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XX

Der Dampf der Lokomotiven, die den Bahnhof beinahe pausenlos ansteuerten oder verließen, hüllte die Wartenden in einen wabernden Nebel, der einem die Luft zum Atmen genauso wie die freie Sicht auf all die hektische Betriebsamkeit nahm, die den Bahnhof einer großen City an einem Werktagvormittag auszeichnete. Der Rauch hatte durchaus auch seine guten Seiten, fand Greg. In dem undurchsichtigen Gewaber würde es möglichen Spitzeln der Weißen Löwen schwer fallen, seine plötzliche Abreise zu bemerken.

Wieder einmal war es dieser Ort, von dem aus Greg seine Heimatstadt nahezu fluchtartig verlassen musste, und doch war ihm der Unterschied zu seiner überstürzten Abreise vor einigen Monaten deutlich bewusst. Kaum zu glauben, dass er innerhalb eines Jahres bereits zum zweiten Mal von jetzt auf gleich verschwinden musste. Es kam ihm so vor, als seien Jahre vergangen, seit er sich im Dunkel der Nacht auf dem Achslager eines Güterzugs ins Ungewisse hinausgewagt hatte.

Diese Mal dagegen reiste er als ordentlicher Passagier in Begleitung seiner Freunde. Sie hatten entschieden, so unauffällig wie möglich zu verschwinden, und was könnte unauffälliger sein, als ein frisch verheiratetes Paar aus der aufsteigenden Mittelschicht, das sich mit einem koffertragenden Dienstboten und einer Zofe auf den Weg machte, die Welt zu erkunden, wie es so viele zu Geld gekommene junge Paare vor ihnen schon getan hatten? Suri und Philt waren noch am Abend auf eine Besorgungstour der besonderen Art gegangen und heute Morgen hatten sie Mav und Trisha so fein herausgeputzt, dass selbst Greg zweimal hatte hinschauen müssen, um die beiden zu erkennen. Mav sah in seinem Nadelstreifenanzug ungeheuer elegant aus und bei Trishas Anblick fuhr es Greg noch heißer durch Magen und Brust als ohnehin schon. Das dunkelgrüne Miederkleid, der breitkrempige weiße Hut, die Spitzenhandschuhe und die feinen roten Stiefeletten unterstrichen ihre hinreißende Erscheinung wundervoll und das weiße Sonnenschirmchen mit den grünen Bordüren rundete das Bild der aufgeregten, glücklichen, frischvermählten jungen Frau aus gutem Hause perfekt ab.

Er selbst trug eine schwarze Tuchhose, ein weißes Hemd und eine schwarze Weste, dazu Lackschuhe und eine Melone. Das bis oben geschlossene Hemd kratzte unangenehm am Hals und die Schuhe, die Philt besorgt hatte, waren doch eine Nummer zu klein geraten. Greg wünschte sich im Augenblick nichts sehnlicher, als schnellstmöglich in diesen verdammten Zug zu steigen, wo er endlich den schweren Koffer öffnen und seine bequeme Reisekleidung aus Leder anziehen konnte, die für das bevorstehende Abenteuer tausendmal besser geeignet war. Neben ihm kratzte sich Peanut, die mit einem grauen Kleid und einer weißen Haube so als biedere Zofe zurechtgemacht war, dass sogar dem ernsten Josh bei ihrem Anblick ein verschmitztes Lächeln über die Lippen gehuscht war, am Haaransatz. Ihr schien die Verkleidung mindestens ebenso unangenehm zu sein wie Greg, aber auch sie klagte mit keinem Wort über ihre undankbare Rolle bei diesem Schauspiel.

„Und du bist dir ganz sicher, dass du fortgehen willst?“, fragte Philt das Mädchen ein letztes Mal.

