Читать книгу Clockwork - Tom Dekker - Страница 14
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Geraldine Greystone blickte ärgerlich von dem Stapel Papiere auf, über dem sie tief in Gedanken versunken gebrütet hatte. Nicht nur, dass jeder von ihr erwartete, innerhalb von Tagen das Chaos zu beseitigen, dass Colin Rand und seine Handlanger hinterlassen hatten, nein, allenthalben wurde sie auch von irgendwelchen Bittstellern und Dummschwätzern gestört, die sich wichtiger nahmen als der Doge und es gar nicht erwarten konnten, sie mit ihren kleinlichen Ansinnen und undurchdachten Vorschlägen zu belästigen. Einzig das Vermächtnis ihres verstorbenen Ehemanns, der als Gouverneur die City erfolgreich durch schwierige Zeiten geführt hatte, ließ sie von dem regelmäßig aufkommenden Wunsch Abstand nehmen, einfach alles hinzuwerfen und sich auf das großzügig bemessene, bequeme Anwesen auf dem Land zurückzuziehen, dass sie beide sich als ihren Altersruhesitz auserkoren hatten.
Vor dem riesigen Schreibtisch der amtsführenden Gouverneurin, auf dem sich die Akten zu kunstvollen Türmen mit atemberaubenden Höhen stapelten, hatten sich drei junge Männer postiert, die Geraldine herausfordernd anstarrten. Sie bildeten einen deutlichen Kontrast zu den feinen Sitzmöbeln, dem kostbaren Sekretär und der Brokattapete, die dem Büro einen aufdringlich bombastischen Chique verliehen. Alle drei waren unrasiert, die Haare wirbelten kreuz und quer auf ihren Köpfen herum. Sie trugen blaue Hemden und schwarze Hosen, die von weißen Hosenträgern gehalten wurden. Geraldine Greystone hatte diese Tracht bereits einige Male im Vorbeifahren in der City gesehen, ihr aber keine weitere Beachtung geschenkt. Moden kamen und Moden gingen. Auch dieser alberne Aufzug, den die jungen Männer heutzutage offenbar besonders schick fanden, würde wieder aus dem Straßenbild verschwinden. Jetzt standen diese Jungen aber erst einmal vor ihr und lenkten ihre wertvolle Aufmerksamkeit von den katastrophalen Finanzen der City ab.
„Ja?“, fragte Geraldine ungnädig. Mit ihrer ganzen Körperhaltung machte sie deutlich, dass dieser Besuch für ihren Geschmack schon jetzt viel zu lange dauerte.
„Geraldine Greystone?“, vergewisserte sich der mittlere Junge, der etwas größer, dafür aber in den Schultern deutlich schmaler gebaut war als seine beiden Kumpane.
„Ja, wer sonst?“, heulte Geraldine theatralisch auf und warf die Arme in die Höhe.
Der Junge nickte nur ernst, während seine beiden Begleiter die Stirn runzelten und sich einen skeptischen Blick zuwarfen. „Das hier ist für sie.“, sagte er und kramte einen Briefumschlag aus der Innentasche seiner Jacke hervor.
Geraldine nahm den Umschlag argwöhnisch entgegen und betrachtete ihn eingehend. Er war aus teurem Papier gefertigt. In feingliedriger Schrift war ihr Name darauf verzeichnet. Auf der Rückseite war der Umschlag mit einer Zeichnung versehen, die als Siegelersatz durchaus geeignet war, ein zwischenzeitliches Öffnen durch den Überbringer kenntlich zu machen. Über dem Verschluss prangte die Fratze eines brüllenden Löwen. Geraldine spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Diese Zeichnung war fachmännisch angefertigt. Einfache Straßenjungen konnten sich die Dienste eines so fähigen Kunstmalers niemals leisten. Und der Umstand, dass sie das Siegelbild noch nie gesehen hatte, trug nicht gerade dazu bei, ihr Unbehagen zu verringern. Was hatte das zu bedeuten? Wer schickte diese Jungen mit einer Botschaft zu ihr? Sie würde es wohl nur erfahren, wenn sie den Brief öffnete.
Die jungen Männer ließen Geraldine nicht aus den Augen, während sie den silbernen Brieföffner vom Tisch nahm und mit leicht zitternden Händen den Umschlag aufriss. Erst, als die amtierende Gouverneurin entsetzt zu ihnen aufblickte, machten sie ohne ein weiteres Wort kehrt und verließen zügig, aber gelassen, das Büro.
