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1 Geist, Emotion und Ärger

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In einem Sommer sprach Seine Heiligkeit der Dalai Lama in Los Angeles zu einem Publikum, in dem sich auch eine Gruppe von Jugendlichen aus ärmeren Vierteln der Stadt in ihren Fatigues* und in Begleitung ihrer Betreuer befand. Nach seiner Ansprache fragte eine der Jugendlichen Seine Heiligkeit: »Manche Leute springen mir ins Gesicht und provozieren mich. Wie soll ich mich da nicht wehren?« Sie war herausfordernd, dabei aber in ihrem Anliegen sehr ernsthaft.

Seine Heiligkeit sah ihr in die Augen und sagte: »Gewalt ist veraltet. Ärger bringt dich nirgendwohin. Wenn du deinen Geist zur Ruhe bringen und geduldig bleiben kannst, wirst du ein wunderbares Beispiel für die Leute um dich herum sein.« Das Publikum klatschte, das Mädchen blieb jedoch stehen und erwiderte seinen Blick. Sie war noch nicht zufrieden.

Der Dalai Lama fuhr damit fort, zu beschreiben, wie so viele große Menschen, Martin Luther King, Mahatma Gandhi und Jesus zum Beispiel, angesichts von Gewalt und Widrigkeiten friedfertig geblieben waren. Viele von ihnen lernten Schwierigkeiten kennen, während sie heranwuchsen. »Selbst ich«, sagte er. »Meine Jugend war voller Konflikte und Gewalt. Dennoch traten alle diese Menschen für Gewaltlosigkeit und Liebe für andere ein. Und durch ihren Beitrag ist die Welt besser geworden. Das kannst du auch.«

Dann deutete er dem Mädchen an, sie möge zu ihm kommen und seine Hand schütteln. Als sie mit ausgestreckter Hand und einem unsicheren Lächeln auf dem Gesicht auf ihn zuging, breitete der Dalai Lama die Arme aus und drückte sie fest an seine Brust. Das Mädchen kehrte daraufhin strahlend an ihrem Platz zurück.

Nach dem Vortrag fragte einer der Sponsoren, ob die Jugendlichen ihre Erfahrung mitteilen wollten. Ein untersetzter junger Mann von derbem Aussehen trat mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht ans Mikrophon. »Puh«, sagte er. »Ihr müsst ja von eurem Platz aus hören können, wie mein Herz schlägt! Ich habe den Dalai Lama im Fernsehen und in Zeitschriften gesehen, und ich dachte, er ist ziemlich cool, aber ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, ihm begegnet zu sein!«, und er fasste sich ans Herz.

Ein tibetischer Mönch, der nur einige Jahre zuvor aus dem kommunistisch besetzten Tibet geflohen war, erzählte mir seine Geschichte. Seine Familie war eine der wohlhabenden und prominenten der Gegend in Tibet gewesen, in der er aufgewachsen war. Nach der kommunistischen Besetzung Tibets im Jahre 1950 und dem darauf folgenden erfolglosen Aufstand im Jahre 1959 wurde sein Elternhaus konfisziert und zu einem Gefängnis umfunktioniert. Weil die Mitglieder seiner Familie Landbesitzer waren und er ein Mönch, wurde er von den chinesischen Kommunisten inhaftiert und wurde Gefangener in dem Haus, das vordem sein Zuhause gewesen war. Er und seine anderen Mitgefangenen durften zweimal am Tag zur Toilette nach draußen gehen, ansonsten hatten sie im Haus zu bleiben, das nunmehr kaputte Fenster und keine der früheren Bequemlichkeiten mehr aufwies. Angesichts solcher Ungerechtigkeit und Demütigung wären die meisten Menschen vermutlich außer sich gewesen vor Wut. Dieser Mönch dagegen erzählte mir, wie er sich bemüht habe, seine Zeit klug zu nutzen, indem er seiner Meditationspraxis nachging, um seinen Geisteszustand zu verbessern. Es waren ihm zwar alle religiösen Gegenstände genommen worden, doch rezitierte er still die Texte, die er auswendig kannte, und dachte über ihre Bedeutung nach. So machte er seinen Geist mit Einstellungen und Emotionen vertraut, die zur Erleuchtung führen, und vermied es, sich in Hass zu verstricken. Während ich mit ihm sprach, bemerkte ich keinerlei Zeichen von Verbitterung gegenüber den chinesischen Kommunisten. Er hatte ganz einfach eine tiefe Liebe zum Leben.

Geschichten wie diese geben uns zu denken: »Wie machen diese Leute das?« Sie sind Menschen genau wie wir, doch obwohl sie härteren Umständen ausgesetzt waren als wohl irgendjemand von uns, darunter Vertreibung, Gefangenschaft, Folter und der Verlust vieler lieber Menschen, sind sie weder von Zorn noch von Rachsucht bestimmt.

Dieses Buch ist im Großen und Ganzen eine Zusammenstellung buddhistischer Methoden, um Wut in all ihren Facetten zu verhindern und zu überwinden, Methoden, die sich für den Dalai Lama, den oben genannten Mönch und viele andere in ihrem Leben als wirksam und nützlich erwiesen haben.

Nichts an diesen Methoden ist spezifisch »buddhistisch«. In der Tat sind viele der Lehren des Buddha viel eher gesunder Menschenverstand als religiöse Doktrin, und keine Religion hat den gesunden Menschenverstand für sich allein gepachtet. Vielmehr sind es vernünftige und nützliche Methoden, unser Leben zu leben. Unabhängig davon, welcher Religion wir angehören, es ist in jedem Fall hilfreich, unseren Geist zu beobachten und zu lernen, mit unserem Ärger umzugehen.

Der Buddhismus ist auch eine »Wissenschaft des Geistes« genannt worden. Viele von denen, die ihn praktizieren, sagen über den Buddha, dass er im Grunde ein großer Therapeut gewesen sei, der praktische Methoden vermittelte, mit störenden Einstellungen, negativen Emotionen und Problemen des täglichen Lebens umzugehen. Natürlich geht der Buddhismus über die Zielsetzungen der Psychotherapie hinaus und unterscheidet sich in einigen entscheidenden Punkten von ihr. Nichtsdestotrotz handelt er, genau wie die Psychotherapie, vom menschlichen Geist und menschlichen Emotionen, und genau wie sie ist er bemüht, zufriedenere Menschen und eine bessere Gesellschaft hervorzubringen.

Am liebsten würden wir natürlich sofort in die praktischen Anwendungen des Ärger-Managements eintauchen. Weil aber die praktischen Anwendungen im Kontext der buddhistischen Auffassung von Geist und Emotionen dargelegt werden, sind einige Hintergrundinformationen zu diesem Thema für ein besseres Verständnis zunächst hilfreich.

Es ist Dein Ärger

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