Peanut nickte entschieden, aber sie konnte nicht verhindern, dass Tränen ihre Augen füllten und sich in zwei kleinen Sturzbächen ihre Wangen hinunter ergossen. „Ich habe Angst, Philt. Es werden schreckliche Dinge geschehen, wenn die Weißen Löwen wirklich die Macht übernehmen. Ich bin nicht so flink wie du und nicht so stark wie Josh. Ihr könnt auf euch aufpassen, aber ich müsste tagein, tagaus in unserem Hof sitzen und könnte nur noch mit Begleitschutz auf die Straße. Du weißt selbst, was man sich darüber erzählt, wie sie mit Mädchen umgehen, die sie allein in der Stadt antreffen.“

Philt nickte bekümmert. „Ja, es ist schrecklich. Trotzdem glaube ich, dass wir besser zurechtkommen würden, wenn wir alle zusammenblieben. Ich mache mir große Sorgen um dich.“, gestand er ihr.

„Dann komm mit uns!“, drang sie erneut in ihn. „Ihr alle! Wir könnten uns anderswo ein neues Leben aufbauen.“

„Das haben wir doch schon besprochen.“, mischte sich Josh gutmütig, aber bestimmt ein. „Wir sind nicht dafür gemacht, woanders hinzugehen. Das hier ist unsere Heimat. Wir können sie diesen räudigen Hunden doch nicht kampflos überlassen. Aber wir verstehen auch, dass es für dich zu gefährlich ist.“

Die Pfeife der Lokomotive ertönte und die Schaffner riefen die Reisenden lautstark dazu auf, die Wagons aufzusuchen und sich auf die Abfahrt des Zuges vorzubereiten.

Peanut fiel Philt um den Hals und Suri, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatte, warf sich weinend Greg an die Brust. Der Junge war von dem plötzlichen Gefühlsausbruch völlig überrascht und klopfte dem Mädchen in dem roten Kleid verlegen auf den Rücken. Verzweifelt schaute er sich um, doch seine Freunde waren alle in ihre eigenen Abschiedsszenen verwickelt. Nur Trisha stand bereits in der Tür zum Wagon. Als sich ihre Augen trafen, bildete sich Greg ein, darin neben einer großen Portion Belustigung auch eine Spur Eifersucht lesen zu können. Prompt packte er Suri an den Schultern, schob sie auf Armeslänge von sich und blickte ihr in die verweinten Augen. „Es ist ja kein Abschied auf immer. Du wirst sehen, alles wird sich regeln und dann kommen wir in Windeseile zurück. Vielleicht treffen wir uns schon viel eher wieder, als du jetzt denkst.“, versuchte er sie aufzuheitern, aber Suri überkam eine neue Woge der Traurigkeit.

Der Schaffner rief erneut die Reisenden dazu auf, den Zug zu besteigen. Josh befreite Greg aus der peinlichen Zwickmühle, indem er einen Arm um Suri legte. Greg schnappte sich den schweren Koffer und hievte ihn über den Bahnsteig zum Zug, wo ihn ein junger Zugbegleiter packte und in das Abteil des vermeintlichen Hochzeitspaares bugsierte. Erneut tönte die Pfeife der Lokomotive, diesmal dreimal in kurzer Folge.

„Zeit zum Abfahren!“, rief Philt in gespielt fröhlichem Tonfall, aber auch ihm konnte Greg ansehen, wie schwer ihm dieser neuerliche Abschied fiel. Ob er für Penaut tiefere Gefühle hegte, als er bisher angenommen hatte?

„Passt auf euch auf! Und meldet euch bei uns!“, rief Josh in das Stampfen der Dampfmaschine hinein. Die drei auf dem Bahnsteig verbliebenen Mitglieder der Gemeinschaft hoben ihre Hände und winkten, während sich der Zug ganz allmählich in Bewegung setzte. Mav schob seinen Kopf aus dem Fenster und winkte mit dem Zylinder. Greg tat es ihm mit der Melone gleich, während Trisha und Peanut, gemäß ihrer Rolle als gut erzogene junge Damen, artig auf den Sitzbänken Platz nahmen und mit schüchternem Lächeln der Verabschiedung folgten.

