ein Satz besteht aus Subjekt, Prädikat, Ergänzungen (des Prädikats), freien Angaben, Satzgliedteilen und Strukturwörtern (Funktionswörter, verbindende Satzteile).9 Das Subjekt wird hier im Gegensatz zu den meisten anderen Einteilungen nicht zu den Ergänzungen gerechnet, um seine traditionelle Sonderstellung zu bewahren.10 Da dieses Buch auch als Lehrbuch konzipiert ist, wurde v.a. in der Kasuslehre dem traditionellen Einteilungssystem Tribut gezollt. So wird der eigentlich entbehrliche Terminus ‘Objekt’ beibehalten.11 Ist dies noch ein vergleichsweise geringes Zugeständnis, ist der gesamte Aufbau der Kasuslehre, der im Einklang mit der Tradition steht, u.E. ein notwendiges Übel, weil hier erstens gemäß dem herkömmlichen Verfahren den Ergänzungen semantische Rollen zugewiesen werden (carere regiert einen Ablativus separativus usw.) und somit zweitens die Kasuslehre immer noch nach den sechs Kasus gegliedert ist, anstatt eine neue Klassifikation zu ver suchen, in der die Kasus-Ergänzungen auf einer Ebene mit den Gliedsatz- Ergänzungen behandelt werden.
Diese Orientierung an neueren Forschungsansätzen (die inzwischen gar nicht mehr so neu sind) ist keine Verneigung vor einer Mode, sondern entspringt der Überzeugung, dass mithilfe neuerer Tendenzen der Sprachwissenschaft die lateinische Grammatik einfacher und adäquater zu beschreiben und zu erklären ist. Dadurch wird der Entwicklung in der Linguistik (auch der alten Sprachen) Rechnung getragen und eine Brücke zu den Neuphilologien geschlagen, wo die betreffende Begrifflichkeit längst auch außerhalb der sprachwissenschaftlichen Disziplinen bekannt ist.