Читать книгу Es ist Dein Ärger - Thubten Chodron - Страница 12
Ist Ärger zutreffend in der Einschätzung der Wirklichkeit?
ОглавлениеÄrger ist nicht zutreffend in der Einschätzung der Wirklichkeit, denn er beruht definitionsgemäß auf Übertreibungen oder Zuschreibungen negativer Eigenschaften. Während wir aber ärgerlich sind, haben wir keineswegs das Gefühl, zu übertreiben oder Eigenschaften zuzuschreiben, die nicht der Realität entsprechen. Wir haben schlicht das Gefühl, dass wir recht haben! Tatsächlich scheint der wütende Geist sich völlig klar darüber zu sein, dass »ich recht habe, dass Du unrecht hast und dass Du Dich ändern musst!«
Unter dem Einfluss des Ärgers picken wir uns einige negative Einzelheiten aus dem Ganzen heraus und bilden uns auf ihrer Grundlage eine eingeschränkte Meinung, die wir nur sehr widerwillig ändern. Diana zum Beispiel arbeitete in derselben Organisation wie Harry, und obschon sie ihn nicht sehr gut kannte, unterstützten sie dieselben Ziele. Eines Tages strich er ein Seminar, das sie zu geben hatte, woraufhin sie wütend wurde, weil sie sein Verhalten als unfair empfand. Monatelang verkrampfte sich jedes Mal etwas in ihr, wenn sie ihn sah oder auch nur seinen Namen hörte. Irgendwann wurde ihr jedoch bewusst, dass sie sich auf der Grundlage einer halben Stunde im fünfundvierzigjährigen Leben dieser Person eine Meinung über sie gebildet hatte, von deren Richtigkeit sie überzeugt war. »Bestimmt«, erkannte sie »ist er doch viel mehr als diese eine unglückliche Begegnung, die wir hatten.« Als sie sah, dass ihr Ärger unrealistisch war, ließ sie von ihren fixen Vorstellungen über ihn ab. Diana sah Harry nun nicht mehr so finster an, und er wurde freundlicher zu ihr. Schließlich waren sie dann imstande, über die Streichung ihres Seminars zu sprechen und das Problem zu bereinigen.
An einer festen, unzutreffenden Meinung über jemanden festzuhalten, führt zu Misstrauen und fortwährender Unzufriedenheit. Wenn wir wütend auf jemanden sind, erscheint uns alles, was derjenige tut, falsch, und selbst unscheinbarste Handlungen nehmen wir als weitere Bestätigung dafür, dass unsere negative Ansicht über ihn der Realität entspricht. Im oben genannten Beispiel dachte Diana jedes Mal, wenn Harry Blickkontakt mit ihr aufnahm oder sie grüßte, dass er sich über sie lustig mache und sie verspotte, weil er einflussreicher war. In Wirklichkeit war ihm bewusst, dass sie wütend auf ihn war, und er war bemüht, eine freundlichere Atmosphäre zu schaffen, in der er mit ihr über den Vorfall reden konnte.
Psychologen sprechen von einer Refraktärperiode, die mit einer Emotion einhergeht. Während dieser Zeit verschließen wir uns jeglichem Rat und jeder vernünftigen Interpretation, die unserer Ansicht widerspricht. Wir sind weder imstande, klar über die Situation nachzudenken, noch, andere Interpretationen zuzulassen, die wohlmeinende Mitmenschen anzubieten haben. Diese Refraktärzeit mag nur kurz dauern, d. h. einige Sekunden, oder aber sehr lang, d. h. Jahre oder gar Jahrzehnte, anhalten. Wenn die Emotion sich legt und wir in der Lage sind, die Ereignisse genauer zu betrachten, sehen wir wie Diana, dass die Interpretation des Ärgers falsch war.
Ärger ist also nicht zutreffend in seiner Beurteilung der Realität, insofern als er die Situation nicht in ausgewogener Weise, sondern durch den verzerrten Filter von »ich«, »mich« und »mein« wahrnimmt. Obgleich wir glauben, dass die Situation tatsächlich objektiv »da draußen« existiert, genau so, wie sie uns erscheint, sehen wir sie jedoch, wenn wir wütend sind, in Wirklichkeit durch den Filter unserer Ichbezogenheit. Wenn der Chef meine Kollegin kritisiert, ist es gut möglich, dass ich mich nicht ärgere. Es kann sein, dass ich meine Kollegin sogar tröste, indem ich ihr sage: »Nimm es nicht so persönlich, was der Boss sagt. Ist doch keine große Sache. Er ist eben sehr unter Druck und muss ein bisschen Dampf ablassen. Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun, morgen ist er schon wieder ganz anders.« Wenn der Chef aber mich kritisiert, dann bin ich aller Wahrscheinlichkeit nach auf der Palme. Die Situation scheint mir dann ungeheuer ernst. Alles, was meine Freunde dazu sagen, weise ich weit von mir und bleibe im Schmollwinkel. Realistisch betrachtet gibt es überhaupt keinen Unterschied zwischen den Worten, die der Chef zu meiner Kollegin, und denen, die er zu mir gesagt hat. Warum aber fahre ich dann aus der Haut, wenn er bei diesen Worten mich, nicht dagegen, wenn er meine Kollegin ansieht? Weil ich es bin und weil, so ungern ich es auch zugeben möchte, ich doch das Gefühl habe, dass alles, was mir geschieht, sehr viel wichtiger ist als das, was irgendjemand anderem widerfährt.
Aufgrund dieser eingefleischten, egozentrischen Sicht der Dinge erscheint alles, was in Bezug auf mich geschieht, von vordringlicher Wichtigkeit. Ich verbringe meine Zeit damit, über meine Probleme nachzudenken, nicht etwa über die Probleme eines anderen, es sei denn, ich hänge an dieser anderen Person. Es könnten Menschen in dieser Welt verhungern, mein Nachbar könnte eine herzzerreißende Scheidung durchmachen, bei einem Kollegen könnte Krebs diagnostiziert werden – sobald ich ihr Pech jedoch flüchtig zur Kenntnis genommen habe, wende ich mich wieder der eigentlichen Krise zu: der Kritik, die ich bekommen habe. Auf den ersten Blick mag das wie eine etwas banale oder flapsige Beschreibung wirken; nehmen wir aber einmal ernsthaft die Gedanken unter die Lupe, mit denen wir unsere Zeit verbringen, werden wir sehen, dass meine Probleme, mein Leben, d. h. alles, was irgendwie mit mir in Zusammenhang steht, den allerersten Rang einnimmt.