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B. Das Corpus

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Menges ›Repetitorium‹ war ein Lehrbuch, sein Repertorium ein Zwitterwesen zwischen Lehrbuch und wissenschaftlicher Grammatik, ein Werk, das den Anforderungen des 19.Jhs., als es noch den lateinischen Aufsatz am Gymnasium und in der Wissenschaft gab, in so hohem Maße entsprach, dass es – kaum überraschend – zum Standardwerk wurde. Aber Lehre und Wissenschaft stehen immer in einem Gegensatz zueinander, insbesondere wenn die Lehre praktische Fähigkeiten (in diesem Fall das Lateinschreiben), die Wissenschaft aber eine theoretische Ausbildung anstrebt. Wann immer der Latinist nicht nur den Menge, sondern überhaupt die nützlichen Stilistiken, Synonymiken und Antibarbari des 19. Jhs. aufschlägt, staunt er über die Fülle an Information und Wissen, die dort mit nicht enden wollendem Genuss ausgebreitet wird: Cicero wird hier neben Seneca geführt, hier und dort wird auch ein Kirchenvater, wenn nicht gar ein Poet genannt, durchaus verständlich, denn: Der Latein schreibende Schüler oder Gelehrte benötigte zum Ausdruck eines Gedankens eine differenzierte Begrifflichkeit, die er sich bei Bedarf beispielsweise von Plinius lieh, wenn die Klassiker ihm ihre Unterstützung versagten. Die Praxis bestimmte die Methode. Natürlich blieben die Vorbilder Caesar und Cicero, aber wenn man mit ihnen nicht weiterkam, musste man sich zu anderen Autoren herablassen.

Davon ausgehend musste eine unserer ersten Überlegungen lauten: Wie begrenzt man das Corpus unter einem wissenschaftlichen Aspekt sinnvoll? Der erste Weg war nicht gangbar: Eine Grammatik der lateinischen Sprache von Plautus bis Tacitus. Abgesehen von dem kaum abzuschätzenden Arbeitsaufwand war dies nie das Ziel und konnte es auch unmöglich werden, handelte es sich doch um eine Überarbeitung des ›Menge‹ und nicht der Grammatik Küh ner/ Stegmann. Es blieb nur der zweite Weg: die Beschränkung auf wenige Autoren. Dichter schieden aus ersichtlichen Gründen aus, eine Begrenzung auf die eigentliche Klassik war wohl wünschenswert, also stellte sich nur noch die Frage, ob nur Cicero und Caesar oder alle literarischen Prosaschriftsteller des ersten vorchristlichen Jahrhunderts in das Corpus aufgenommen werden sollten. Menge hatte seinerzeit Livius, Nepos, Sallust und Ciceros Korres pondenten fast gleichberechtigt neben die eigent lichen Klassiker gestellt, sollte man ihm hierin folgen, zumal sich das Corpus dadurch (abgesehen von Livius) nicht wesentlich vergrößern würde? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, inwieweit man diesem oder jenem Corpus eine Einheitlichkeit zubilligt. Was heißt das?

