Читать книгу Clockwork - Tom Dekker - Страница 16
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„Greg! Wie schön, dich zu sehen!“, rief eine Frauenstimme. Greg stellten sich die Nackenhaare auf. Diese Stimme würde er überall auf der Welt wiedererkennen. Er musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass es eine junge schwarzhaarige Frau mit stahlblauen Augen war. Dennoch sprang er vor Schreck von dem bequemen Sessel auf, in dem man ihn hatte warten lassen und schoss zu ihr herum. „Nathalie?“ Er kam nicht umhin, das rote Miederkleid, das ihm bereits bei ihrer letzten Begegnung den Atem geraubt hatte, zu bewundern.
„Leibhaftig.“, gab sie verschmitzt zurück und wedelte ungeduldig mit einer Hand. „Setz dich doch wieder! Du weißt, dass mir Förmlichkeiten nichts bedeuten.“
Gehorsam ließ sich Greg zurück in den Sessel fallen. Nathalie nahm ihm gegenüber Platz und klatschte zweimal. Kurz darauf kam einer der Jungen, die Greg hierher geführt hatten, herbeigelaufen und überreichte Nathalie ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. „Auch einen Whiskey?“, fragte Nathalie Greg in gönnerhaftem Ton.
So faszinierend die Vorstellung war, mit dieser Frau in diesem geschmackvoll eingerichteten Salon einen edlen Tropfen zu trinken, war diese Liebenswürdigkeit Greg doch zutiefst suspekt. Nicht nur, dass er Nathalie hunderte Meilen entfernt in der Terapolis wähnte, auch die Umstände, unter denen er hierher gebracht worden war, waren alles andere als dazu angetan, ihn in die Stimmung für ein Plauderstündchen zu versetzen. Er überging Nathalies Ansinnen und sprach direkt die Frage aus, die ihn seit der Begegnung mit den Jungen in den Uniformen der Weißen Löwen umtrieb: „Wieso hast du mich herbringen lassen?“
Nathalie schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Warum so zugeknöpft, Greg?“, fragte sie verschnupft. „Ich kenne nicht viele Leute in dieser City und wollte gern ein vertrautes Gesicht sehen.“
„Und darum lauern mir deine Spießgesellen in einer Gasse auf und umringen mich wie ein Wolfsrudel, damit das Opfer schon vor dem tödlichen Angriff weiß, dass eine Flucht aussichtslos ist.“, entgegnete Greg mit sarkastischem Tonfall.
Nathalie warf einen leicht pikierten Blick auf die Tür, hinter der vermutlich mehrere Jungen bereitstanden, ihrer Anführerin zu Hilfe zu eilen, sollte sie dieser bedürfen. „Sie müssen noch viel lernen.“, seufzte Nathalie theatralisch. „Es ist nicht leicht, in so kurzer Zeit so schnell zu expandieren. Du glaubst gar nicht, wie schwer es heutzutage ist, gutes Personal aufzutreiben.“
„Ich kann es mir bildlich vorstellen.“, erwiderte Greg ungerührt. „Mein Mitgefühl hält sich in Grenzen.“
„Wie kommt es eigentlich, dass du dich so gut mit Wölfen auskennst?“, wechselte Nathalie unvermittelt das Thema. „Ich meine, ein Stadtjunge wie du...“
„Gator hat mir von ihnen erzählt. Sie haben ihn sehr fasziniert, die Wölfe.“, setzte Greg sie ins Bild.
„Gator?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn, winkte dann aber ab, bevor Greg zu einer Antwort ansetzen konnte. „Lassen wir es bei diesem Austausch der Höflichkeiten bewenden.“, sagte sie gestelzt.
Aha, endlich kommen wir zum Kern der Sache, dachte sich Greg, schwieg aber wohlweislich und betrachtete lieber eingehend den Kronleuchter, der von der mit Stuck verzierten Decke über ihren Köpfen herabhing.
„Ich brauche deine Hilfe.“, kam Nathalie unumwunden auf ihr Anliegen zu sprechen.
Greg sah sie fragend an.
