Читать книгу Clockwork - Tom Dekker - Страница 9
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„Kann man euch keinen Tag allein raus lassen, ohne dass ihr in eine Schlägerei verwickelt werdet?“, schimpfte Frog, während er das Tor viel früher als gewöhnlich verrammelte. Suri, Peanut und Greg standen mit gesenkten Köpfen neben ihm und warteten geduldig auf das Ende der Strafpredigt. Frog schüttelte missbilligend den Kopf. „Wir können doch nicht ständig auf euch aufpassen. Und immer bist du mit ganz vorn dabei, Greg!“
„Aber er konnte doch gar nichts dafür.“, versuchte Peanut, dem Jungen beizustehen.
„Natürlich nicht.“, knurrte Frog und trat näher. Er packte Gregs Kopf und bog ihn so nach oben, dass er sich die blutende Nase seines Freundes genau anschauen konnte. Nicht besonders vorsichtig drückte er mit den Daumen an der Nasenwurzel herum. „Tut das weh?“
„Verdammt, ja.“, jaulte Greg auf und zuckte zurück.
Frog gab sein Gesicht nicht frei. „Gut. Das solltest du dir merken. Irgendwann brechen sie dir schon nochmal die Nase und dann siehst du aus wie der Metzger Eulenstein.“, brummte er ihn an.
Suri konnte ein Kichern nicht unterdrücken. „Das ist wirklich gemein, Frog. Um wie Eulenstein auszusehen, müssten sie ihm auch noch einige Zähne ausschlagen und das Ohrläppchen aufschlitzen. Ganz zu schweigen von den Narben im Gesicht.“
„Wird er alles noch bekommen, wenn er so weitermacht.“, erwiderte der Trompeter mit ernster Miene. „Was war diesmal los?“, fragte er mit leicht genervtem Unterton.
„Also, wir waren auf dem Platz vor dem Rathaus.“, begann Peanut zu berichten.
„Genau, da waren viele Leute.“, ergänzte Suri.
„Was habt ihr dort gesucht?“, fragte Josh, der unbemerkt herangekommen war, verdutzt.
„Hast du es denn nicht gehört?“, wunderte sich Suri. „Patty Song wollte eine Rede halten. Wir dachten, es wäre vielleicht eine gute Idee zu wissen, was er vor hat.“
„Und?“, fragte Josh knapp.
„Keine Ahnung.“, musste Greg zugeben. „Er ist gar nicht gekommen.“
„Wie, nicht gekommen?“, fragte Frog verwirrt.
„Naja, so wie man eben nicht kommen kann, wenn man nicht kommt.“, entgegnete Greg.
„Zumindest war er noch nicht da, als wir fort sind.“, ergänzte Peanut.
„Aber es war eine eigenartige Stimmung dort, findet ihr nicht?“, fragte Suri.
Greg kratzte sich am Kopf. „Ja, das stimmt. Überall steckten die Leute die Köpfe zusammen und jammerten herum.“
„Schlimmer waren aber die vielen Anfeindungen.“, meinte Suri. „Die vielen Jugendbanden sind ihnen ein Dorn im Auge.“ Sie verdrehte die Augen.
„Kann ich verstehen.“, meinte Josh nüchtern. „Wenn man jeden Abend Angst haben muss, überfallen zu werden, ist das kein besonderes Vergnügen.“
„Was wollen Sie denn dagegen tun?“, fragte Frog interessiert.
„Sie rufen nach mehr Polizei, härteren Strafen, Waisenhäusern und Arbeitsdienst irgendwo auf dem platten Land. Das Übliche eben.“, sagte Peanut mit einer wegwerfenden Handbewegung.
„Einige haben auch uns schräge Blicke zugeworfen.“, meinte Suri. „Ich glaube nicht, dass sie sich die Mühe machen, zwischen kriminellen Banden und den Gemeinschaften zu unterscheiden.“
„Klar, wie sollten sie auch den Unterschied erkennen. Wir müssen vorsichtig sein.“, beschied Josh.
„Es ging aber nicht nur gegen die Jugendlichen.“, setzte Greg den Bericht fort. „Sie schimpfen auch zunehmend gegen die Kolonien und die Walddörfer.“
„Oh ja.“, fiel ihm Peanut ins Wort. „Landidioten und faules Streunerpack haben sie gerufen.“
„Und habt ihr gehört, was sie über die Frauen aus den Walddörfern gesagt haben?“, fragte Suri aufgebracht. „Sie seien alle Hexen, die ehrenhafte Männer verführen und ihnen ihre Kräfte aussaugen würden.“
„Davon träumen sie doch bloß.“, rief Frog frivol aus.