„Frau Gouverneurin! So sagen Sie doch etwas!“ Die flehentliche Stimme ihrer persönlichen Kammerdienerin drang wie aus weiter Ferne an das Ohr der amtsführenden Gouverneurin. Mühsam versuchte sie, die Schmerzen in der Brust und in den Armen zu verdrängen und die Augen zu öffnen.
„Sie kommt zu sich.“, ertönte die selbe Stimme, diesmal aufgeregter.
„Nicht so hysterisch, Miss Linesome.“, rief Watson, Geraldine Greystones ergebenster Berater, die junge Dame zur Ordnung. „Sie benötigt Ruhe und kein nervöses Gegacker.“
Geraldine gab sich einen Ruck und öffnete die Augen. „Frau Gouverneurin.“, rief Patricia Linesome aus und klatschte begeistert in die Hände. „Ihr lebt! Welch ein Segen! Ich hätte mir mein Lebtag nicht verzeihen können, wenn Euch etwas zugestoßen wäre.“
Watson verdreht die Augen zur Decke und seufzte hörbar. „Es bestand nie Todesgefahr, Sie albernes Ding.“, wies er die Kammerdienerin zurecht, doch Geraldine Greystone erkannte auch in seinem besorgten Gesicht einen deutlichen Ausdruck der Erleichterung.
„Was ist geschehen?“, fragte sie, zum einen, um dem aufkeimenden Streit ein Ende zu bereiten, zum anderen aber tatsächlich aus purer Neugierde darüber, wie sie auf dem gut gepolsterten Divan in ihren privaten Gemächern gelandet war.
„Diese drei schrecklichen Burschen sind aus Eurem Büro gestürmt und davongelaufen.“, setzte Patricia Linesome zu einer Erklärung an. „Mir kam das ja gleich eigenartig vor.“, fuhr sie mit einem vorwurfsvollen Blick in Richtung Watson fort. „Also bin ich in Euer Büro geeilt, um zu schauen, ob Ihr Euch wohl befindet. Da entdeckte ich Euch auf dem Boden liegen.“
„Ihr hattet Glück, hat der Arzt gesagt. Euer Kopf wäre beinahe auf die Tischkante aufgeschlagen.“, mischte sich nun Watson ein.
„Der Arzt?“, fragte Geraldine Greystone verblüfft. „Ich kann mich an nichts erinnern.“
„Ihr wart ohnmächtig. Deshalb haben wir Euch hierher getragen und weich gebettet.“, setzte Watson die Gouverneurin in Kenntnis.
„Wie spät ist es?“, fragte Geraldine Greystone und wurde erst jetzt der angezündeten Kerzen und zugezogenen Vorhänge gewahr.
„Bereits Abend.“, antwortete Watson unbestimmt. „Könnt Ihr Euch erinnern, was geschehen ist?“
Geraldine überlegte einen Augenblick. Dann schüttelte sie den Kopf. „Nein. Ich weiß noch, dass ich diesen unsäglichen Brief gelesen habe und diese Straßenflegel mein Büro grußlos verließen. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist mein Aufwachen in diesem Raum.“, sagte sie mit Verwunderung in der Stimme.
„Ah, der Brief.“, griff Watson das Thema, das ihm unter den Nägeln brannte, begierig auf.
„Ihr habt ihn gelesen?“, fragte die Gouverneurin ohne jede Spur von Anklage oder Bestürzung in ihrer Stimme. Watson hatte bereits ihrem Gemahl in seiner Funktion als Gouverneur stets treue Dienste geleistet und hatte sich nach dessen Tod als absolut vertrauenswürdiger Helfer und Ratgeber erwiesen. Früher oder später hätte sie ihn ohnehin vom Inhalt des Schreibens in Kenntnis setzten müssen, insofern war es vermutlich sogar einfacher, dass er diesen bereits kannte.
Er nickte ohne jegliche Spur von Reue zu zeigen.
„Und, was sagt Ihr dazu?“, forderte sie ihn auf, seine Meinung zu äußern.
Watson räusperte sich verlegen. „Eine bodenlose Unverfrorenheit!“, ließ er sich zu einem für seine Verhältnisse erstaunlichen Gefühlsausbruch hinreisen. „Es ist wirklich eine vertrackte und äußerst gefährliche Situation, fürchte ich.“
„Da muss ich Euch leider zustimmen.“, seufzte Geraldine Greystone und ließ sich zurück in die Kissen sinken.
„Kann mich vielleicht mal jemand aufklären?“, rief die Kammerdienerin gereizt und blickte Watson herausfordernd an.