Als der Zug bereits an Fahrt aufgenommen hatte und im Begriff war, den Bahnhof zu verlassen, riss Philt seine Mütze vom Kopf, schwenkte sie in der Linken und rief etwas hinter ihnen her, das aber im immer lauter werdenden Dröhnen der Lokomotive unterging. Sie waren auf dem Weg und es gab kein Zurück mehr. Sie hatten ihre Entscheidung getroffen und komme, was da wolle, sie alle mussten die Konsequenzen tragen.

„Greg! Haben Sie es doch noch geschafft, dich heil da herauszuholen?“ Noch bevor Greg den Boden des Bahnsteigs unter den Füßen spüren konnte, war Nici herangesaust und hüpfte, wie immer verwegen in Lederkleidung und ihr grünes Piratenkopftuch gekleidet, begeistert vor ihnen auf und ab. Mit gemächlicherem Schritt folgten ihr Mara und Stan. Maras grünes Wollkleid und der modische Sonnenhut mit dem Blumenschmuck, der auch schon bessere Tage gesehen hatte, standen im krassen Gegensatz zu ihrer meist mürrischen Laune und zauberte Greg ein unbekümmertes Lächeln auf das Gesicht. Neben Stan, der wie immer in seine eher für eine City als für die Kolonien geeignete Garderobe eines Gentleman aus der Mittelschicht gekleidet war, wirkte Mara irgendwie passend. Sie sahen aus wie ein altes Ehepaar auf einem Sonntagsausflug.

„Habe ich es euch nicht gesagt?“, empfing Nici die beiden Nachzügler. „Mav und Trisha bringen Greg gesund und munter in die Kolonie. Das waren meine Worte!“, warf sie sich stolz in die Brust.

„Noch ist er gesund und munter.“, brummte Mara düster und strich sich eine rotbraune Strähne aus der Stirn. Dabei bedachte sie Greg mit einem düsteren, beinahe mitleidigen Blick.

Greg schaute sich unsicher zu Mav um, doch der zuckte nur kommentarlos mit den Schultern. Was sollte man von Mara auch anderes erwarten als Endzeitvisionen und düstere Prophezeiungen.

„Gut, dich zu sehen!“, sagte Stan und reichte Greg die Hand. Der nahm sie und schüttelte sie fest, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er Stans Worten Glauben schenken sollte.

„Wie steht es hier?“, fragte Mav aufgeregt. „Haben wir etwas verpasst, während wir uns um Greg gekümmert haben?“

Stan winkte nonchalant ab. „Es ist nichts Aufregendes passiert. Hanson und Grub basteln immer noch an der verlassenen Scheune im Südwesten herum. Sie wollen dort eine Nachrichtenzentrale einrichten, um den Informationsfluss zwischen den Kolonien und Cities auszuwerten.“, wusste er zu berichten.

Greg hob fragend eine Augenbraue.

„Sie haben durch alle Wiesen und Wälder Kabel gelegt.“, berichtete Mara dem Jungen, der vor ein paar Monaten das letzte Mal in der Kolonie gewesen war. „Kurz nach eurem Aufbruch sind einige Ingenieure auch zu uns gekommen und haben eine Telegraphenstation eingerichtet. Seitdem ist Grub wie besessen von dieser neuen Technik.“ Beinahe belustigt schüttelte sie den Kopf.

„Und jetzt haben sie vor, alle Nachrichten, die über die Weißen Löwen gesendet werden, abzuhören, damit sie sich ein komplettes Bild machen können.“, merkte Nici mit einem gewichtigen Nicken an.

„Wie soll das denn funktionieren?“, fragte Greg skeptisch nach. „Sind das nicht eine ganze Menge Nachrichten?“

Stan nickte. „Genau das ist das Problem. Eine Person allein kann das unmöglich bewältigen. Seit ein paar Tagen nimmt die Anzahl der Nachrichten Ausmaße an, die ganze Heerscharen von Stenotypistinnen beschäftigen würden. Deshalb hat Grub eine Maschine entwickelt, die alle wichtigen Nachrichten aussieben und auf Papier drucken soll.“

„Leider klappt es noch nicht so, wie er sich das vorstellt.“, kommentierte Mara Grubs Versuche zynisch.

„Oder zum Glück.“, murmelte Greg.