„Du hast es selbst gesehen. Viele der neuen Mitglieder der Weißen Löwen sind nicht die hellsten Köpfe, und ich kann doch nicht all meine fähigen Jungen in die unterschiedlichsten Cities aussenden, nur um den Neulingen das Einmaleins unseres Geschäfts zu erklären.“ Greg fragte sich bei diesen Worten mit einem Schaudern, wie weit ihr Netzwerk inzwischen ausgedehnt sein musste. „Ich hätte ja bald niemanden mehr, der in der Terapolis, dem Zentrum unserer Bewegung, für Ordnung sorgen würde. Dabei brauche ich meine Jungs dort mehr denn je.“
Sie machte eine Kunstpause, wohl um Greg die Gelegenheit zu geben, ihr eine Frage zu stellen, aber er hielt wohlweislich den Mund und ließ Nathalie nicht aus den Augen. Soweit er aus ihren Ausführungen schließen konnte, hatte sich die Organisation der Weißen Löwen auch auf andere Cities ausgedehnt, dabei hatte es aber Schwierigkeiten gegeben. Er wusste nicht, was sich Nathalie von dieser Ausdehnung versprach, war sich aber nicht sicher, ob er den Versuch gut finden sollte.
„Hier bei euch,“, fuhr die junge Frau fort. „Ist es besonders schwierig. Ihr habt eine sehr raue Straßenkultur, das muss ich schon sagen.“ Sollte dieser Satz ein Kompliment sein, verfehlte er bei Greg seine Wirkung. „Wir haben einige ganz üble Schlägertrupps aufgenommen, ohne zu wissen, was wir uns da einhandeln. Das hilft dem Ansehen unserer Sache natürlich nicht gerade. Dabei ist es doch genau das, was wir wollen. Wir wollen den Menschen helfen, ein besseres Leben zu erringen. Nicht nur Waisenkinder haben es verdient, dass sie mehr vom Kuchen abbekommen. Alle sollten an dem wirtschaftlichen Erfolg der Fabriken, in denen sie arbeiten, teilhaben.“
Sie ließ die Worte in Gregs Bewusstsein sinken und beobachtete ihn dabei über den Rand des Whiskeyglases hinweg.
Greg musste zugeben, dass auch er sich schon des Öfteren gewünscht hatte, bei seiner Arbeit mehr zu verdienen. Und dass er vor Neid auf die reichen Industriellen in ihren prunkvollen Villen zerfressen wurde. Auf Nathalies Gesicht erschien ein leichtes Lächeln. Hatte sie seine Gedanken erraten.
„Wir brauchen deine Hilfe, Greg.“, hakte sie offen und unverblümt nach.
Greg blickte sie unverwandt an und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und was ist, wenn ich darauf keine Lust habe?“, fragte er aufmüpfig.
Nathalie starrte ihn einen Augenblick ungerührt an, dann stahl sich ein verschmitztes Lächeln auf ihre Lippen. „Das spielt überhaupt keine Rolle, Greg. Du hast mir dein Wort gegeben, dass du es tun wirst, und du wirst dein Wort nicht brechen.“ Ihr Gesicht war immer noch die Freundlichkeit selbst, aber der Tonfall ihrer Stimme machte klar, dass sie keinen Widerspruch duldete.
Greg wollte bereits zu einem Protest ansetzen, als ihm die Szene in dem kleinen Häuschen in der Terapolis in Erinnerung kam. Nathalie hatte Mav und ihm die Hilfe der Weißen Löwen angeboten. Im Gegenzug mussten sie ihr versprechen, später den Gefallen zurückzuzahlen. Greg erkannte, dass er in der Falle saß. Er knirschte mit den Zähnen, während es nun an Nathalie war, das Schauspiel zu genießen und zu warten, bis er seine Niederlage eingestand.
Endlich gab sich Greg einen Ruck. „Wobei brauchst du meine Hilfe?“, fragte er kurz angebunden.
„Nicht ich, Greg.“, korrigierte sie ihn. „Wir alle. Die ganze Organisation. Und die Menschen in dieser City. Alle, denen es nicht so gut geht wie den feinen Pinkeln in ihren prunkvollen Villen.“, hauchte sie.
Greg atmete einmal tief ein und aus. Sie hatte recht mit dem, was sie sagte. Warum fiel es ihm nur so schwer, daran zu glauben, dass sie es wirklich gut meinte? „Also schön. Was soll ich tun?“
Nathalie strahlte über das ganze Gesicht. „Hab keine Angst, Greg! Es wird sich lohnen. Für dich, für deine Gemeinschaft, für deine Freunde, für uns alle.“, rief sie beinahe überschwänglich. „Es ist nichts Unehrenhaftes, was ich von dir will. Du musst keine Gesetze brechen und niemanden hintergehen.“, versuchte sie, etwaige Zweifel bei Greg zu zerstreuen. „Es geht nur darum, dass die Mächtigen in dieser Stadt zu lange unter sich waren und keine Einflüsse von außen gespürt haben. Sie haben schon längst die Bodenhaftung verloren und wissen doch gar nicht, wie es den einfachen Menschen in der City geht.“, erklärte sie.
