Читать книгу Es ist Dein Ärger - Thubten Chodron - Страница 20
Eine biologische Schutzreaktion?
ОглавлениеManche Leute behaupten, dass jeder natürlicherweise und automatisch Wut als Reaktion auf zugefügten Schaden empfinde. Sie sei biologisch »fest in uns verankert«. Wut trage zum Überleben unserer Spezies bei, denn sie helfe, uns wirkungsvoll zu verteidigen. Ohne sie würden wir dastehen und zulassen, dass uns oder unseren Lieben Leid zugefügt wird. In der Tat waren Wut, Wettkampf und der Beweis der eigenen Macht über andere das unverzichtbare Instrumentarium der Evolution, um das Überleben des Stärkeren zu sichern. Natürlich, so sagen sie, nimmt die Wut manchmal überhand, d. h., die eigentliche Frage ist nicht, wie Ärger beseitigt werden kann, sondern wie man ihn gegenüber der richtigen Person zu rechten Zeit angemessen zum Ausdruck bringt.
Obwohl unter gewissen Gesichtspunkten die oben genannten Argumente einleuchten, nimmt der Buddhismus einen anderen Standpunkt dazu ein. Die erfolgreichsten Spezies, sagt er, sind die, in welchen die größte Kooperation herrscht. Eine einzige Ameise kann beispielsweise nicht alleine leben. Wenn die Ameisen innerhalb einer Kolonie den größten Teil ihrer Energie darauf verwendeten, gegeneinander zu kämpfen, hätten sie sich bald selbst zerstört. Sie brauchen sich gegenseitig für ihr Überleben, und sie kooperieren ausgiebig miteinander. Nehmen Sie sich einmal die Zeit, eine Ameisenkolonie zu beobachten. Die Ameisen hasten mit Baumaterialien und Nahrung hin und her, die ein Vielfaches ihres eigenen Körpergewichtes wiegen. Sie zeigen sich gegenseitig, wohin man laufen muss, damit niemand verloren geht, und sie arbeiten miteinander, um das Überleben und Gedeihen der Gruppe zu gewährleisten.
Ähnlich haben auch wir Menschen Schwierigkeiten, alleine zu leben. Im einundzwanzigsten Jahrhundert sind wir abhängiger voneinander als je zuvor in der Geschichte der Menschheit. Vor Hunderten von Jahren bauten Menschen ihre eigene Nahrung an, nähten ihre eigene Kleidung und bauten ihre eigenen Wohnstätten. Heutzutage weiß der größte Teil der Menschen in den entwickelten Ländern nicht, wie sie diese Arbeiten zum eigenen Bedarf ausführen sollten. Wir sind für unser Überleben aufeinander angewiesen, was eine Zusammenarbeit zwingend erforderlich macht. Trotz unserer menschlichen Intelligenz sieht es allerdings manchmal so aus, als seien diese winzigen Ameisen um einiges gescheiter und vernünftiger als wir!
Seit Darwin hat der Glaube an den Wert von Kämpfen unter Rivalen und von wütender Selbstverteidigung auf vielen Gebieten der Gesellschaft, einschließlich der Erziehung, der Künste und Wissenschaften, des Sportes, der Computerentwicklung und nationaler Verteidigung Akzeptanz gefunden. Ich glaube, dass die Übernahme dieser Denkart der Welt sehr geschadet und zu einem Mangel an Mitgefühl geführt hat, der Menschen gestattet, sich gegenseitig und ihrer Umgebung Leid zuzufügen.
Eine gewisse Art von »Wettkampf« ist gut, aber nicht mit anderen Lebewesen, von denen unser Überleben und unser Glück abhängig sind, sondern mit unserer eigenen Unwissenheit und unseren gefühllosen Einstellungen, die unsere wirklichen Feinde sind. Wir können die Motivation entwickeln, uns selbst und unsere Welt zu verbessern, weil uns dies wichtig ist, nicht weil wir unbedingt die Nummer eins sein wollen.
Obwohl eine Bedrohung eine biologische Reaktion auslösen kann, ist diese Reaktion nicht unbedingt zuträglich, noch ist sie dem Menschen immanent. Wie oben erwähnt, beginnt die Wut mit einer unangemessenen Betrachtung, die Ereignisse in verzerrter Weise interpretiert. Daraufhin produziert der Körper Adrenalin. Mit dem Geist als motivierendem Faktor und dem Körper als mitwirkendem Umstand kommt daraufhin gewaltsames Verhalten zum Ausbruch. Wenn auf der anderen Seite die Unwissenheit, die dem Ärger zugrunde liegt, durch den Einsatz geeigneter Gegenmittel beseitigt wird, treten diese Reaktionen im Geist nicht mehr auf, und der Teufelskreis kommt zum Stillstand. Wenn wir die gestörten Geistesfaktoren, die uns binden, eliminieren, wird sich unsere Beziehung zu unserem Körper und unserem Leben ändern. Wir können uns und andere dann weiterhin vor Gefahren schützen, werden es jedoch ohne Antipathie gegenüber der Person tun, die uns den Schaden zufügt. Tatsächlich ist es so, dass ein Geist, der frei ist von Ärger, viel schneller zu einer Lösung findet.