Читать книгу Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik - Thorsten Burkard - Страница 7
Vorwort zur ersten Auflage
ОглавлениеWer ein fast hundert Jahre altes Standardwerk bearbeitet, steht zwischen der Ehrfurcht, die er der Leistung des Verfassers entgegenbringt, und der Notwendigkeit, die neu hinzugewonnenen Erkenntnisse des wissenschaft lichen Fortschritts gebührend zu berücksichtigen: das Neue muss zu seinem Recht kommen, ohne dass man den Respekt vor der herausragenden Stellung des Alten verliert.
Der ›Menge‹ ist die Urform, das Urbild aller lateinischen Schulgrammatiken: jeder, der einmal Latein lernen durfte oder musste, findet jedes noch so kleine Mosaiksteinchen in diesem erschöpfenden Sammelwerk wieder: keine vertraute Wendung, keine Schulregel, kein Terminus technicus, der sich nicht aus dem ›Menge‹ belegen ließe. Bedeutet Latein zunächst und gewöhnlich das klassische Latein von Cicero und Caesar,1 so ist das Regelwerk des klassischen Lateins der ›Menge‹, der aus der Schule hervorging und zur Basis für die folgenden Schulgrammatiken wurde.
So ist eine Tradition der Schulgrammatik entstanden, die am Schulunterricht orientiert war – die lateinische Grammatik wurde als ein möglichst verständliches, in sich geschlossenes System aufgefasst und gelehrt. Dabei entfernte man sich von dem tatsächlichen Sprachgebrauch der klassischen Prosa: was nicht in das System des Regelwerks passte, blieb teilweise unberücksichtigt, Lücken des Systems wurden durch Analogien geschlossen. Das Ergebnis ist in gewisser Hinsicht ein Konstrukt: nämlich die normative Schulgrammatik, wie sie uns heute noch vorliegt. Der erfüllbare Wunsch der Vergangenheit wurde als unumstößliche Sprachtatsache festgeschrieben und gelehrt, obwohl entsprechende Formen in der ganzen hohen Latinität nur spärlich belegt sind und auch anders gedeutet werden könnten.2 Um das Lateinische von den modernen Fremdsprachen abzuheben, in denen das Attribut in der Regel vor dem Bezugswort steht, wurde die Regel aufgestellt, dass das attributive Adjektiv im Lateinischen hinter das Substantiv tritt, und dementsprechend bildete man z.B. den nicht einmal bei Livius, Nepos oder Sallust belegbaren Ausdruck agmen novissimum (statt des regelmäßigen novissimum agmen). Die Beispiele könnte man endlos fortführen.
Unser Anliegen war es nun, die Grammatik auf ihre Quellen zurückzuführen: die Texte der Klassiker. Die deskriptive Darstellung der Sprache von Cicero und Caesar war der Ausgangspunkt: jedes Wort, jeder Ausdruck und vor allem jede Regel wurden nach Möglichkeit belegt. Wir waren überrascht, wie viele ‘Tatsachen’, die wir in Schule und Studium gelernt und in Deutschlateinischen Kursen gelehrt haben, sich bei genauer Überprüfung der Quellen als nicht haltbar erwiesen.
Diese Korrektur des ›Menge‹ anhand des Quellenbefunds mag oft pedantisch wirken, ja sogar den Eindruck erwecken, wir ersetzten nur die eine Pedanterie durch eine andere. Das ist sicherlich nicht von der Hand zu weisen, zumal bei der begrenzten Auswahl des Corpus. Man wird aber bemerken, dass sich unsere Normierung in gewissen Grenzen hält. Wir haben alles, was wir „für das Lateinschreiben zur Nachahmung oder zum Nachbrauchen“ nicht empfehlen würden, mit einem Dreieck (Δ) gekennzeichnet. Wie der einzelne Stilkursleiter oder Student diese Empfehlung in der Praxis umsetzt, bleibt ihm überlassen: wir verstehen diese Neubearbeitung nicht als Katechismus. Diese Tendenz zur schulmeisterlichen Normierung wurde aus dem ›Menge‹ übernommen und schadet u.E. keineswegs, im Gegenteil: klare Richtlinien scheinen erwünscht zu sein, sollten aber nicht mit ehernen Gesetzen verwechselt werden.