Suri warf ihm einen bösen Blick zu. „Nein, sie bauen sich da ein neues Feindbild auf. Einige meinten, man müsse die Walddörfer unter die Knute der Cities bringen und sie zwingen, für uns in den Krieg zu ziehen.“
„Welchen Krieg denn?“, fragte Josh erstaunt.
Greg zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Viele haben über irgendeinen Krieg gefaselt, aber Soldaten haben wir keine gesehen.“
„Auf jeden Fall wurden die Beschimpfungen gegen die Kolonien und die Walddörfer immer schlimmer, je länger wir auf Patty Song gewartet haben.“, fasste Suri die Situation zusammen.
„Es gab sogar Sprechchöre gegen den Dogen.“, fügte Peanut hinzu.
„Gegen den Dogen?“, fragte Frog verwundert.
„Ja.“, bestätigte Greg. „Es war eigenartig. Irgendwie haben sich die einzelnen Gerüchte und Vorwürfe überlagert und gegenseitig aufgepeitscht. Jemand hat ein Wort fallen lassen und es wurde weitergetragen, angereichert und verstärkt, bis alle total wütend waren. Wie, wenn man einen Stein ins Wasser wirft und die Wellenkreise immer größer werden.“, berichtete er mit einer Mischung aus Faszination und Angst.
„Sie haben sich gut vorbereitet.“, murmelte Josh und nickte versonnen.
„Wer?“, fragte Suri irritiert.
„Patty Song und seine Helfer.“, erklärte Josh. „Es ist doch eine perfekte Ausgangssituation für eine Wahlkampfrede, wenn alle schon vorher die Dinge zu glauben meinen, die der Redner dann ausführen wird. Ich bin mir sicher, dass Songs Leute die Gerüchte gestreut und verstärkt haben, um die Leute so richtig in Stimmung zu bringen.“
Peanut nickte. „Das kann gut sein. Aber wie gesagt, Patty Song ist gar nicht gekommen.“
„Vielleicht habt ihr nur nicht lange genug gewartet.“, meinte Frog.
„Wir mussten los.“, sagte Peanut verstimmt.
„Wieso? Wohin musstet Ihr denn?“, fragte Frog.
„Weg.“, knurrte Suri und schüttelte sich.
„Was war denn los?“, fragte Josh, der langsam ungehalten wurde. „Jetzt sagt schon!“
Ein lautes Hämmern am Tor ließ alle fünf erschrocken herumfahren. „Wer kann das denn sein?“, fragte Peanut mehr verwundert als ängstlich.
Frog kräuselte die Lippen. „Vielleicht Natty?“, sagte er hoffnungsvoll. „Sie war schon lange nicht mehr hier.“ Begleitet von Josh stapfte er zum Tor hinüber.
„Es würde mich wirklich wundern, wenn es Natty wäre.“, flüsterte Suri den anderen beiden zu. „Wisst ihr noch? Ihr Vater wollte ihr nicht mehr erlauben, durch die Stadt zu fahren. Und man kann nicht gerade behaupten, dass es auf den Straßen sicherer geworden ist, seit sie uns das erzählt hat.“
Greg rieb sich nachdenklich das schmerzende Gesicht. „Das stimmt. Aber wer könnte es dann sein?“
Auch Josh schien sich nicht sicher zu sein, dass es sich um einen freundlichen Besuch handeln würde. Mit einer hoch erhobenen Holzplanke stand er bereit, einen etwaigen Angreifer zu überwältigen, aber das würde wenig nützen, wenn eine ganze Straßenbande versuchte, sie zu überfallen. Noch ehe Greg Frog eine Warnung zurufen konnte, hatte der bereits den schweren Balken vom Tor gehoben. Die Pforte öffnete sich einen Spaltbreit und ein schmächtiger Junge in Kordhosen und übergroßem Wollmantel, der auf dem Kopf einen Statson-Hut trug, schob sich herein. Verwundert starrte er Josh an, der seine improvisierte Waffe langsam sinken ließ.
„Schöner Empfang.“, knurrte Philt. Er schaute sich irritiert im Hof um. „Was ist denn bei euch los?“
„Greg hat eins auf die Nase bekommen.“, kommentierte Frog die Vorsichtsmaßnahme und verriegelte das Tor wieder.
„Ach, schon wieder?“ Philt konnte sich eine Bemerkung nicht verkneifen. „Pass auf, dass das nicht zur Gewohnheit wird!“, rief er Greg zu.
Der antwortete lediglich mit einer obszönen Geste und ließ sich wieder auf den Boden sinken. Die Nase fühlte sich mindestens doppelt so dick an wie normal und das Pulsieren zwischen den Augen breitete sich unangenehm durch den ganzen Schädel aus.
