Читать книгу Es ist Dein Ärger - Thubten Chodron - Страница 15
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Geduld, die Alternative
Weil Ärger und andere destruktive Emotionen nicht die Natur unseres Geistes/Herzens sind, können sie durch die Entwicklung von Geduld, Liebe, Mitgefühl und Weisheit reduziert und letztendlich ganz aus unserem Geistkontinuum beseitigt werden. Viele Menschen, die wir bewundern, Buddha, Jesus, Mahatma Gandhi und andere, waren in der Lage, angesichts von Schaden innerlich ungestört zu bleiben und dabei äußerlich zu Gunsten anderer zu arbeiten. Sie drückten ihren Ärger weder aus, noch unterdrückten sie ihn, er war einfach nicht da, weil sie ihn ganz in Toleranz und Mitgefühl verwandelt hatten.
Das bedeutet, dass es eine Alternative dazu gibt, Ärger auszudrücken oder zu unterdrücken. Wenn wir unserem Ärger Ausdruck verleihen, kann es leicht geschehen, dass unsere Worte und Taten andere verletzen. Darüber hinaus werden wir den Ärger dadurch nicht einmal los. Im Gegenteil, jedes Mal, wenn wir unsere Aggressionen zum Ausdruck bringen, und sei es nur dadurch, dass wir heftig auf ein Kissen einschlagen oder in menschenleerer Landschaft so laut wir können schreien, stärken wir in uns die Gewohnheit, ihre rohe Energie zu spüren und auszuleben. Und was, wenn eines Tages kein Kissen zur Hand ist, auf das wir einschlagen, und kein Feld in der Nähe, auf dem wir schreien können, und wir stattdessen nur von Menschen umgeben sind?
Auf der anderen Seite verschwindet Ärger auch nicht dadurch, dass wir ihn unterdrücken. Es ist immer noch möglich, dass er zum Ausbruch kommt, und zwar manchmal gerade dann, wenn wir am wenigsten dazu bereit sind, mit ihm fertig zu werden. Das Unterdrücken von Ärger kann uns außerdem körperlich und geistig Schaden zufügen. Ärger auszudrücken ist das eine Extrem, und Ärger zu unterdrücken das andere, in beiden Fällen jedoch bleibt die Gewohnheit, sich zu ärgern, auf die eine oder andere Weise bestehen.
Geduld ist eine Alternative. Sie ist die Fähigkeit, angesichts von Schaden oder Schwierigkeiten innerlich ruhig und ungestört zu bleiben. Das Sanskrit-Wort »ksanti« hat im Deutschen keine völlig zutreffende Entsprechung. Wir verwenden hier den Begriff »Geduld«, darüber hinaus beinhaltet »ksanti« aber auch Toleranz, innere Ruhe und Ausdauer. Wenn wir also hier von Geduld sprechen, dann sind diese Qualitäten mit enthalten.
Geduld haben bedeutet nicht, ein künstliches Lächeln aufzusetzen, während innerlich der Hass brodelt. Sie bedeutet, die Ärgerenergie aufzulösen, sodass sie nicht mehr da ist. Danach können wir dann mit klarem Geist verschiedene Alternativen prüfen und entscheiden, was zu tun oder zu sagen ist, um das Problem zu lösen.
Wenn wir von Geduld und Ärger sprechen, müssen wir zwischen inneren Einstellungen und äußeren Handlungen unterscheiden. Geduld kann sich in Form von ganz unterschiedlichen Verhaltensweisen manifestieren. Sie schafft den geistigen Raum, um das für die jeweilige Situation angemessene Verhalten zu wählen. Es mag vorkommen, dass wir uns anderen gegenüber gelegentlich heftig ausdrücken, weil es im Augenblick die wirkungsvollste Art und Weise ist, in der wir mit ihnen kommunizieren können. Wenn zum Beispiel ein Mädchen auf der Straße spielt und ihr Vater sanft zu ihr sagt: »Susi, Liebes, würdest du bitte nicht auf der Straße spielen?!«, so wird sie ihn vermutlich ignorieren. Schlägt er dagegen einen heftigeren Ton an, ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass seine Worte Eindruck machen und sie gehorcht. Sein Geist kann währenddessen innerlich jedoch durchaus ruhig und mitfühlend sein. Das Kind wird den Unterschied spüren zwischen seinen Worten, wenn er ruhig, und denselben Worten, wenn er ungehalten ist.