„Wie meinst du das?“, fragte ihn Trisha beinahe empört. „Gönnst du Grub seinen Erfindungsreichtum plötzlich nicht mehr?“

„Nein, nein! Das ist es nicht.“, wehrte Greg entschieden ab. „Ich habe mir nur gerade vorgestellt, was geschehen würde, wenn die falschen Leute solch eine Maschine in die Hände bekämen.“

Alle starrten ihn verwundert an.

„Na, überlegt doch mal! Wenn Collin Rand die Möglichkeit gehabt hätte, jegliche Kommunikation abzufangen und auszuwerten, wäre er sicher erfolgreicher gewesen.“

„Und ich will mir lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn die Weißen Löwen eine solche Maschine zur Verfügung hätten.“, stimmte ihm Mav zu.

„Ach, jetzt seht ihr schon wieder überall Gespenster.“, wollte Stan die Unkenrufe seiner Freunde beiseite schieben, aber Mara fuhr ihm in die Parade.

„Es stimmt. Eine solche Situation wäre schrecklich. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass die Bösen und Reichen auf dieser Welt schon längst an einem solchen Konzept arbeiten.“ Missmutig nickte sie vor sich hin.

„Also, was ist nun mit den Weißen Löwen?“, versuchte Greg, das Gespräch auf ein anders Thema zu lenken.

„Sie breiten sich aus wie ein Wirbelsturm.“, antwortete Stan. Greg war sich nicht ganz sicher, aber es kam ihm so vor, als könne er einen Hauch Bewunderung in Stans Stimme ausmachen. „Von überall her empfangen wir Berichte, dass sie den alten Eliten die Herrschaft abspenstig machen und dem Volk die Macht zurückgeben wollen.“

„Die Umstürze werden zahlreicher.“, mischte sich Mara ein, bevor Stan noch in eine Lobeshymne auf die Weißen Löwen verfallen konnte.

„Selbst in der Terapolis soll Aufruhr herrschen.“, platzte es aus Nici heraus.

„Und das sollte uns Sorge machen!“, mahnte Mav.

„Wieso?“, konterte Stan unbedarft. „Endlich gibt es mal jemanden, der den alten Machthaien die Stirn bietet. Ständig faseln sie von Demokratie und Reichtum für alle, aber am Ende scheffeln sie doch alles in die eigene Tasche. Ich kann nicht erkennen, was so falsch daran sein soll, wenn jemand kommt und mit diesen Seilschaften aufräumt.“

„Das Problem ist nicht das Aufräumen.“, entgegnete Mav geduldig. Offenkundig hatten sie dieses Diskussion schon öfter geführt. „Das Problem ist, dass sie selbst eine neue Gesinnungsdiktatur errichten, die schlimmer ist, als das, was wir bisher haben. Sie wollen alles verbieten, was nicht ihren Vorstellungen entspricht. Ihre so genannte Freiheit ist nur ihre eigene Freiheit. Wer anders denkt wird verfolgt, ausgeschlossen und notfalls auch gewaltsam beseitigt. Glaub mir, sie bringen keinen Frieden, sondern nur neues Leid.“

„Fragt sich nur, ob das Leid größer ist, oder eben nur neu.“, räsonierte Mara. „Am Ende bringt jede Form von Herrschaft Leid, egal wie man es dreht und wendet.“

Alle starrten sie entgeistert an. Dieses Argument war offenbar neu und die Freunde hatten erst einmal daran zu knabbern, denn so leicht wollte keinem von ihnen ein Gegenbeispiel einfallen.

Mav war der erste, der die Stille brach. Energisch hieb er Greg auf die Schulter und schob ihn vor sich her zum Ausgang des kleinen Bahnhofs. „Komm, wir sollten erst einmal Hanson und Pater Elia aufsuchen und von unserer gesunden Heimkehr berichten.“ Der Rest seiner Worte ging in dem ohrenbetäubenden Pfeifen der Lokomotive unter, die sich stampfend und fauchend wieder in Bewegung gesetzt hatte, um die nächste Kolonie oder kleine City anzusteuern.

Clockwork

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