Suri setzte sich vorsichtig neben ihn und legte seinen Kopf in ihren Schoß. „Geht es, du Held?“, fragte sie halb scherzhaft.
„Held?“, hakte Philt, der herangekommen war, nach.
„Ja, Greg ist ein Held.“, antwortete Peanut im Brustton der Überzeugung.
„Kann jetzt endlich mal jemand erzählen, was passiert ist?“, drängte Josh die beiden Mädchen zu einer Erklärung.
„Wir waren mitten in der Menschenmenge, als wir merkten, dass sich eine Gruppe junger Männer um uns drängte.“, begann Peanut.
„Sie umkreisten uns wie Wölfe.“, fuhr Suri fort. „Zunächst konnten wir es nicht merken, aber langsam zogen sie ihren Kreis immer enger und dann waren wir umringt.“
„Sie grinsten uns anzüglich an und machten dumme Sprüche.“, kommentierte Peanut die Szene.„Plötzlich bildete sich ein leerer Raum. Niemand sagte etwas und ich glaube, die Leute haben noch nicht einmal zu uns herüber geschaut, aber alle sind instinktiv von uns abgerückt.“
„Und dann wurde der Kreis immer enger und sie fingen an, uns zu beschimpfen.“, warf Suri zunehmend entrüstet ein. „Was zwei Huren wie wir denn auf dem Platz suchten. Wir sollten gefälligst zu Hause bleiben und uns um den Haushalt kümmern. Politik sei schließlich Männersache.“
„Und dann kam dieser schmierige kleine Kerl mit den schwarzen Zahnstumpen auf mich zu und grapschte mir an die Brust.“, berichtete Peanut und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Er sagte, Frauen seien sowieso nur für das eine gut und er könne es mir ordentlich besorgen.“, setzte sie schluchzend hinzu.
„Und da ist Greg ausgerastet.“, gab Suri dem Bericht eine überraschende Wende. „Sie wollten ihn aus dem Kreis rausdrängen, aber er ist wie von der Tarantel gestochen losgespurtet und hat dem kleinen Drecksack seine Schulter in die Brust gerammt. Mann, ist der über den Platz gesegelt. Er hat gleich noch einen seiner Kumpel mitgerissen und sie sind volle Breitseite im Staub gelandet.“ Mit einem begeisterten Glitzern in den Augen klatschte sie in die Hände, als sich die Szene noch einmal vor ihrem inneren Auge abspielte. „Alle waren sie schockstarr. Ich habe Peanuts Hand gepackt und wir sind durch die Lücke auf und davon. Hinter uns hat sich Greg aufgerappelt und wollte uns folgen, aber da kam Bewegung in die Jungen und sie sind wie ein Rudel Hyänen hinter uns her. Greg hat erzählt, er hätte einem ein Bein gestellt. Dadurch wurden sie nochmal aufgehalten und wir konnten in der Menschenmenge untertauchen. Dafür haben sie sich ihn vorgenommen, aber als wir weg waren, sind ihm plötzlich andere Männer zu Hilfe gekommen.“ Suri musste ihren Redefluss kurz unterbrechen, um Atem zu holen. „Jedenfalls sind wir nur durch Gregs Heldenmut heil da herausgekommen.“, schloss sie ihren Bericht mit einem bewundernden Blick auf Greg.
„Wart ihr denn die einzigen Frauen auf dem Platz?“, wunderte sich Josh.
Suri überlegte einen Augenblick. „Nein, es waren noch andere da. Die meisten waren aber älter und in Begleitung ihrer Ehemänner.“
„Ich glaube, einer von ihnen war früher in Hurleys Bande dabei.“ Peanut schluchzte immer noch.
„Meinst du, es könnte eine Rache gewesen sein?“, fragte Philt aufgebracht.
„Kann sein. Aber die meisten habe ich nicht erkannt.“, erwiderte Peanut unsicher.
Josh blickte finster zum Himmel empor. „Es wird immer schlimmer in dieser City. Egal, ob es eine Rachetat war oder nicht, so etwas kann jederzeit wieder passieren. Wir müssen euch beschützen.“ Sein Blick fiel auf Suri und Peanut. „Ihr solltet in nächster Zeit nicht mehr allein auf die Straße.“
„Sollen wir uns hier verkriechen wie in einem Gefängnis?“, fragte Suri empört.
Josh zuckte mit den Schultern. „Hast du eine bessere Idee?“
„Es wird ja auch nicht für immer sein.“, sagte Philt in einem beschwichtigenden, aber eindringlichen Tonfall, der an ihm völlig neu war. „Es wird nicht mehr lange dauern, dann ist diese ganze Scheindemokratie, die sie uns hier vorgaukeln, ohnehin Geschichte. Es wird ein großer Umsturz kommen. Dann werden die Paläste der Reichen brennen und wir können unser Glück selbst in die Hand nehmen.“, rief er mit einem begeisterten Flackern in den Augen.