In anderen Situationen wird eine geduldige Haltung sich in Form eines ruhigen Verhaltens manifestieren. Statt den Spott eines Passanten zu erwidern, entschließt Bob sich zum Beispiel dazu, nicht darauf zu reagieren. Er tut das weder aus Schwäche noch aus Furcht, sondern aufgrund der klugen Entscheidung, einer potenziell aggressiven Situation keine Nahrung zu geben.
Genauso kann Ärger sich in Form verschiedener Verhaltensweisen manifestieren. Gary explodiert, wenn er wütend ist. Er schreit, flucht, und man weiß, dass er gelegentlich auch schon mit Dingen geworfen hat. Karen dagegen zieht sich zurück. Sie geht in ihr Zimmer, schließt die Tür zu und weigert sich zu sprechen. Es kommt vor, dass sie tagelang schmollt. Beide Personen sind ärgerlich, manifestieren ihren Ärger jedoch in Form gänzlich unterschiedlicher Verhaltensweisen: der eine aggressiv, die andere passiv.
Die Vorteile der Geduld
Ein gängiger Irrtum im Westen ist, Geduld mit Passivität gleichzusetzen. Wenn wir jedoch richtig verstehen, was Geduld bedeutet, d. h. wenn wir erkennen, dass es sich dabei um eine innere Haltung und nicht um ein äußeres Verhalten handelt, sehen wir, dass das nicht korrekt ist. Vielmehr schafft innere Ruhe angesichts von zugefügtem Schaden den Raum, Situationen klarer einzuschätzen und kluge Entscheidungen zu treffen. Das ist einer der herausragendsten Vorteile der Geduld.
Ein weiterer Vorteil der Geduld ist, dass sie unserer Gesundheit guttut, weil sie unseren Geist von Schmerz und Aufruhr und unseren Körper von Spannungen frei hält. Viele Studien zeigen, dass ausgeglichene Menschen sich nach Operationen schneller erholen und weniger Unfälle haben.
Nach einem Konflikt mit einer Nachbarin war Ronda voller Grimm dabei, ein neues Möbel zusammenzubauen. Nach einiger Zeit gab sie sich plötzlich einen Ruck und dachte: »Wenn ich so weitermache, werde ich mich wahrscheinlich auch noch verletzen.« Sie atmete tief durch, ließ ihre körperliche Anspannung los und nahm anschließend ihre Schreinerarbeit mit einer neuen Haltung wieder auf.
Geduld hilft uns auch, frei von Schmerz und Verbitterung, Groll und dem Wunsch nach Vergeltung zu leben. Weil wir mit Geduld besser in der Lage sind, mit anderen zu kommunizieren, werden unsere Beziehungen harmonischer und dauerhafter. Anstatt am Ärger zu zerbrechen, werden sie durch aufmerksames Zuhören und bewusste Sprache vertieft. Auf diese Weise häufen wir weniger Dinge an, die wir später zu bereuen haben, und wenn wir sterben, ist unser Geist mit sich im Reinen. Und während wir positives Karma* ansammeln, wissen wir, dass wir auf dem Weg sind zu glücklichen Wiedergeburten, Befreiung und Erleuchtung.
Geduld hat zudem eine unmittelbare Wirkung auf die Menschen und die Atmosphäre um uns herum, indem sie die untauglichen Formen umgeht, in denen Menschen miteinander kommunizieren. Die folgenden drei Geschichten sollen das veranschaulichen:
Vor der Schule kam Rons Tochter völlig entnervt zum Auto, weil sich ihr Haarband in ihrem Haar verknotet hatte. Anstatt sie dafür zu schelten, dass sie ihre Haare auf die letzte Minute zurechtmachen musste, und sie damit beide zu einem schlechten Tag zu verurteilen, lächelte Ron freundlich und half ihr, das Band herauszuziehen.
