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Eine bessere Wahl als Vergebung?
ОглавлениеManchmal haben wir das Gefühl, dass Menschen zu verzeihen, die uns Leid zugefügt haben, gleichbedeutend damit ist, ihr schädliches Verhalten zu akzeptieren. Wütend auf sie zu bleiben, scheint daher die einzige Möglichkeit, unsere fortgesetzte Missbilligung ihres Verhaltens zum Ausdruck zu bringen. Das ist jedoch keineswegs der Fall. Eine Person und ihr Verhalten sind zwei verschiedene Dinge. Wir können nicht sagen, dass eine Person schlecht ist, auch wenn ihr Verhalten oder ihre Absichten schädlich sind. Aus buddhistischer Perspektive hat jedes Lebewesen das angeborene Potenzial, ein vollkommen erleuchteter Buddha zu werden. Jede Person hat etwas innerlich Gutes, das nie zerstört werden kann, unabhängig davon, wie schlecht er oder sie sich verhalten mag. Wir können also vergeben und von unserem Ärger gegenüber der Person, die uns geschadet hat, ablassen und gleichzeitig die Ansicht aufrechterhalten, das ihr Verhalten verletzend und inakzeptabel war und künftig nicht fortgesetzt werden sollte.
Zu vergeben bedeutet nicht, schädliches Verhalten zu tolerieren oder in einer misslichen Situation auszuharren. Es heißt auch nicht, dass wir der anderen Person mitteilen müssen, dass wir ihr vergeben haben, falls sie unsere Nachsicht missverstehen und dadurch ihr negatives Verhalten wiederaufnehmen könnte. Von Mitgefühl motiviert, können wir starke Maßnahmen ergreifen, Schaden zu verhindern oder auszuschalten. Zu vergeben macht uns also nicht zu »Softies«.
Vergeben tut uns selbst und anderen gut. Wenn wir an unserem Ärger festhalten, sind wir angespannt und unzufrieden, und das wirkt sich auf unsere Beziehungen und unsere körperliche Gesundheit aus. Indem wir vergeben, lassen wir von unserem Ärger ab und machen so unserem eigenen Leid ein Ende. Wir verhindern auch, in die Rolle des Täters zu verfallen, was Opfer häufig tun, und auf diese Weise beenden wir den Kreislauf des Schädigens und Geschädigtwerdens.
Natürlich können wir uns nicht dazu zwingen, unseren Ärger aufzulösen oder jemandem zu verzeihen. Manchmal kann es sein, dass wir einer Person oder Situation, die Anspannung bei uns auslöst, erst einmal körperlich aus dem Weg gehen oder etwas geistige Distanz zu ihr bekommen müssen. Indem wir dann die Gegenmittel zum Ärger praktizieren, können wir ihn allmählich auflösen. Wenn wir das tun, werden die Weite, die Klarheit und die Güte der Vergebung ganz natürlich in unserem Herzen entstehen.
Trudy war jahrelang wütend auf ihre Mutter gewesen, wegen der Vernachlässigung und des Missbrauchs, die sie als Kind erlebt hatte. Als sie älter wurde, erkannte sie, dass ihr Ärger ihre Fähigkeit behinderte, Liebe und Mitgefühl für andere zu empfinden. Unter der Anleitung einer Therapeutin und eines spirituellen Lehrers arbeitete sie hart daran, ihren Ärger zu überwinden und ihre Mutter zu akzeptieren und ihr zu verzeihen. Sie bemühte sich auch, in ihren Beziehungen liebevoller und freundlicher zu sein. Während sie an sich arbeitete, schien ihre Mutter dasselbe zu tun. Zu Trudys großer Überraschung rief ihre Mutter eines Tages an, um zu sagen, wie sehr sie ihr Verhalten bedauerte, und bat ihre Tochter um Verzeihung. Trudy verzieh ihr und war sehr glücklich, sowohl für ihre Mutter als auch für sich selbst.
Zu einer der ergreifendsten Meditationen, die ich je geleitet habe, kam es in Israel, nach einer Diskussion über den Holocaust. Eine Jüdin hatte von ihrer Erfahrung bei einer Begegnung zwischen Kindern von Überlebenden des Holocaust und Kindern von Nazis erzählt. Als sie den Erzählungen der Kinder von SS-Offizieren zuhörte, begann sie die tiefen Schuldgefühle, ihr Leid und die Verwirrung zu verstehen, die sie mit sich herumtrugen. Wie kann man die Erinnerung an seinen liebenden Vater mit dem Wissen vereinbaren, dass er den Mord an Millionen von Menschen gebilligt hatte?
Anschließend meditierten wir über Chenrezig, den Buddha des Mitgefühls. Wir stellten uns Chenrezig in den Konzentrationslagern vor, den Gaskammern, den Deportationszügen und Gefängnissen. Wir visualisierten Chenrezig in Auschwitz, in Dachau und in all den anderen Lagern. Während wir das Mantra des Mitgefühls rezitierten, OM MANI PADME HUM, stellten wir uns vor, dass das strahlende Licht des Mitgefühls von Chenrezig ausging und jedes Atom dieser Orte und der Menschen darin durchflutete. Wir stellten uns vor, dass es das Leid, den Hass und die falschen Vorstellungen aller Lebewesen bereinigte, ob sie Juden, waren politische Gefangene, Zigeuner, Nazis oder gewöhnliche Deutsche, die weggesehen hatten, um ihre eigene Haut zu retten, und ließen das Licht all ihren Schmerz heilen. Wir sangen das Mantra eine halbe Stunde lang zusammen. Danach war der Raum wie aufgeladen. Selten habe ich mit einer Gruppe meditiert, die so konzentriert war.
Manche Leute fragen sich, ob Vergeben Vergessen bedeute. Nein, das bedeutet es nicht. Es ist wichtig, sich zu erinnern, es liegt nur kein Gewinn darin, den Schmerz, die Verletzung, die Verbitterung und den Ärger in unserem Herzen am Leben zu erhalten. Sich mit Mitgefühl zu erinnern ist wesentlich kraftvoller.
*Sportabteilung der University of California (Anm. d. Ü.)
*Reserve Officers’ Training Corps (Ausbildungskorps zum Reserveoffizier; Anm. d. Ü.)