„Was faselt er da?“, fragte Frog und schüttelte verwundert den Kopf.
„Wir müssen allerdings unser Leben ändern.“, fuhr Philt unbeirrt fort. Seine Freunde wechselte besorgte Blicke. „Gottes Wort muss die Richtschnur unserer Entscheidungen sein.“, rief er im Brustton der Überzeugung. „Seine Gebote müssen unser alleiniger Gradmesser sein! Schluss mit all dem Tand.“ Er deutete auf Suris ausgefallenes Kleid. „Kein Tanz und keine Musik mehr!“ Frog verschluckte sich fast an seinem Tee und musste kräftig husten. „Wenn alle hart arbeiten und sich ganz auf ihre Aufgabe zum Wohl der Gesellschaft konzentrieren, wird es keine unsicheren Straßen mehr geben und wir können in Frieden und Wohlstand leben, brüderlich, Seite an Seite, geführt vom Wort der Priester und Gottgeweihten.“
„Jetzt ist es aber genug!“, rief Josh aufgebracht. „Hast du den Verstand verloren?“ Er stapfte auf Philt zu und packte ihn am Kragen.
„Josh, lass ihn los!“, kreischte Peanut auf, doch ihr Freund achtete nicht auf sie.
Philt grinste Josh dümmlich an und wollte mit seiner flammenden Rede fortfahren, kam aber nicht dazu, denn der kräftige junge Mann schlug ihm mit der offenen Hand so kräftig ins Gesicht, dass man das Klatschen auch noch drei Häuserblocks weiter gehört haben musste. Philt jaulte auf, presste seine Fäuste gegen Joshs Brust und begann, wie wild mit seinen Füßen zu zappeln.
Josh setzte ihn vorsichtig auf dem Boden ab und trat schnell ein paar Schritte zurück, ohne Philt aus den Augen zu lassen. Der blickte sich verwirrt um und stotterte verwundert vor sich hin: „Warum tust du das, Josh? Was habe ich dir denn getan?“
„Getan hast du nichts.“, antwortete Frog an Joshs Stelle. „Aber allerhand wirres Zeug hast du dahergeschwatzt. Gottes Wort. Keine Musik mehr. Ich glaube, bei dir ist eine Schraube locker!“ Er machte eine entsprechende Geste mit der Hand, um sicher zu gehen, dass Philt verstand, was er meinte.
„Ich habe was gesagt?“, fragte Philt mit einem Anflug von Panik in der Stimme.
„Du hast irre dahergefaselt.“, antwortete ihm Josh. „Deshalb habe ich dir eine runtergehauen. Es kam mir so vor, als wärst du gar nicht im Hier und Jetzt.“, erklärte er seinem Freund die Ohrfeige.
„Wer hat dir denn diesen Blödsinn erzählt?“, wunderte sich Suri und legte die Stirn in Falten.
Philt zuckte verlegen mit den Schultern. „Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Ich habe bestimmt mit niemandem geredet. Warum sollte ich mich mit solchem Blödsinn beschäftigen. Keine Musik mehr.“ Er schnaubte empört.
Greg kratzte sich verwundert am Kopf. „Das ist sehr eigenartig. Wie kommt man denn plötzlich auf solche kruden Ideen?“
„So ungewöhnlich ist das gar nicht.“, gab Frog zu bedenken. „Abends, in den Bars, hört man immer wieder Leute so daherreden. Die Menschen sehnen sich nach Sicherheit und Stabilität. Sie wünschen sich einen Retter, der sie ins Licht führt. Dafür würden viele auch ihr gesamtes Leben auf den Kopf stellen.“
„Und andere beeinflussen. Oder mit Gewalt vorgehen, um ihre Ziele zu erreichen.“, murmelte Josh sorgenvoll.
Suri ließ die Schultern hängen. Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nattys Vater hatte Recht, oder? Es ist absolut nicht mehr sicher hier.“
„Das stimmt.“, sagte Frog. „Aber wenn wir zusammenhalten, werden wir es schaffen. Keine Einzelaktionen mehr, für keinen von uns. Wir werden uns überall begleiten. Und es wird Zeit, dass wir alle so kämpfen lernen, wie Greg.“ Er grinste seinen Freund schief an. „Zwei Kämpfe in einer Woche und immer noch nichts gebrochen. Das ist eine reife Leistung.“
Greg rieb sich stöhnend die Stirn. „So, wie du es sagst, klingt es viel großartiger, als es sich anfühlt.“ Dann lächelte er zurück. „Wir werden es ihnen schon zeigen!“