»Flugwut«, d. h. Angestellte einer Luftlinie für ausgefallene oder verspätete Flüge anzuschreien, ist in unserer Gesellschaft sehr verbreitet. Wir lassen unsere Entrüstung an Fremden aus, die für unser Pech überhaupt nicht verantwortlich sind und in deren Macht es auch nicht steht, irgendetwas daran zu ändern. Weil ich viel reise, um an verschiedenen Orten zu unterrichten, bin ich bestens vertraut mit Komplikationen aufgrund von Wetter, technischen Schwierigkeiten oder Überbuchung. Auf der besonders langen Strecke von der Westküste der USA in den Mittleren Westen wurde einmal ein Flug nach dem anderen von Problemen heimgesucht. Weil mir klar war, dass ich nichts daran ändern konnte, entspannte ich mich und lächelte den Leuten zu, die um mich herumsaßen. Nachher kam ein Mitreisender, den ich nicht kannte, zu mir und sagte: »Zu beobachten, wie Sie mit dieser Situation umgehen, hat mir geholfen, mich zu beruhigen. Ich fühle mich jetzt wesentlich besser. Vielen Dank!«
Eine ganze Zahl von Gefängnisinsassen, mit denen ich korrespondiere, krempeln ihr ganzes Leben um, wenn sie anfangen, die Lehren des Buddha zu studieren. Einer von ihnen erzählte mir folgende Geschichte:
»Gestern habe ich mir eine Tasse Kaffe gemacht, da bemerkte ich von der Seite einen Typen, der sich manchmal etwas merkwürdig benimmt. Er murmelte etwas, als ich mit meinem Kaffee an ihm vorbeiging, und weil ich also dachte, dass er mit mir rede, hielt ich an und fragte ihn, was er gesagt habe. ›Ich rede mit mir selbst‹, antwortete er, also ging ich weiter. Ich hatte noch keine zwei Schritte getan, da schrie er hinter mir her: ›Na und, kann ich etwa nicht mit mir selbst reden?!‹«
Ich mag wirklich keine Konfrontation, aber ich blieb ruhig und sagte: ›Ich habe nur gefragt, weil ich dachte, dass du mit mir sprichst. Ich habe nie gesagt, dass du nicht mit dir selbst reden kannst.‹ Er war inzwischen völlig außer sich, sah mich finster an und sagte: ›Du bist überhaupt niemand. Du solltest besser von hier verschwinden!‹ Ich stimmte zu, dass ich niemand Besonderes sei, lächelte und ging davon.
Weil ich wusste, dass das Ärger bedeutete, ging ich auf mein Zimmer, zog meine Stiefel an und bereitete mich so gut ich konnte auf alles vor, was er womöglich tun würde. Ich entspannte mich ein wenig und ließ Revue passieren, was vorgefallen war. Ich hatte nur ein- oder zweimal vorher kurz mit ihm gesprochen, und ich hatte nichts getan, um ihn zu verärgern, dennoch war er offensichtlich wütend. Ich brachte mir Karma in Erinnerung, weil nichts anderes irgendeinen Sinn zu ergeben schien, und ich dachte, dass ich die Ursachen dafür hervorgebracht haben müsse, dass mir das passierte. Ich beschloss, dass er wahrscheinlich meine Frage falsch verstanden und sich bedroht gefühlt hatte oder dass er vielleicht schon vorher sauer gewesen war oder dass er vielleicht vergessen hatte, seine Medikamente zu nehmen. Ich dachte über die Acht Verse zur Geistesumwandlung nach, und das half mir, besonnen und ruhig zu bleiben.
Ich war nicht wütend auf ihn, auch wenn ich bereit war, mich wenn nötig zu verteidigen. Ich ging hin, wo er wohnte, weil ich mit ihm reden und ihn beruhigen wollte, besann mich aber im letzten Augenblick eines Besseren und kam zu dem Schluss, dass er wohl einfach allein sein müsse. Später, noch am selben Tag, entschuldigte er sich und erklärte: ›Ich hatte einen Streit mit jemandem und war auf hundertachtzig. Ich war in keiner guten Stimmung, als du vorbeikamst.‹ Ich akzeptierte seine Entschuldigung.
Später habe ich darüber nachgedacht, wie ich mit der Situation umgegangen war. Ich hatte nicht nur auf körperliche und sprachliche Gewalt verzichtet, sondern mich mittendrin an Dharma erinnert. Ich sage das nicht, um mich wichtig zu machen, ich war eher von mir selbst überrascht. Die Situation hätte leicht in Gewalt und Schwierigkeiten ausarten können, deshalb war ich dankbar für die Hilfe, die Dharma mir dabei gegeben hat.«
*Dieser und weitere Begriffe aus dem tibetischen Buddhismus werden in einem Glossar am Ende des Buches erklärt.