Dieser Analyse konnte Greg ohne Bedenken zustimmen. „Und was habe ich damit zu tun?“, fragte er irritiert.
„Du bist ein Held in dieser City, Greg.“, säuselte Nathalie und Greg bildete sich ein, einen Hauch von Bewunderung in ihren Augen zu erkennen. „Die Menschen schauen zu dir auf.“ Greg räusperte sich verlegen, doch Nathalie hob die Hand. „Du magst es nicht mitbekommen, doch es ist die Wahrheit. Ich habe weit mehr Quellen in dieser Stadt, als du vielleicht glauben magst.“
Greg glaubte das sofort, verkniff sich aber einen bissigen Kommentar.
„Ich möchte, dass du dein Ansehen nutzt, um eine Anstellung im Rathaus zu erhalten, ganz in der Nähe von Geraldine Greystone.“, eröffnete Nathalie ihm.
Diese Idee war so absurd, dass Greg plötzlich losprusten musste. Er brach förmlich in einen Lachkrampf aus und benötigte einige Zeit, sich wieder zu beruhigen. Es war ihm furchtbar peinlich, aber die Vorstellung, dass ein Straßenjunge, der nur mit Mühe Lesen und Schreiben konnte, in den Amtsstuben des Rathauses eine Anstellung fand, war einfach zu komisch. Als er sich wieder beruhigt hatte, fragte er: „Als was soll ich dort arbeiten? Als Putzfrau?“
Nathalie blieb von dem Heiterkeitsausbruch ihres Gegenübers unbeeindruckt: „Das lass unsere Sorge sein. Du wirst eingestellt werden und wir möchten, dass du unser Auge und unsere Ohren in diesem Gebäude bist. Ich will über alle Vorhaben der regierenden Gouverneurin und ihrer Berater informiert werden.“, stellte Nathalie den Auftrag, den sie Greg zugedacht hatte, klar.
Greg nickte zum Zeichen, dass er Nathalie verstanden hatte. „Und ich will, dass du hin und wieder deinen Einfluss geltend machst und der Gouverneurin Ideen unterbreitest.“, fuhr sie fort und fixierte Greg mit ihren blauen Augen.
Bei dem Gedanken daran, was von ihm gefordert wurde, trat Greg kalter Schweiß auf die Stirn. Er spürte, wie die kleinen Perlen sich über seinen Augen sammelten. Wie sollte er diese Aufgabe bestehen? Das war mehr, als er leisten konnte. Aber er saß in der Falle. Die Weißen Löwen hatten sich damals für Mav und ihn in Gefahr gebracht und sie ohne weitere Bedingungen unterstützt. Nun war es an der Zeit, den Gefallen zurückzuzahlen, auch wenn die Art der Bezahlung gar nicht nach seinem Geschmack war. Er ließ sich Zeit mit seiner Antwort, mahlte mit seinem Kiefer und blickte zum Fenster hinaus. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Gut, ich mache es.“, sagte er mit fester Stimme. „Aber ich werde keine Gesetze brechen.“, stellte er kategorisch fort.
„Das erwarten wir nicht von dir.“, antwortete Nathalie mit einem gönnerhaften Kopfnicken. Auf ihrem Gesicht zeichnete sich Erleichterung ab, als sie das Glas bis zur Neige hob und es bis zum letzten Tropfen in einem Zug leerte.
Mit einem dumpfen Drücken in der Magengegend trat Greg auf die Straße hinaus. Er schaute sich noch einmal um. Erst jetzt hatte er Zeit, das riesige Gebäude mit der verzierten Fassade genauer zu betrachten. Nicht nur in dem Zimmer, in das Nathalie ihn hatte bringen lassen, schien es Kronleuchter zu geben. Gediegene Möbel zeugten vom Reichtum der Besitzer des Hauses. Wie kamen Nathalie und die Weißen Löwen, die in der Terapolis trotz all ihrer Macht doch nur ein von Waisen bewohntes Stadtviertel mit kleinen Häusern kontrolliert hatten, an eine solch vornehme Adresse in der City?
Hätte Greg nicht so lange über diese Frage gegrübelt und statt des Hauses mehr auf die Straße geachtet, wäre ihm vielleicht der Polizist aufgefallen, der, kurz nachdem der Junge das Haus verlassen hatte, um die Straßenecke Richtung Rathaus bog. So aber machte er sich, ohne den Ordnungshüter bemerkt zu haben, tief in Gedanken versunken auf den Rückweg zu seiner Gemeinschaft. Was Josh und die anderen wohl sagen würden, wenn er ihnen das sonderbare Ansinnen der Weißen Löwen erläuterte?