Der schaute unsicher zu der erschöpft aussehenden Gouverneurin, doch als diese durch ein leichtes Nicken ihre Zustimmung gab, fasste er für Miss Linesome den Inhalt des Briefes zusammen.
„Eine Geheimorganisation mit Namen ,Weiße Löwen' behauptet, Amelia Greystone, die Tochter unserer verehrten amtierenden Gouverneurin, in ihrer Gewalt zu haben. Es wurde kein Ort genannt, an dem sich Amelia befinden soll, dafür stellten diese Gauner Forderungen, die wir unmöglich erfüllen können.“
Patricia Linesome schlug sich vor Schreck die Hand vor den Mund. Wenn das überhaupt noch möglich war, so war ihr bleicher Teint noch eine Spur blasser geworden. „Forderungen?“, hauchte sie.
„Ganz recht.“, brummte Watson und zerrte an seinem Kragen, so als hätte er Schwierigkeiten, Luft zu bekommen. „Sie wollen Kirchen errichten, Zugang zu den Ratsprotokollen und dem Finanzarchiv der City, die direkte Kontrolle über Collin Rands Firmenimperium und kostenloses Essen für alle Mitglieder ihrer Organisation. Außerdem fordern sie, dass ab übermorgen eines ihrer Mitglieder Sprecher der Gouverneurin wird und der Kontakt zwischen Rat und Bevölkerung nur über diesen Sprecher laufen soll.“
„Aber, das ist ja Erpressung.“, empörte sich die Kammerdienerin.
„Ganz recht, Miss Linesome. Willkommen im Reich der Politik!“, kommentierte Watson sarkastisch.
„Was machen wir denn jetzt?“, fragte Patricia mit großen Augen.
Watson hob resigniert die Hände. „Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht.“ Er blickte zu Geraldine Greystone. „Amelias Wohlergehen sollte oberste Priorität haben, aber wir können unmöglich auf diese Forderungen eingehen.“ Er klopfte mit angewiderter Miene auf den Brief, den er von einem kleinen Tisch gefischt hatte.
„Das ist wahr, lieber Watson. Wenn ich ihnen aber nicht entgegenkomme, werden wir Amelia womöglich in größte Gefahr bringen.“, erwiderte Geraldine Greystone. Watson war beeindruckt, mit welcher Gefasstheit sie den ersten Schock überwunden zu haben schien.
„Ja, das sehe ich auch so.“, antwortete er zerknirscht. „Wir müssen verhandeln.“
Geraldine lachte zynisch auf. „Wie wollen sie mit jemandem verhandeln, den sie nicht kennen und von dem sie nicht wissen, wo sie ihn ausfindig machen können?“, fragte sie bitter. „In dem Brief wird nicht erwähnt, wie wir Kontakt aufnehmen könnten.“
„Das nicht.“, erwiderte Watson versonnen. „Aber die jungen Herren sind sich ihrer Sache vielleicht zu sicher. In letzter Zeit laufen immer mehr junge Männer mit dieser Uniform herum. Vielleicht sollten wir ein paar von ihnen unauffällig beschatten, dann finden wir möglicherweise auch ihre Hintermänner.“
„Das muss dann aber schnell gehen. Übermorgen ist schon in zwei Tagen.“, mischte sich Patricia Linesome in das Gespräch ein.
„Sehr schlau beobachtet.“, kommentierte Watson ihren Einwand mit einem überlegenen Lächeln. „Einen Versuch ist es wert.“, wandte er sich wieder an die Gouverneurin. „Ich werde sofort den Polizeipräsidenten verständigen. Darüber hinaus schlage ich vor, dass wir auch die Sicherheitsdienste der Terapolis einschalten. Dieser Fall droht uns sonst über den Kopf zu wachsen.“
Geraldine Greystone wedelte zustimmend mit der Hand. Watson nickte und schickte sich an, die notwendigen Instruktionen und Berichte zu verfassen. „Und Ihr, Miss Linesome, sorgt dafür, dass unsere Gouverneurin heute Abend das Bett nicht verlässt!“, sagte er in diesem besonderen Ton, der nicht direkt als Befehl daherkam, aber deutlich keinen Widerspruch duldete. „Das ist eine ärztliche Anordnung.“, erklärte er an Geraldine Greystone gewandt. „Der werdet auch Ihr Euch nicht widersetzen!“ Mit einem schmalspurigen Lächeln und einem Kopfnicken verließ er den Raum und überließ die beiden Damen sich selbst.