Ein Forschungsgegenstand muss in zumindest einer Hinsicht einheitlich sein, sonst ist es sinnlos, ihn zum Forschungsgegenstand zu erheben; die Art dieser Einheit wird aber von der Fragestellung bestimmt: Eine anthropologisch ausgerichtete Toposforschung wird jeden Text auf Topoi untersuchen, um möglichst viel Material sammeln und bewerten zu können, gerät aber zweifelsohne in unüberwindbare methodische Probleme; eine gattungs- oder epochenorientierte Toposforschung hat ein engeres Arbeitsfeld, kann aber nur begrenzte Aussagen treffen. Ebenso steht es mit der Grammatik: Wer alle Texte eines mehr oder minder willkürlich gewählten Zeitraums untersucht, wird viele Phänomene entdecken und viele Lücken im sprachlichen System schließen, sich aber die Frage gefallen lassen müssen, wie man sich dieses System vorzustellen habe und was dicere und AcI bei Terenz mit dicere und AcI bei Tacitus gemeinsam habe (um ein einfaches Beispiel zu wählen). Diese Frage erscheint zugegebenermaßen absurd, geradezu so, als wollte man fragen, was der Hund Bello gestern mit dem Hund Bello heute gemeinsam habe. Die Frage ist absurd, aber nur, wenn man davon ausgeht, dass das sprachliche System des Terenz dasselbe ist wie das sprachliche System des Tacitus (wenn ich davon ausgehe, dass Bello heute wie gestern derselbe ist, gehe ich auch davon aus, dass seine Nase gleich geblieben ist). Die Annahme ist wohl kaum zu vermessen, dass kein Philologe ohne Vorbehalte von der Identität der sprachlichen Systeme ausgehen würde. Warum sollen also in einer Grammatik beide gemeinsam behandelt werden, es sei denn, als Resultat einer ungezügelten Sammlertätigkeit? Natürlich bestehen sehr viele Übereinstimmungen zwischen den beiden, vielleicht sogar mehr Über einstimmungen als Abweichungen, Terenz hätte Tacitus verstanden wie Tacitus Terenz verstanden hat, wie wir Bodmer oder Stifter lesen können, aber dennoch: führt nicht gerade dieser Vergleich die Verschiedenheit vor Augen? Man muss nämlich kein Germanist sein, um einen Text von Bodmer dem 18. Jh., einen Text von Stifter dem 19.Jh. und dieses Vorwort hier dem ausgehenden 20.Jh. zuweisen zu können. Mit welchem Recht könnte also jemand behaupten, dass sich diese drei Schreiber in ein und demselben sprachlichen System bewegen? Ebenso: Mit welchem Recht kann man behaupten, dass ein deutscher Zeitungsartikel des Jahres 1999 demselben sprachlichen System verpflichtet ist wie eine amt liche Verlautbarung oder ein Roman desselben Jahres?

Damit ist nicht gemeint, dass Grammatik nur noch die Darstellung von Idiolekten sein dürfte. Nur muss eine Einheit wohl begründet sein, sonst zerfließt alles in einer Beliebigkeit, in der alles möglich ist. (Interessiert man sich etwa für das Vordringen des deutschen ‘weil’ mit Hauptsatz, so wird man natürlich alle greifbaren Texte auswerten, ungeachtet aller Gattungs- und Zeitgrenzen, aber das wäre die isolierte Untersuchung eines speziellen Phänomens.) So wurde die Entscheidung getroffen, die Corpora von Cicero und Caesar zugrunde zu legen und damit die Werke zweier Autoren, die sich durch ein hohes Maß an Sprachreflexion und bewusstem Umgang mit Grammatik und Stil auszeichnen und deswegen seit der Antike immer wieder zu Stilvorbildern erhoben worden sind.12

Diese Beschränkung des Corpus hat mehrere Vorteile: erstens wird der Forderung nach Synchronie Genüge geleistet (Das Corpus umfasst die Jahre zwischen etwa 80 und 43 v. Chr.), zweitens ist der Umfang so groß, dass verallgemeinernde Schlüsse sinnvoll sind, und drittens handelt es sich um das Corpus des klassischen Lateins, der seit der Antike geltenden idealen Vervollkommnung der lateinischen Sprache.13

Bei dieser puristischen Beschränkung auf zwei Autoren ließen nur noch zwei Umstände Bedenken aufkommen: Warum sollte man Caesar aufnehmen und mit welchem Recht werden beispielsweise Ciceros Briefe an Atticus in dieses Corpus einbezogen? Caesar und Cicero sind einerseits verbunden durch ihre zeitliche Nähe, denselben gedanklichen und gesellschaftlichen Hintergrund (Senatsaristokratie), andererseits – und das ist für das hier verfolgte Ziel wichtiger – durch die nachweisbare Ähnlichkeit des Sprachbaus, durch die mannigfaltigen Übereinstimmungen in Syntax und Semantik. Wer die Sprache Ciceros und Caesars beschreibt, beschreibt die zur Vollendung geführte Standardsprache der Nobilität der ersten Hälfte des 1. Jhs. v. Chr. – und diese Standardsprache lässt sich auch in den umgangssprachlichen Briefen Ciceros nachweisen. Cicero wird nicht, sobald er den Senat verlässt und seine philosophischen Schriften beiseite schiebt, zu einem schlampig formulierenden Sonntagnachmittagsbriefsteller, der präzise Einsatz von Syntax und Semantik bleibt bei ihm, wie bei jedem bewusst schreibenden talentierten Autor, fast durchweg erhalten. Ellipsen, umgangssprachliche Syntagmen, griechische Einsprengsel ändern nichts an dieser Feststellung. Dagegen wurden das achte Buch des Bellum Gallicum und die Rhetorica ad Herennium, soweit wir sehen in Übereinstimmung mit den Communes opiniones, aus dem Corpus ausgeschlossen.

Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik

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